Jud Yalkut: Interview mit Frank Gillette und Ira Schneider

Radical Software Vol. 1, Nr. 1 (1970)

Teil I und II eines Interviews von Jud Yalkut mit Frank Gillette und Ira Schneider, in: »Radical Software«, Vol. 1, Nr. 1, 1970

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Teil I und II eines Interviews von Jud Yalkut mit Frank Gillette und Ira Schneider, in: »Radical Software«, Vol. 1, Nr. 1, 1970
Teil I und II eines Interviews von Jud Yalkut mit Frank Gillette und Ira Schneider, in: »Radical Software«, Vol. 1, Nr. 1, 1970
© Raindance

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IRA: Der wichtigste Aspekt von »Wipe Cycle« [1] war die Idee der Präsentation von Informationen und die Integration des Publikums in die Informationen.

FRANK: Es war ein Versuch zu zeigen, dass man ebenso sehr eine Information ist wie die Schlagzeilen des nächsten Morgens – als Betrachter steht man in einer Satelliten-Beziehung zu einer Information. Und der Satellit, der man selbst ist, wird Teil dessen, was an den Satelliten zurückgesendet wird. Mit anderen Worten: Es geht um die Neuanordnung der Erfahrung des Einzelnen, die er mit der Wahrnehmung von Informationen macht.

IRA: Der physikalische Aufbau von »Wipe Cycle« besteht aus einem Fernsehwandbild, das sich aus neun Monitoren zusammensetzt.

FRANK: Es ist ein prototypisches Modell.

IRA: Ein Live-Feedback-System, das es dem Betrachter, der vor den Bildschirmen steht, ermöglicht, sich nicht nur JETZT in Zeit und Raum zu betrachten, sondern auch vor 8 Sekunden und vor 16 Sekunden, und zwar in Form einer Nebeneinanderstellung und im Fluss. Darüber hinaus sieht er gewöhnliche Fernsehbilder, die periodisch auftauchen und sich mit seinem Live-Bild abwechseln. Außerdem bekommt er zwei programmierte [voraufgezeichnete], collagenartige Shows zu sehen, wobei die Bandbreite der Bilder von einer Aufnahme der Erde aus dem Weltraum, über grasende Kühe bis hin Aufnahmen der 57. Straße reichen. Irgendwie ergibt sich daraus eine Nebeneinanderstellung der Gegenwart der Person, des Individuums, mit anderen Informationen über das Universum und Amerika. Dementsprechend scheint die allgemeine Reaktion in einer ziemlich objektivierenden Erfahrung bestanden zu haben, und auch in einer irgendwie integrierenden Erfahrung, was den eigenen Platz im Universum betrifft.

FRANK: Es ist ein Versuch, die zeitliche Erfahrung einer Person umzustrukturieren – das Gefühl des Einzelnen für Zeit und Raum.

IRA: Ja, wir scheinen die Fähigkeit zu besitzen, kleine Abschnitte von Material zu abstrahieren.

FRANK: Was ein wichtiger Punkt ist. Videotape eignet sich wegen der Zugänglichkeit des Bildes eher für eine Collage als Film.

IRA: Etwas, das wir in in Antioch [am Antioch College] erfolgreich umgesetzt haben war, dass wir die Kids davon überzeugen konnten, Videotape bei ihren eigenen Arbeiten zu verwenden. Danach kehrten wir nach New York zurück und machten kurz darauf »Wipe Cycle«.

FRANK: Nach der Rückkehr nach New York erhielt ich einen Anruf von Howard Wise, der von Nam June Paik eine Liste mit Leuten bekommen hatte, die mit Videotape arbeiteten. Auf dieser Liste standen unsere Namen. Wir unterbreiteten Wise einen Vorschlag, der im Wesentlichen »Wipe Cycle« ähnelte und später zu seiner endgültigen Form angepasst wurde.

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Frank Gillette, Ira Schneider, »Wipe Cycle«, 1969, Installationsansicht, Howard Wise Gallery, ZKM | Karlsruhe, 2017
Frank Gillette, Ira Schneider, »Wipe Cycle«, 1969, Installationsansicht, Howard Wise Gallery, New York, 1969
© Frank Gillette, Ira Schneider
Frank Gillette, Ira Schneider, »Wipe Cycle«, 1969, Diagramm
Frank Gillette, Ira Schneider, »Wipe Cycle«, 1969, Diagramm
© Frank Gillette, Ira Schneider

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JUD: Welche Möglichkeiten seht Ihr in Eurer TV-Arbeit für die Einbindung von abstrakten Fernseheffekten und elektronischen Verzerrungsgeräten – wie sie etwa Nam June Paik verwendet?

FRANK: Bei meinen Werken bin ich nicht so sehr an reiner Abstraktion interessiert als vielmehr an dem Potential des TV im Hinblick auf Collage-Abstraktion, das heißt an der Einbeziehung von realen Elementen – die als real oder live auf Videotape interpretiert werden –, und an ihrer Nebeneinanderstellung in abstrakten Schemata, um eine "lebendige" Abstraktion zu erzeugen. Menschen betrachten Videotape und das, was sie in ihren Schädeln interpretieren, als "real" – es scheint live zu sein und hat eine nicht gespeicherte Qualität – vergleichbar mit der live gesendeten Unmittelbarkeit, die sogar Walter Cronkite in den Sieben-Uhr-Nachrichten hat [2]. Ich betrachte Fernsehen als eine Möglichkeit, diesen "Live"-Effekt durch Abstraktion zu nutzen, als ein Instrument für ein abstraktes Statement von einem anderen Blickwinkel aus, aber es hat für mich ebenso viel Bedeutung.

