Editorial

Open Codes. Die Welt als Datenfeld

Das ungewöhnliche Bildungsexperiment geht weiter!

Freier Eintritt, freies Obst, freie Getränke, freie Gedanken

 

In Phase I der Ausstellung »Open Codes« wurden vielfältige Beispiele der Codierung, vom Morsecode bis zum genetischen Code, sowie deren künstlerische und industrielle Anwendung gezeigt. In Phase II von Open Codes liegt der Schwerpunkt auf der Untersuchung einer Welt, die nicht mehr alleine von Dingen, Worten und Bildern, sondern vor allem von Daten erzeugt, gesteuert und kontrolliert wird. Leben in digitalen Welten bedeutet immer mehr ein Leben in einem programmierten, intelligenten Ambiente, in einer sogenannten »scripted reality«. Das Script wird zum Teil von Sensoren vorgegeben, die Auskunft geben über den Zustand der uns umgebenden Wirklichkeit. Die Daten der Sensoren werden von Algorithmen verarbeitet, die uns durch die Welt wie durch ein Datenfeld steuern. Denn immer mehr besteht unsere Lebenswelt heute aus einer künstlichen, von Menschen gemachten Datenwelt. Deswegen werden Sie im Lichthof 8 des ZKM mit circa 40 Bildschirmen konfrontiert, die als Datenwolke über dem Lichthof schweben. In übersteigerter Weise zeigen sie uns jene zahlreichen elektronischen Schnittstellen wie Smartphone, Computer, TV und jene digitalen Datenbildschirme, die uns rund um die Uhr begleiten, am Flughafen oder am Bahnhof, an der Börse und in der Bank, im Büro und in der Wohnung, im Krankenhaus oder in der Arztpraxis. Die zweite Phase von Open Codes gibt einen Einblick in die Post-Text-Datenwelt, eine Welt, in der historische Textformen immer mehr durch numerische Codes ersetzt werden.

 

Datenfelder

In der Welt als Datenfeld haben die alten Navigationsmittel wie Sonne, Mond und Sterne nicht mehr die gleiche Bedeutung wie früher. Was Immanuel Kant in Kritik der praktischen Vernunft1788 schrieb: »Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: Der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir. Ich sehe sie beide vor mir und verknüpfe sie unmittelbar mit dem Bewusstsein meiner Existenz«[1], gilt heute nur noch eingeschränkt. Der eine oder der andere Mensch trägt vielleicht noch das moralische Gesetz in sich, aber er schaut nicht mehr auf das Firmament, den bestirnten Himmel über ihm, sondern sieht auf das Display vor ihm. Keine zwei Dinge mehr erfüllen das Gemüt. Wo bleiben dann Ehrfurcht und moralisches Gesetz? Niemand sieht noch Himmel und Moral vor sich, eher hinter sich. Im Zeitalter des Posttheismus sind Bildschirme die neuen Altare und die Menschen wenden sich diesen in Bewunderung zu. Bildschirme und Daten sind es, die sich beim modernen Menschen zum Bewusstsein seiner Existenz verknüpfen. Sie weisen dem Menschen den Weg und haben Sonne, Mond und Sterne als Navigationsmittel abgelöst. Der Mensch im digitalen Zeitalter richtet sich nach verfügbaren Mobilfunkmasten, nach Satelliten am Himmel und lässt sich durch Algorithmen zu seinem Ziel leiten. Menschen reisen heute ohne Pass, aber mit Handy. Sollten Sie die Generation unter 50 fragen, wohin sie öfters schauen, in den bestirnten Himmel, in die Gesichter ihrer Mitmenschen, oder auf den Bildschirm des Handys vor ihnen, könnten Sie durchaus zu der Erkenntnis kommen, dass die meisten auf ihr Handy blicken, wenige in die Gesichter der Mitmenschen schauen und kaum jemand auf das Firmament. Eine weitere Beobachtung zeigt die veränderte Welt als Datenfeld. Stecken Sie mit Ihrem Auto in einem Verkehrsstau, haben Sie zwei Möglichkeiten. Sie schicken ein Stoßgebet zum Himmel, zu Gott im All oder Sie vertrauen den Informationen Ihres Navigationssystems, das mithilfe von Satelliten aus dem All die Verkehrssituation codiert verarbeitet. Entweder vertrauen Sie der Stimme Gottes oder der automatisierten codierten Stimme Ihres Navis. Durch Frühformen der künstlichen Intelligenz spricht das Navigationsgerät zu Ihnen, wie es bisher nur andere Menschen konnten. Philosophen wie René Descartes (1596–1650) sind bisher davon ausgegangen, dass auf der einen Seite die res extensa, die Welt der Gegenstände, besteht und auf der anderen Seite die res cogitans, die Welt der denkenden Subjekte, die allein sprechen können. Die Sprache trenne den Menschen vom Tier und der Objektwelt. Deswegen heißt auch ein Buch des berühmten, in Kanada lebenden Philosophen Charles Taylor aus dem Jahr 2016 The Language Animal (dt. Das sprachbegabte Tier. Grundzüge des menschlichen Sprachvermögens, 2017). Dieser Buchtitel bezeugt zwei Fehler und bedarf zweier Korrekturen. Erstens müsste es heißen „das sprachbegabte Raubtier“. Zweitens wissen wir seit Siri und Alexa, dass das sprachbegabte Tier namens Mensch (res cogitans) auch den Objekten (res extensa) das Sprechen beigebracht hat. In der Welt als Datenfeld, in der digitalen Welt, in der Welt der digitalen Codes und Medien sprechen also nicht nur Menschen, sondern auch »Dinge«. Und immer mehr »Dinge« werden zu uns Menschen sprechen. Artefakte wie Bots werden in Zukunft vermutlich kompetenter, höflicher, hilfsbereiter und mehrsprachiger Auskunft geben als Menschen.

