Das Bild in der Gesellschaft
Neue Formen des Bildgebrauchs
Fr, 20.01.2006 – So, 22.01.2006, Symposium

Die bisherige Geschichte des Bildes ist bestimmt durch das Monopol einer Klasse von Experten, die allein die handwerkliche Kompetenz hatten, Bilder herzustellen. Wann immer ein Bild gebraucht wurde, von der Kirche, vom Adel, von der Politik und vom Kommerz, vom Handel und vom Bürgertum, gab es nur eine Klasse von Menschen, die diese Wünsche und Aufträge erfüllen konnte: die Maler. Wegen ihres Monopols wurden diese Experten auch Künstler genannt. Insofern war die Geschichte des Bildes identisch mit der Kunstgeschichte. Das Ende dieser Geschichte des Bildes und das Ende der Kunstgeschichte – beide Geschichten waren selbstverständlich eng verbunden mit der Sozialgeschichte – wurde mit der Erfindung der Fotografie um 1840 eingeläutet. Die Bildmaschinen, die sich aus dem Kontext der Bewegungsmaschinen der industriellen Revolution entwickelten, z.B. Foto und Film, und die Bildübertragungssysteme der postindustriellen Revolution, z.B. Fernsehen und Internet, öffneten das Tor in das Universum des technischen Bildes [V. Flusser]. Mit dem Augenblick, in dem auch Maschinen selbsttätig, das heißt automatisch, Bilder herstellen konnten, begann nicht nur das Monopol der Maler, sondern insgesamt das anthropologische Monopol der Bilderzeugung und Bildverbreitung zu wanken. Die viel beklagte Dehumanisation der Künste [Ortega y Gasset] und die vielen Versuche einer Bildanthropologie [H. Belting] sind Ausdruck des Verlustes des Monopols und der Beginn einer neuen Sozialgeschichte des Bildes.

Das Bild ist aus dem Monopol der Malerei und aus der Kunstgeschichte in andere Felder migriert. Die Bildmaschinen und ihre Peripheriegeräte, die Übertragungs- und Distributionssysteme, die Kommunikations- und Informationsmedien erreichen eine mikro- bzw. makroskopische Reichweite, die weit über das normale menschliche Maß hinausgehen. Die Bilder, welche heute mit Hilfe von Maschinen produziert und übertragen werden, übertreffen das menschliche Auge in jeder Dimension. Wir sehen Mikro- und Makrostrukturen der Materie, wir sehen Ereignisse zu anderen Zeiten in anderen Räumen wie nie zuvor. Mit dem technischen Bild ist der Bildraum enorm expandiert. Durch die Bildmaschinen und -systeme ist es zu einer ubiquitären Explosion der visuellen Kultur gekommen. Bei dieser Expansion des Universums des technischen Bildes nimmt die Bedeutung des künstlerischen Bildes ab und nimmt die Bedeutung anderer Bildformen, Bildgebrauchsweisen, Bildverfahren zu. Die soziale Verwendung des Bildes ist dabei, einen tiefgreifenden Wandel zu durchlaufen. Statt Aufgaben der Repräsentation haben die technischen Bilder einen Zweck, statt dem Status der Autonomie haben die technischen Bilder den Status von Dienstleistungen. Der Triumph des technischen Bildes liegt darin, dass es Dienste anbieten kann, die weit über den historischen Bildgebrauch hinausgehen. Dadurch wird das technische Bild von der Astronomie über den Verkehr bis zur Medizin zu einem sozialen Instrument. Das Bild wird zu einem Teil der Dienstleistungsindustrie, der Dienstleistungsgesellschaft. Das ist gemeint, wenn wir anfangs von einer anderen Sozialgeschichte des Bildes gesprochen haben. Das technische Bild ermöglicht neue soziale Dienste und spielt damit eine radikal andere Rolle in der Gesellschaft als bisher. Gewaltige Nachrichtenagenturen, globale Medienkonglomerate, die mit Fotografien und bewegten Bildern handeln, große wissenschaftliche Gesellschaften und Institutionen, die mit Hilfe von Bildern das Universum oder den Körper, die Materie und Erscheinungen der Strahlen etc. erforschen, sie alle bezeugen einen tiefgreifenden Wandel im sozialen Gebrauch des Bildes und von der Funktion des Bildes in der Gesellschaft.