IRA: Ich würde hinzufügen, dass die Auffassung von Abstraktion auch die Vorstellung der Abstraktion von Informationen und der Nebeneinanderstellung von Informationen beinhaltet, die durch die Integration von verzerrenden Schaltkreis-Effekten noch ausgeweitet werden kann. Ich denke, dass wir im Grunde  nach einem Punkt Ausschau halten, vom dem aus wir starten können, nach einer Abstraktion auf der Ebene des Inhalts bzw. von Informationen, hin zu Begriffen wie der sukzessiven „Auren“, die übrigens gelegentlich auf Videotape zum Vorschein kommen. Ich würde nicht sagen, dass es sich um eine Aura handelt, aber es gibt elektromagnetische Interferenzen unterschiedlicher Art, die in Videoaufzeichnung auftauchen. Manchmal geht es darum, Schwingungen aufzufangen.

FRANK: Ein Videotape-Freak behauptete, er habe das Bild in seinem Sucher seiner tragbaren Kamera verbessert, indem er der Kamera positive Schwingungen zukommen habe lassen.

IRA: Wir haben tatsächlich durch den Sucher geschaut, und es hatte den Anschein, als habe er recht. Es war besser.

FRANK: Es war mit Sicherheit das beste Sucher-Bild, das ich jemals in einer Videokamera gesehen habe. Seine Behauptung war, dass er auf die Kamera eingewirkt habe, indem er ihr positive Schwingungen gesendet habe, indem er sie geliebt habe, indem er das Medium psychologisch analysiert und das Bild verändert habe. Durch Metaphysik kann eine Ideologie für eine bessere Elektronik entwickelt werden.

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Teil I und II eines Interviews von Jud Yalkut mit Frank Gillette und Ira Schneider, in: »Radical Software«, Vol. 1, Nr. 1, 1970
"Teil I und II eines Interviews von Jud Yalkut mit Frank Gillette und Ira Schneider", in: »Radical Software«, Vol. 1, Nr. 1, 1970, Illustration von Willy Murphy
© Raindance

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Um die Intensität von Videotape zu demonstrieren: Menschen habe sich im Feedback auf Film und auf Tape gesehen, und ausnahmslos haben sie ausgesagt, sie hätten mit Tape eine weitaus gespenstischere Erfahrung gemacht. Es ist vor allem dieses allererste Erlebnis – das erste Mal, dass man sich selbst auf Tape sieht, ist der erste unverfälschte Blick von Außen auf das, was das Innere ist. Ein Spiegel ist wie eine Erweiterung des Inneren, weil man seine Augen stets auf ihn fokussiert lassen muss, und man schaut stets auf seine eigenen Augen, die auf den Spiegel fokussiert sind. Beim Tape hingegen sieht man sich selbst in jeder Geste, die eigene Kinetik wird offengelegt; alles ist plötzlich außen; und es ist das erste Mal, dass man diesem Außen begegnet. Video verströmt eine Qualität der Ganzheit, und es ist genau dieser nachhaltige Eindruck des wahrhaft Ganzen, der ihm Kraft gibt. Es verströmt eine Stärke und Berührbarkeit – ein Gefühl von Berührung, von der Textur des Volumens.

IRA: Beim Film habe ich immer das Gefühl, dass mein Bild in einem zweidimensionalen Raum zu sehen ist. Irgendwie kann ich nicht sofort eine Beziehung zu mir selbst herstellen. Wohingegen ich beim Videotape dazu neige, meine Bewegungen und Verhaltensweisen, die Art und Weise, wie ich mich benehme, viel eindringlicher zu sehen. Mir ist noch keine befriedigende Definition des Unterschieds zwischen den Systemen begegnet. Ich denke, es wird sich weiterentwickeln.

FRANK: Der Film hat das Theater imitiert, und Videotape imitiert den Film. Es beginnt gerade erst sich zu entwickeln. Es ist vergleichbar mit dem ersten Auto, bei dem der Motor vorne eingebaut war, weil sich dort vorher das Pferd befunden hatte.

 

[1] Ira Schneider und Frank Gillette realisierten Anfang 1969 für die Ausstellung »TV as a Creative Medium« in der New Yorker Howard Wise Gallery die TV/Video-Installation »Wipe Cycle«.

[2] Walter Leland Cronkite, Jr. (1916–2009)  war ein amerikanischer Fernsehjournalist und Nachrichtensprecher beim Fernsehsender CBS.

Der erste Teil des Interviews erschien zunächst in »The East Village Other«, Vol. 4, Nr. 35 (30. Juli 1969), der zweite Teil in »EVO«, Vol. 4, Nr. 36 (6. August 1969).

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Redaktion: Beryl Phyllis, Korot Gershuny
Verleger: Michael Shamberg
Mitgründer:  Ira Schneider
Produktion: Phyllis Gershuny, Beryl Korot, Linda Nusser, Ira Schneider, Michael Shamberg