Die zweite Ausgabe von Open Codes wird Ihnen mit einer Vielzahl von Beispielen diese neue Welt des Datenfelds zeigen. Es eröffnet sich für uns ein neuer Horizont des Humanen: der auf künstlicher Intelligenz aufgebaute Transhumanismus.

Maschinencode = Anweisung und Ausführung

Die Grundlage dieser Datenwelt ist bekanntlich der Binärcode, die Welt aus Null und Eins. Während der alphabetische Code als Primärcode der menschlichen Kommunikation und Kultur für Jahrtausende vorherrschend war, dominiert in der heutigen Welt  der numerische Code. Dieser bestand im Wesentlichen aus den zehn Ziffern 1 bis 9 und 0, womit nahezu unendlich viele Zahlen gebildet werden können. Eine ähnliche Leistung wie Samuel Morse 1833 für den alphabetischen Code erbrachte, nämlich die Reduktion der 26 Buchstaben des lateinischen Alphabetes auf ein kurzes und langes Signal, vollbrachte Gottfried Wilhelm Leibniz 1697 für den numerischen Code.[2] Leibniz bewies, dass sich alle Zahlen mit lediglich zwei Ziffern, 0 und 1, darstellen lassen. Er nutzte als Entsprechungen für Gegenstände nicht nur wie üblich Wörter, Bilder oder Zahlen, sondern ordnete den Zahlen erstmals auch Ziffern zu. Leibniz (De progressione Dyadica, 1679): »Man kann durch die Zahlen alle Arten von wahren Sätzen und Folgerungen darstellen.« Leibniz’ binäres Zahlensystem, sein binärer Code, mit dem er begann, Wörter und Sätze in Ziffern zu übersetzen, war die Voraussetzung für den digitalen Code von heute.

