Paul Ryan: Kybernetische Guerilla-Kriegsführung

Radical Software Vol. 1, Nr. 3 (1971)

Blick in die Ausstellung »Radical Software«.

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Paul Ryan, "Cybernetic Guerilla Warfare", in: »Radical Software«, Vol. 1, Nr. 3, 1971,  S. 1–2.
Paul Ryan, "Cybernetic Guerilla Warfare", in: »Radical Software«, Vol. 1, Nr. 3, 1971, S. 1–2.
© Paul Ryan, Raindance

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In all deinen Schlachten zu kämpfen und zu siegen,
ist nicht die höchste Kunst. Die höchste Kunst besteht darin,
den Widerstand des Feindes ohne Kampf auf dem Schlachtfeld zu brechen.

– Sun Tzu, »Die Kunst des Krieges«

Teil I Guerillastrategie und kybernetische Theorie

Traditionelle Guerillaaktionen wie Bombenanschläge, Heckenschützenangriffe und Entführungen samt ihrer gedruckten Manifeste scheinen – wie so viele andere ökologisch riskante Rückkopplungsapparate –  im Vergleich zu den realen Möglichkeiten des tragbaren Videos, unorthodoxer Datenbanken, zur Metaprogrammierung auf Acid, zum Kabelfernsehen, zu Satelliten, zu den kybernetischen Handwerksindustrien und alternativen Lebensstilen nur kurzzeitige Veränderungen zu ermöglichen. Und trotzdem ist die Guerillatradition in der heutigen Informationsumwelt höchst relevant. Die Guerillatradition verläuft von Natur aus unregelmäßig und ohne Wiederholung. Wie die Informationstheorie erkennt auch sie, dass Redundanz leicht reaktionär werden und zu Entropie und Niederlage führen kann. Die Gegenüberstellung von Kybernetik und Guerillastrategie legt eine gemeinsame Art, sich zu bewegen nahe, die eine echte Alternative zur filmischen Inszenierung des urbanen Guerillakampfes in New York City in »Ice« [1970] darstellt. In der Informationsumwelt geht es nicht darum, Maschinengewehre zu benutzen, um Menschen zu einem revolutionären Teach-In in einem Wohnhaus zusammenzutreiben. Nicht alle Macht beginnt am Griff einer Waffe.

Wir erleiden die Gewalt der Entropie alter Formen – der Kernfamilie, Erziehungsinstitutionen, Supervermarktung, Städte, des Ölpest-Komplexes etc. etc. They are running us down, running down on us and with us. Wie können wir ihnen ausweichen? Und wie können wir neue Wege bauen? Das Staatsschiff oszilliert zwischen der Flucht vor seinem Volk und seinen planetaren Verantwortungen hin und her, während man weiterhin versucht, uns dazu zu verführen, an Bord dieses sinkenden Schiffes zu gehen – Bildungskredite, Stipendien, Herabsetzung des Wahlalters. Wo kam Nixon überhaupt her? Wie ist dieses Überbleibsel aus Elvis-Tagen zum Kapitän unseres Schiffes geworden, zum Herrn unseres Schicksals?

Wie viele Amerikaner, die einst entsetzt über den Atomkrieg waren, denken heute im ökologischen Sinne das Undenkbare und empfinden bei der Aussicht auf eine weiße Hölle für alle eine Art gehässige Freude und Erleichterung?

Von wegen psychedelisch: Kinder der Atombombe

– Bob Lenox

Niemand, der auch nur einen Funken Verstand hat, sucht geradewegs nach Streit. Wir haben erkannt, dass man in der Auseinandersetzung zu leicht zu dem wird, was man betrachtet. Und doch gibt es auf diesem Planeten keinen Weg, sich aus dem Weg zu gehen. Also müssen Strategien und Taktiken entwickelt werden, damit das Establishment in seiner Entropie nicht unser Flexibilitätsbudget aufbraucht. Die Bemühungen, die Jugend bis 1972 zum Eintritt in die traditionellen politischen Parteien zu bewegen, werden ein widerliches Ausmaß annehmen. Im Vergleich zum Establishment und seinen kulturellen Automaten müssen wir von der Kybernetik einer rein Wiener'schen und Augustinischen Prägung wegkommen und in den Bereich der Kriegs-Spieltheorie und -praxis in der Informationsumgebung vordringen.