Das technische Bild hat also nicht nur den Bildraum, sondern auch den Sozialraum erweitert: von der Kontrolle durch apparative Mustererkennung und Mustererzeugung bis zur Simulation von künstlichen, nie geschauten Welten oder von realen gefährlichen Welten, von Operationen mit Bildern bis zur Anwendung von Bildern als Mittel der Erpressung spielt das Bild eine mannigfaltige und einflussreiche Rolle in der Gesellschaft wie nie zuvor. Die Welt ist zum Bild geworden, haben Theoretiker wie Anders, Heidegger, Virilio und Baudrillard bereits früh erkannt. Der Kulturpessimismus der Philosophen hat aber die konstruktiven und positiven Seiten dieser Bildwerdung der Welt nicht erkannt, die soziale Hilfs- und Dienstleistung des Bildes bei der Exploration der Welt, beim Erkennen der Welt. Bourdieu sprach vom »illegitimem Gebrauch der Fotografie«, wenn Fotografie nicht der Kunst dient, sondern dem sozialen Gebrauch. Man könnte fast sagen, das technische Bild ist neben die Zahl und die Sprache als konkurrierender Rivale um das Primat der Erkenntnisgewinnung getreten. Die Präzision der Bilder übertrifft in vielen Fällen die sprachliche Beschreibung, die Verfügbarkeit und Vermittelbarkeit der Bilder übertrifft in vielen Fällen den numerischen Code. Der Preis, den wir dafür bezahlen, der Verlust des anthropomorphen Monopols der Bilderzeugung und Bildverteilung, ist gewiss hoch. Wir sehen die Welt nicht mehr mit eigenen Augen, sondern mit den Augen von Maschinen. Unsere Augen sind gleichsam enteignet. Wir beobachten Maschinen, wie sie beobachten. Wir sind Beobachter zweiter Ordnung geworden. Der Gewinn ist hingegen, dass wir als Beobachter zweiter Ordnung mehr sehen, besser sehen, weiter sehen, als ein Beobachter erster Ordnung. Die apparative Wahrnehmung, die apparative Bildproduktion, die apparative Bilddistribution bilden das Kernstück und Zentrum der neuen Rolle des Bildes in der Gesellschaft. Diese Bilder sind »nicht mehr Zeichen und noch nicht Objekt« [Rheinberger].

Der Triumph des apparativen Bildes liegt in einer zweifachen Leistungsfähigkeit, in einer Art High Fidelity, in einer Wirklichkeitstreue, in einer Wirklichkeitsnähe und -abbildung wie nie zuvor und in der Fähigkeit, die Wirklichkeit zu durchdringen und zu durchschreiten, wie ebenfalls nie zuvor. Das apparative Bild erfüllt also die Ansprüche des Imaginären wie des Realen. Die Hochtechnologie der Bildproduktion und -distribution von Computerspielen über mobile Telefonie bis zur Online-Kommunikation, diese Multiplayer-Medien, welche vom Bildungsauftrag bis zur Sexindustrie, neue Dimensionen erreichen, steigern auf unglaubliche Weise die Wirkung der Bilder in der Gesellschaft. Die Macht der Bilder steigt proportional zu ihrer Dienstleistung. Je mehr Hilfe die Bilder bieten, Hilfe zur Kommunikation, Hilfe zur Erkenntnis, Hilfe zur Information, umso mächtiger werden die Bilder. Diese hochtechnologischen Serviceleistungen der Bilder im alltäglichen Gebrauch führen natürlich zu einer extremen Säkularisierung des Bildes. Das Bild, das millionenfach publiziert wird und in Bruchteilen von Sekunden verschwindet, Bilder, die in riesigen Terabytes gespeichert und abgerufen werden können, Bilder also, die in Raum und Zeit nunmehr flüchtige Gäste sind, flexibel, variabel, veränderbar, dynamisierbar, verlieren selbstverständlich an Aura. Denn Aura baut ja darauf auf, dass ein Bild wie die »Mona Lisa« nur an einem Ort zu einer Zeit und da für immer existiert.