Da in der digitalen Welt jede Information als Zahl verarbeitet wird, werden Buchstaben und Ziffern im Computer durch Bitfolgen dargestellt. Die Kombinationen von 0 und 1 (Bits) können als Ziffern, Zeichen oder Buchstaben (z. B. a = 1100 0001, b = 1100 0010) festgelegt sein. In der Kodierungstheorie nennt man die Elemente, aus denen ein Code besteht, »Codewörter« und die Symbole, aus denen die Codewörter bestehen, das »Alphabet«. Während bis vor Kurzem noch die Codesysteme Sprache und Schrift der Kommunikation zwischen Menschen dienten, steht heute eine Vielzahl von Codesystemen zur Verfügung, mit deren Hilfe der Mensch auch mit Maschinen und Dingen kommunizieren kann, wie etwa der sogenannte Strichcode oder der QR­Code der Warenwirtschaft. Ein weiterer wichtiger Code ist der ASCII­Code (American Standard Code for Information Interchange), der zur Codierung von Zeichensätzen dient.

Als Quellcode, Quelltext oder auch Programmcode wird in der Informatik der für Menschen lesbare, in einer Programmiersprache geschriebene Text eines Computerprogramms bezeichnet. Er wird entsprechend den Regeln der jeweiligen Programmiersprache von Menschen erstellt. Oftmals ist der Quellcode im ASCII­Code verfasst. Damit aus dem Quellcode ein vom Computer ausführbares Programm wird, muss dieser in Maschinensprache umgewandelt werden, das heißt in Befehle übersetzt werden, die von einem Prozessor ausführbar sind. Das führt zu einem bedeutenden Unterschied zwischen den historischen Codeformen und den heutigen binären Codeformen. Sprachcodes, Bildcodes, auch Zahlencodes, als Menschencodes zusammengefasst, sind nur Anweisungen. Nehmen Sie als Beispiel die Musiknotation, wie sie seit circa tausend Jahren, seit Guido von Arezzo (um 992–ca. 1050) üblich ist. Musikalische Notation ist ein Code, den es zuerst zu lernen gilt. Aber trotzdem ist er nur eine Anweisung an die Menschen, wie sie diesen Code auf die jeweiligen Instrumente zu übertragen haben. Dieser Lernprozess bedarf jahrelanger und kontinuierlicher Übung. Klassische Codes sind also Anweisungen und bedürfen der Menschen zur Ausführung. Maschinencodes hingegen sind Anweisungen und Ausführungen in einem. Wenn Sie auf einem Taschenrechner die Ziffern und die Operationszeichen +, – , = drücken, wird der Rechenvorgang von der Maschine ausgeführt und das Ergebnis steht ohne Ihr Zutun auf dem Bildschirm, dem Datenfeld. Die neue grundlegende noetische Wende besteht also darin, dass Maschinencodes Anweisung und Ausführung in einem sind. In der Welt als Datenfeld wird der Mensch daher nach den historischen Kränkungen, die mit den Namen Nikolaus Kopernikus, Charles Darwin und Sigmund Freud verbunden sind (die Erde steht nicht im Mittelpunkt des Universums, der Mensch stammt als das Ergebnis der Evolution vom Affen ab und nicht von Gott und ist nicht einmal Herr im eigenen Haus, da er vom Unbewussten gesteuert wird), eine weitere Kränkung erfahren: dass er zur Lösung der von ihm geschaffenen Probleme nicht mehr ausreichend mit Kompetenzen und Kenntnissen ausgestattet ist, sondern auf Algorithmen, Künstliche Intelligenz und Maschinencodes angewiesen ist, die ihn bei seinen Lösungsversuchen und Entscheidungen unterstützen. Der Mensch wird sich daran gewöhnen müssen, dass in Zukunft nicht nur Tiere Mitwesen sind, sondern auch Pflanzen, Objekte und Maschinen zu gleichrangigen, wenn nicht superioren Mitwesen aufsteigen werden.