Der menschliche Bio-Computer bleibt das eleganteste Werk irdischer Technologie; in unseren Gehirnzellen liegen die wichtigsten Datenbanken. Dem kybernetischen Guerillakampf wohnt die absolute Notwendigkeit inne, dass alle Menschen so umfassend als möglich an ihm teilnehmen. Dies kann in einer Informationsumwelt gelingen, indem man darauf besteht, dass Informationen zum Zwecke des menschlichen Fortschritts rückgekoppelt werden, statt dass die Menschen zum Zwecke der Machtkonzentration mittels Kapital, Pseudo-Mythologien oder unterdrückter Information aufgefressen werden. Eine Informationsökonomie, die in einem Guerillamodus anfängt, akzeptiert, kultiviert und braucht das lebendige denkende Fleisch für ihren Erfolg. Menschen sind keine Informationskulis, die den Vorstellungen der Privilegierten, der Großverdiener oder der Vergangenheit dienen. Menschen können Informationen aufgrund der Einzigartigkeit ihrer Wahrnehmungssysteme verarbeiten und sie tun dies auch. In einer noosphärischen Kultur, die durch große Vielfalt gedeiht, ist Einzigartigkeit ein hoher Wert. Wir verstehen Information hierbei als Unterschied, der einen Unterschied macht. Die Herausforderungen einer negentropischen oder informationellen Kultur bestehen im Wandel: Wie gelingt uns die Verwandlung der Unterschiede, ohne dass den Menschen durch Ausbeutung, Engpässe oder Korruption die Macht entzogen wird?

Ich rede hier nicht von der Kultivierung des Wahrnehmungssystems auf Kosten des emotionalen Rhythmus. Schneller heißt nicht immer auch besser. Etwas in all seinen Formen zu durchlaufen, bedeutet manchmal auch, dass man abbremsen muss. Die interne Synchronisierung aller Facetten ist entscheidend, um die Flexibilität des Systems zu erhalten und dessen nicht-kybernetische „Blockierung“ und ein „Abbremsen“ zu vermeiden.

Der Großteil der Arbeit zur Kybernetik, angefangen von Norbert Wieners Lenkraketen über die Arbeit bei IBM und an den Bell Labs bis hin zu den verschiedenen akademischen Ablegern, wurde vom Establishment mit einem großen Budget unterstützt und ist durch die Beziehung dieser Intellektuellen zu den Mächten, die eindeutig nicht-kybernetisch und unempfänglich für die Belange der Menschen sind, konditioniert worden. Das Konzept der Entropie selbst ist möglicherweise derart konditioniert. Betrachten wir einmal die Parallele zwischen Wieners theoretischen Aussagen über Enklaven und der Enklaventheorie zum Rückzug aus Vietnam. Eine der widerlichsten Folgen der aktuellen Lage ist die Beschäftigung der Telefongesellschaft und anderer mit der Entwicklung von „idiotensicheren Terminals“, weil man davon ausgeht, dass viele der möglichen Nutzer Idioten sind, die nur die allerdümmsten Antworten geben können. Also werden Idioten erschaffen.

Die Japaner, das Volk, über dem wir 1945 die Atombombe abwarfen, führte das tragbare Videosystem 1967 in unserem Land ein, und zwar zu einem Preis, der niedrig genug war, dass unabhängige und halbwegs unabhängige Nutzer eins dieser Geräte in die Finger bekommen konnten, um damit zu experimentieren. Dieses Experimentieren, diese Erfahrung, trägt in ihrem Innersten die Logik des kybernetischen Guerillakriegs.

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Paul Ryan, "Cybernetic Guerilla Warfare", in: »Radical Software«, Vol. 1, Nr. 3, 1971,  S. 1–2,  Illustration von Claude Ponsot
Paul Ryan, "Cybernetic Guerilla Warfare", in: »Radical Software«, Vol. 1, Nr. 3, 1971, S. 1–2, Illustration von Claude Ponsot
© Claude Ponsot, Raindance

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»Radical Software«, Vol. 1, Nr. 3, 1971

Redaktion: Beryl Korot, Michael Shamberg
Verleger: Michael Shamberg, Ira Schneider
Beratende Redakteure: Megan Williams, Louts Jaffe, Ira Schneider, Dean und Dudley Evenson
Assoziierte Redakteurin: Phyllis Gershuny