Die Hochtechnologie des Bildes zerstört also paradoxerweise die Hochkultur des Bildes. Das Massenbild dient der Massenkultur. Vor welcher neuen Kultur steht also die Bildkultur? Darauf hat uns die Kunst noch keine Antwort gegeben.
Die Wirkungen dieses Wandels der Funktionen des Bildes in der Gesellschaft und des Gebrauchs des Bildes in der Gesellschaft erfahren wir täglich und wir sind ihnen täglich ausgesetzt. Aber diese Wirkungen sind kaum wissenschaftlich erforscht, weder quantitativ noch qualitativ, weder kulturphilosophisch noch sozialtheoretisch. Das multidisziplinär und interdisziplinär besetzte Symposium soll daher erstmals versuchen, das neue Wirken und den Wandel des Bildes in der Gesellschaft analytisch zu untersuchen. Diese neue Bildwissenschaft geht weit über die Kunstwissenschaft und die Visualisierungen in den Naturwissenschaften hinaus und macht uns bewusst, dass wir schon lange, vielleicht auch unbewusst, Bewohner des Universums des technischen Bildes sind und als solche einen neuen Bildgebrauch pflegen.

Peter Weibel


Das Symposium »Das Bild in der Gesellschaft. Neue Formen des Bildgebrauchs« erfolgt im Anschluss an das Symposium »Das Bild in der Wissenschaft«, das vom 15.–17.04.2004 an der Freien Universität Berlin stattfand, und bildet damit den zweiten Teil einer von der VolkswagenStiftung geförderten Auseinandersetzung mit dem heutigen Bildbegriff.

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Programm

Freitag, 20. Januar 2006

18.00 Uhr
Begrüßung / Welcome
Peter Weibel, ZKM
Wilhelm Krull, VolkswagenStiftung
Dominka Szope, ZKM


18.30 Uhr
Jim Gehrz, Fotograf, Minneapolis [USA]
»Die persönliche Sichtweise: Was zählt, ist der Augenblick«
[Finding my personal vision: It's All About A Moment]

19.15 Uhr
Philip Jones Griffiths, Fotograf, London [UK]

 

Samstag, 21. Januar 2006

Der Bildgebrauch in den Massenmedien

[The Use of Images in the Mass Media]
Moderation: Michael Diers, Hochschule für bildende Künste Hamburg

10.00 Uhr
Michael Diers
Einführung in die Sektion
[Introduction to the section]

10.15 Uhr
Tom Fürstner, Universität Wien
»Geste, Zeit und Metadaten«
[Time, Gesture and Metadata]

10.45 Uhr Kaffepause

11.00 Uhr
Volker Böhnigk, Universität Bonn
»Abbild und Typus. Zum Hintergrund einer nationalsozialistischen Ästhetik«
[Image and Type. On the background to National Socialist aesthetics]

11.30 Uhr
Klaus Neumann-Braun, Universität Basel
»Vorstellungsbilder und Bebilderungspraxis im Kontext von Jugend-Diskursen und jugendlichem Alltag«
[Images and illustrative practice in youth discourse and the everyday life of young people]