 

Zur Geschichte der Digitalisierung

Bedeutende philosophische Bücher des 20. Jahrhunderts tragen Titel wie Word and Object (Willard Van Orman Quine, 1960)[3], oder Les Mots et les choses (Michel Foucault, 1966)[4]. Diese berichten von einer analogen Welt, die vor allem aus Dingen und der Beziehung zwischen Dingen und Wörtern besteht. Die Sprache ist demnach das Instrument, mit dem die Welt geordnet wird. Entsprechend lautet Ludwig Wittgensteins bekanntes Dictum: »Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt«[5].

In der Tat war die Sprache das erste Instrument, mit dem die Menschen die Welt erklären und gestalten konnten. Der Mensch gab den Dingen Namen und diese Beziehungen zwischen den Wörtern und Dingen waren für Jahrtausende kultur­ und zivilisationsbestimmend. Ebenso wie die Menschen den Dingen Namen gaben, ordneten sie den Dingen Bilder zu, woraus eine zweite Kulturtechnik hervorging: die Kunst der Bildwelten, von der Malerei bis zur Fotografie. Die Dinge erzeugten auch Töne und der Mensch erschuf sogar neue Dinge eigens zur Erzeugung von Tönen.

Zur Welt der Bilder, Wörter und Töne gesellte sich die Welt der Zahlen. Die Mathematik ist die Welt der Zahlen. Man kann die Entwicklung der Digitalisierung in drei Stufen beschreiben. Die erste Stufe der Digitalisierung beziehungsweise der Mathematisierung der Welt begann mit der Mathematisierung der Physik. Galileo Galilei schrieb 1623 »Das Buch der Natur ist in der Sprache der Mathematik geschrieben […]« [6]. Bereits die Abbildungen der Dinge auf Wörter und Bilder stellen erhebliche Stufen menschlicher Abstraktion dar. Die Abbildung der Welt auf Zahlen und ihre Verselbstständigung als Mathematik stellen die bisher höchste Stufe einer abstrakten Kulturtechnik dar, wodurch sich der Mensch von anderen Lebewesen unterscheidet. Mit dieser gesteigerten Abstraktion durch Mathematik und der Entwicklung der Naturwissenschaften als mathematische Disziplinen beginnt im eigentlichen Sinne bereits vor 400 Jahren die Digitalisierung. Mathematik wurde zur Universalsprache.

Schematisch ließe sich sagen: Im 17. und 18. Jahrhundert fand die Mathematisierung der Physik statt (1. Stufe), im 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Mathematisierung des Denkens (2. Stufe). Im weiteren Verlauf des 20. Jahrhunderts konvergierten beide Tendenzen in der Elektronik (3. Stufe). Isaac Newton legte mit seinem Hauptwerk Philosophiae Naturalis Principia Mathematica von 1686 den Grundstein für die mathematische Beschreibung der Natur. Joseph­Louis de Lagranges Meisterwerk Méchanique analytique von 1788 bietet erstmals eine vollständige Beschreibung des Universums rein auf Basis algebraischer Operationen. Er überführte die Physik in die analytische Mathematik. Lagrange algebraisierte die Mathematik und mathe­matisierte die Physik. Diese Algebraisierung der Physik führte zur 2. Stufe der Digitalisierung: die Algebraisierung der Logik (des formalen Denkens). Logische Tatbestände wurden mithilfe von mathematischen Methoden und Begriffsbildungen erfasst. Als Reaktion auf Newton schrieben daher Bertrand Russell und Alfred North Whitehead ihre dreibändigen Principia Mathematica, 1910–1913. Ebenso wie Gottlob Frege, der anhand seines Werkes Begriffsschrift. Eine der arithmetischen nachgebildete Formelsprache des reinen Denkens von 1879 das Denken in mathematische Formeln übersetzte, bildeten auch Russell und Whitehead das Denken und die Logik auf Mathematik ab.

Einen entscheidenden Meilenstein setzte George Boole, indem er die Gesetze des Denkens als Gesetze der formalen Logik und diese, in Fortsetzung von Lagrange, als algebraische Mathematik definierte. In The Mathematical Analysis of Logic[7] (1847) und in An Investigation of the Laws of Thought (1854) bewies Boole, dass Logik und Algebra ident sind, indem er logische Aussagen als algebraische Gleichungen darstellte. Alan Turing schließlich trieb diese Tendenzen der Mathematisierung von Welt, Sprache, Logik und Denken in seinem berühmten Essay »On Computable Numbers« von 1936 auf die Spitze. Turings Darstellung der Berechenbarkeit von Zahlen und Zahlenprozessen gilt als das grundlegende Papier für die Entwicklung des digitalen Computers, für die sogenannte Turing­Maschine. Fortan wird nicht mehr nur mit Zahlen gerechnet, Zahlen werden vielmehr selbst berechenbar. Mit berechenbaren Zahlen wird die Natur errechenbar.

Mit der Weiterentwicklung des Computers von einer reinen Rechenmaschine zu einer Bild­, Ton­ und Sprachmaschine entstand eine neue Welt der Daten. Bilder und Texte können errechnet werden und visuelle und akustische Welten simulieren. Mit einem Wort: Alles das, was bisher aus Objekten, Wörtern, Tönen und Bildern bestand, kann auf Zahlen abgebildet und aus Zahlen konstruiert werden. Das entscheidende Moment dieser digitalen Kulturtechnik ist eine bis dato unvorstellbare Reversibilität. In der analogen Welt herrschte in der Beziehung zwischen den Dingen und Wörtern bzw. Bildern das Prinzip der Irreversibilität. Die Dinge können in Wörter verwandelt werden, aber die Wörter nicht in Dinge rückverwandelt, weil das Wort „Stuhl“ eben kein Stuhl ist. Die Dinge können in Bilder verwandelt werden, aber die Bilder nicht in Dinge, weil das Bild einer Pfeife keine Pfeife ist – man denke an René Magrittes Gemälde La trahison des images von 1929, auf dem eine Pfeife abgebildet ist, darunter der Schriftzug Ceci n‘est pas une pipe – Dies ist keine Pfeife. Im Zeitalter der Digitalisierung werden nun aber Wörter, Bilder und Töne in Daten verwandelt, und – erstmals in der Geschichte der Menschheit – können diese Daten auch in Töne, Bilder und Wörter zurückverwandelt werden. Und durch den 3­D­Druck können Daten sogar in Dinge verwandelt werden. Die Beziehungen zwischen Daten und Dingen, Wörtern, Bildern sind reversibel. Die Sprache der Daten, die Algorithmen und Programmiersprachen, sind zu einer universellen Sprache geworden, aus der die Welt der Töne, Bilder, Texte und Dinge entsteht. Die Mathematik ist also längst nicht mehr nur die Sprache der Natur, sie ist zu einer Sprache der Kultur geworden. Das Buch, das die gegenwärtige Welt beschreibt, müsste also den Titel Die Dinge und die Daten tragen. Die Beziehung zwischen Dingen, Wörtern und Bildern war irreversibel. Die Beziehungen zwischen Daten und Wörtern, Bildern und Tönen sind in der digitalen Welt reversibel.

Digitale Codes

Die digitale Kulturtechnik bildet aber auch die Grundlage für eine weitere Revolution, die vielleicht ein neues Zeitalter einleitet. Die bisherige Kultur basiert auf einer zweidimensionalen Notation: Ebenso wie die Schrift sind Noten, Zahlen und Zeichen auf Papier notiert und fixiert. Der Computer jedoch ermöglicht die Simulation eines bewegten dreidimensionalen Raums und somit eine zukünftige dreidimensionale Notation, derer sich schon heute Architekten und Designer bedienen. Das 3­D­Kino war der erste Versuch in diese Richtung, aber mit dem 3­D­Druck beginnt diese Zukunft nun Realität zu werden, durch die oben beschriebenen Möglichkeiten der reversiblen Transformationen. Dank der Entwicklung dieser Kulturtechnik, welche die Beziehung zwischen der Ding­ und Zeichenwelt reversibel macht, werden wir in einer Umwelt leben, die von Sensoren und intelligenten Agenten gestützt, von Codes und Algorithmen geleitet und mit künstlicher Intelligenz ausgestattet sein wird.