12.00 Uhr
Fragen/ Diskussion
[Questions/ Discussion]

12.30 Mittagspause
 

Bildpolitik / Image Policy

Moderation Wilhelm Krull, Generalsekretär der VolkswagenStiftung

13.30 Uhr
Wilhelm Krull
Einführung in die Sektion
[Introduction to the section]

13.45 Uhr
Boris Groys, Staatliche Hochschule für Gestaltung Karlsruhe
»Kuratieren der Bilder«
[Curating Images]

14.15 Uhr
Peter J. Chelkowski, New York University, Department of Middle Eastern Studies
»Die Funktion von Bildern in der iranischen Gesellschaft während der Revolution und des Krieges«
[The Role of Pictures in Iranian Society during the Revolution and War]

15.00 Uhr Kaffepause

15.15 Uhr
Florian Rötzer, Chefredakteur des Online-Magazins Telepolis
»Die Schönheit eines brennenden Autos. Bilder als Waffen«
[The beauty of the burning car. Images as weapons]

15.45 Uhr
Armin Linke, Fotograf und Filmemacher, Mailand
»Transient«

16.15 Uhr
Susanne Regener, The Danish University of Education in Kopenhagen/Dänemark
»Gouvernementale Bilderwanderung. Politische Bildstrategien zur Kriminalisierung von Menschen«
[Government image migration. The use of political image strategies to criminalise people]

16.45 Uhr
Fragen/ Diskussion
[Questions/ Discussion]

 

Sonntag, 22. Januar 2006

An der Front der visuellen Kommunikation

[On the Visual Communication Front]


10.00 Uhr
Einführung in die Sektion
[Introduction to the section]
Rolf Sachsse, Hochschule der Bildenden Künste Saar

10.15 Uhr
Rolf Sachsse, Hochschule der Bildenden Künste Saar
»The Masters Vanish. Zum Verschwinden der Photographie aus Kunst und Design«


10.45 Uhr
Birgit Richard, Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt
»Bild-Battle und Happy Slapping. Strategien der Auflösung des feindlichen Körpers im Bild«

11.15 Uhr Kaffepause

11.30 Uhr
Scott McKiernan, Gründer und Direktor von zReportage, USA
»Einsatz von Bildern in den Medien - aktuelle Trends«
[Trends in media use of pictures]

12.00 Uhr
Thomas Dworzak, Fotograf
»Interactive Essay«

12.30 Uhr
Fragen/ Diskussion
[Questions/ Discussion]

13.00 Uhr Mittagspause

Das neue Paradigma: Bilder zwischen Zeichen und Objekt

[The New Paradigm: Images between Symbol and Object]
Moderation Peter Weibel, Direktor des ZKM

13.45 Uhr
Peter Weibel
Einführung in die Sektion und Vortrag »Kunst und/als Wissenschaft«
[Introduction to the section and lecture »Art and/as Science«]

14.15 Uhr
Hubertus von Amelunxen, Direktor der École européene supérieure de l'Image Angoulême / Poitiers
»Genetikon oder die schöpferische Unfruchtbarkeit des Bildes«
[Geneticon or the Creative Infertility of Images]

14.45 Uhr
Hans-Jörg Rheinberger, Max-Planck- Institut für Wissenschaftsgeschichte Berlin
»Die Evidenz des Präparates«
[The Evidence of the Preparation]

15.15 Uhr
Cornelius Borck, Department of Social Studies of Medicine & Department of Art History and Communication Studies McGill University Montreal
»Das Maschinenbild als Auge des Geistes. Visualisierung in den Neurowissenschaften«
[The Machine Image as the Mind's Eye. Visualization in the Neurosciences]

15.45 Uhr
Fragen/ Diskussion
[Questions/ Discussion]

16.15 Uhr Kaffeepause

16.30 Uhr
Abschlusspodium zum Fazit der Veranstaltung
Mit Peter Weibel [Moderation], Wilhelm Krull, Horst Bredekamp, Hans-Jörg Rheinberger, Florian Rötzer, Dario Gamboni, Scott McKiernan

Organisation / Institution
ZKM
Sponsoren

Volkswagen Stiftung

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