Dass dies möglich wurde, geht zurück auf »The Unreason­able Effectiveness of Mathematics in the Natural Sciences«, die der Nobelpreisträger Eugene Wigner 1960 feststellte. Realität ist, was mathematisch repräsentierbar und elektronisch schaltbar ist. Das beste Beispiel hierfür bietet Claude E. Shannons Masterarbeit A Symbolic Analysis of Relay and Switching Circuits von 1937. In dieser Arbeit bewies Shannon, dass die Boolesche Aussagenlogik mit den Wahrheitswerten 0 und 1 verwendet werden kann, um die durch elektrischen Strom betriebenen, elektromagnetisch wirkenden, fernbetätigten Schalter mit zwei Schaltstellungen zu steuern. Wie der Titel besagt, werden Stromkreise und Schaltkreise, Anordnungen von Relais und Schaltern, in einer symbolischen Analyse auf die Boolesche Aussagenlogik abgebildet. Die Boolesche Algebra wird also zur Schaltalgebra. Die von Shannon vorgeschlagene Verknüpfung der logischen Gesetze mit der Steuerung von Schaltkreisen, das heißt der Gebrauch der binären Eigenschaften elektrischer Schaltkreise (on – off, 1 – 0, Strom – Nicht­Strom) zur Ausführung logischer Operationen, wurde fortan für den Aufbau aller elektronischen digitalen Computer bestimmend. Shannon zeigte, dass die mentalen Formeln der Booleschen Algebra in materielle Schaltalgebra übertragen werden konnten. Formales Denken wurde in elektronische Schaltkreise – nach Regeln der Booleschen Algebra überführt. Die Elektronik wurde zur Physik der Mathematik!

Im Verbund mit der Entdeckung der elektromagnetischen Wellen durch Heinrich Hertz (1886–1888), das heißt der Erfindung der Telekommunikation (Telegrafie, Telefonie, Television, Radar, Rundfunk, Satellit, Internet) sowie der Entwicklung von Transistoren (1947), integrierten Schaltkreisen und Mikrochips wurde die Mathematisierung der Welt in den letzten einhundert Jahren in die materielle Welt der Elektronik übertragbar. Daher muss die Gleichung »Machinery, Materials, and Men« (Frank Lloyd Wright, 1930), die für das 19. und 20. Jahrhundert gültig war, für das 21. Jahrhundert um die Gleichung »Medien, Daten und Menschen« (Peter Weibel, 2011) erweitert werden. Seitdem der alphabetische Code durch den numerischen Code ergänzt wurde, stellen Algorithmen ein fundamentales Element unserer sozialen Ordnung dar.

Das Bild zeigt das mit Menschen gefüllte OpenHub der Ausstellung »Open Codes«

Das Konzept der Ausstellung: das Museum als Assembly

Der Discours der Ausstellung ist als architektonischer Parcours angelegt, um dem Publikum die Gelegenheit zu bieten, selbstbestimmt an den sogenannten Work Stations aktiv und kreativ zu werden. Neben den Co­Working­Stations kann das Publikum auch Orte der Ruhe und Rekreation finden. Deswegen stehen ihm freie Getränke und freies Obst zur Verfügung.

Die Ausstellung Open Codes weicht mit ihrem architektonischen Konzept und ihrer Szenografie stark von der gewöhnlichen Museumsarchitektur als einem White Cube ab. Neben den ausgestellten Werken wechseln Studio­, Labor­, Büro­ und Wohnelemente einander ab. Das Museum dient als Commons (Gemeingut), als Assembly (Versammlung): Das Museum wird zum Ort einer Open­Source­Community, in der die Menschen gemeinsam kompetenter, kreativer und kenntnisreicher werden. Mit dieser Art der Ausstellung legt das ZKM eine neue Option und eine neue Funktion für das Museum im 21. Jahrhundert vor, die durch den Wandel der politischen Kultur erforderlich geworden sind.

Die bisherigen Formen der Demokratie und der Bildung sind offensichtlich so geschwächt, dass sie ihre Aufgaben und die in sie gesetzten Erwartungen nicht mehr erfüllen. Allenthalben wird ein Bildungsnotstand in Deutschland beklagt, und was die Demokratie betrifft, sprechen Buchtitel Bände. Zeitgenössische Buchtitel zum Thema Demokratie heißen Postdemokratie (Colin Crouch, 2004; im Original Post-Democracy), Defekte Demokratie (Wolfgang Merkel, Hans-Jürgen Puhle, Aurel Croissant et al, 2003), Simulative Demokratie (Ingolfur Blühdorn, 2013), usw. Die Krise der repräsentativen Demokratie ist also nicht mehr zu leugnen. Seit der Gründung der EU ist Europa durch eine verfehlte Politik ideologisch immer mehr nach rechts gerückt. Neue Formen der Demokratie und der Bildung müssen daher erprobt werden. Erstaunlicherweise stellt sich das Museum als ein geeigneter Ort dafür heraus. Warum? Weil das Museum schon lange eine Heterotopie ist, ein Ort des Exils, zumindest künstlerischer Ausdrucksformen. Die Klangkunst des 21. Jahrhunderts ist nicht in den Prunkbauten der Opern und klassischen Konzerthallen zu hören und zu sehen, sondern (gelegentlich) in Museen. Der künstlerische Film zwangsemigrierte von Kino und Fernsehen ins Museum. Ebenso finden neue Formen des Tanzes, der Aktionskunst und der Performance hauptsächlich in Kunsträumen statt. Die utopischen Momente einer Gesellschaft, sofern sie sich in der Kunst spiegeln, sind nur noch in den Ausstellungsräumen latent geblieben. Im historischen Augenblick erweitert sich diese Latenz von den künstlerischen zu sozialen Modellen. Es ist also an der Zeit, wenn auch nur mikropolitisch, neue bildungspolitische, soziale und demokratische Bewegungen zu initiieren. Das Museum könnte ein Experimentalraum für innovative demokratische Möglichkeiten, neue Formen des Wissenserwerbs und ein neues Unternehmertum sein, das auf neuen Formen der Kooperation beruht. Die Grundlage der konzeptuellen Ausrichtung der Ausstellung, ihre Werkauswahl und ihr Design gehen von der Prämisse aus, dass der Schlüssel zu einer emanzipatorischen Ausstellung in der Stärkung der einzelnen MuseumsbesucherInnen und der Gemeinschaft dieser liegt. Deswegen wird den BetrachterInnen die Möglichkeit gegeben, das Museum als Denkraum, als Co-Working-Space, als Assembly, als neue Form der Versammlung zum Austausch und Erwerb von Wissen, als neue Form der Kooperation zu erleben. BürgerInnen bilden BürgerInnen. Eine ungewöhnliche, interaktive Form der Auseinandersetzung mit Kunst führt sie dabei in diese neue Strategie der Versammlung ein. AusstellungsbesucherInnen definieren selbst ein Stück weit ein neues Ausstellungsformat als Vorschau einer künftigen souveränen und nicht-hegemonialen Existenz.

Das Museum wird zum Ort von BürgerInnenbildung, in dem die Aneignung von Wissen nicht nur lohnenswert ist, sondern auch belohnt wird. Denn die eigentliche Botschaft des digitalen Wandels lautet: Die Gesellschaft von morgen wird sich von einer Arbeits­ zu einer Wissensgesellschaft wandeln (müssen). Daher fordern wir für das 21. Jahrhundert bezahlte BürgerInnenbildung! Wir brauchen in Zukunft kulturell kompetente BürgerInnen, um die Demokratie verteidigen zu können. Denn Demokratie braucht Denken. Daher geht es vor allem um die Verteidigung des Denkens im Museum. Denn wird in der politischen Arena, in den Massenmedien noch gedacht? Ist nicht ein Trash-Präsident der finale Triumph des Trash-TV? Wir haben uns leider daran gewöhnt, dass die Stimme der Vernunft nicht gehört wird, weil, wie schon Sigmund Freud sagte, „die Stimme des Intellekts [...] leise [ist]“[8]. Aber neu ist, dass auch die Stimme der Wirklichkeit nicht mehr gehört wird. Wenn in den Berliner Regierungsbüros das Telefon klingelt und der oder die SekretärIn auf die Frage „Wer ist dran?“ antwortet „die Stimme der Wirklichkeit“, antworten die PolitikerInnen „Nicht abheben“. Deswegen ist Deutschland eine dysfunktionale demokratische Republik geworden. Verwaltungswissenschaftler sprechen immer häufiger von Organisationsversagen mit fatalen Folgen für die Menschen. In den Schulen fehlen LehrerInnen, ebenso fehlen SozialarbeiterInnen und Pflegepersonal in Krankenhäusern, Seniorenheimen etc. Die helfenden Berufe, die existentiell notwendig sind und die wir daher brauchen, verdienen fast nichts, die spielenden Berufe, vom Filmschauspieler zum Fußballspieler, die wir nur zur Unterhaltung brauchen, also weniger notwendig sind, verdienen Millionen. Die Mühlen der Justiz mahlen langsamer denn je und kommen seltener zu einem Ergebnis, der Prozess um den Einsturz des Stadtarchivs in Köln begann beispielsweise erst nach acht Jahren. Staatliche Behörden im baden-württembergischen Staufen konnten nicht einmal einen neunjährigen Jungen vor sexuellem Missbrauch schützen. Nicht nur wegen Personalkürzungen und Semi-Privatisierungen öffentlicher Einrichtungen, sondern auch wegen mangelnder Bereitschaft, auf den digitalen Wandel angemessen zu reagieren, ist in Deutschland die Infrastruktur implodiert. Das Verkehrswesen (Flug-, Bahn- und Autoverkehr) ist außer Kontrolle geraten. Funktionsfähigkeit ist nicht mehr die Norm, sondern die Ausnahme. Vor allem deswegen, weil es an Echtzeit-Datenmanagement fehlt. Deutschland steht im europäischen Digitalisierungsindex auf Platz 17, ist also ein digitales Entwicklungsland. Das Streben nach Machterhalt und ideologische Verblendung haben zum Wegducken von der Wirklichkeit geführt.

 

Also hat das Museum als neue Form der Versammlung die Chance und die Aufgabe, gemeinsam mit den BürgerInnen das Museum als Ort des Wissens und der Handlungsfähigkeit zu entwickeln, um mit den Instrumenten des Denkens den Zugang zur Wirklichkeit wiederzugewinnen.

 

Peter Weibel

 

[1] Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft, 1788, Kapitel 34, Beschluß.

[2] G. W. Leibniz, in einem Brief an Rudolph August, Herzog zu Braunschweig und Lüneburg, sog. Neujahrsbrief, 12. Januar 1697.

[3] Deutsch: Wort und Gegenstand, 1980.

[4] Deutsch: Die Ordnung der Dinge, 2003.

[5] Ludwig Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, 1921, Satz 5.6.

[6] Galileo Galilei, II Saggiatore (1623), Edition Nazionale, Bd. 6, Florenz 1896, S. 232.

[7] Deutsch: Die mathematische Analyse der Logik, 2001.

[8] Sigmund Freud, »Die Zukunft einer Illusion«, in: ders., Gesammelte Werke, Band 14: Werke aus den Jahren 1925-1931, Fischer, Frankfurt am Main,, S. 325–382, hier S. 377.