Jean Baudrillard im Gespräch mit Florian Rötzer

Siemens Medienkunstpreis 1995

Schwarzweiße Fotografie: Jean Baudrillard, eine Zigarette rauchend.

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Florian Rötzer:

"Ihnen wurde ein Preis für Medienkunsttheorie verliehen. Verstehen Sie sich überhaupt als Medientheoretiker?"

Jean Baudrillard:

      "Ich weiß nicht recht, ob ich ein Medientheoretiker bin. Der Ursprung meiner Theorie bestand in einer Analyse der Welt der Objekte und wie diese Welt der Alltagsgegenstände sich verändert hat. Das war eine Umschreibung der Revolution in die Revolution der trivialen Dinge. Natürlich war es unumgänglich, dann auch auf die Medien zu stoßen. Kann es überhaupt eine Theorie der Medien geben? Ich weiß nicht, da die Medien gerade eine Welt der Unentscheidbarkeit bilden. Durch sie verflüchtigt sich jede Wahrheit, löst sich jede Spielregel auf. Damit aber verflüchtigt sich auch die Theorie. Wir können deswegen keinen Omega-Standpunkt einnehmen, von dem aus sich eine Wahrheit über die Medien sagen ließe.
 

      Aus meinen Überlegungen heraus bin ich zu dem Schluß gekommen, daß es gleichzeitig zwei einander völlig entgegengesetzte Hypothesen gibt. Auf der einen Seite vernichten die Medien die Möglichkeit der Sinngebung, wodurch alles verändert wird. Das ist die übliche, auch von mir formulierte negative Kritik der Medien als Mittel der Verfremdung und Entfremdung. Auf der anderen Seite könnte durch die Medien vielleicht ein ironisches Spiel der Welt entstehen, wozu ich heute eher neige.
 

      Nicht die politische Macht oder irgendein Subjekt manipuliert durch die Medien die Menschen, sondern sie produzieren eine derart unübersichtliche Welt, durch die alles im physikalischen Sinne einen kritischen Zustand erreicht, woran gerade die Macht und die großen Subjekte der Geschichte zugrundegehen. Man kann zwischen diesen beiden Hyphothesen keine Entscheidung treffen, weil sie beide wahr sind. Und deswegen sind sie gleichzeitig auch weder wahr noch falsch, was gerade die allgemeine Wirkung der Medien ist."

Florian Rötzer:

"Nach der Beschäftigung mit den Veränderungen in der alltäglichen Welt der Dinge haben Sie sich der daraus resultierenden Theorie der Simulation zugewandt, die auf dem Fundament einer Analyse der Medien und des digitalen Codes entstanden ist. Sie haben die Welt der Simulation und des Digitalen als Zerstörung der symbolischen Ordnung dargestellt. Darin impliziert war noch eine Trauer über den Verlust dieser Ordnung, die für Sie die vergangenen Gesellschaften regiert hatte. Wäre für Sie die symbolische Ordnung noch immer ein Maßstab zur Kritik der Simulation?"

Jean Baudrillard:

      "Zu dieser Zeit kreiste auch mein Denken um die Theorie des verlorenen Objekts. Das war die Grundlage. Dazu kam eine gewisse intellektuelle Sehnsucht nach der verlorenen symbolischen Ordnung auch dem primitiven Gesellschaften. Vor diesem Hintergrund ließ sich die Simulation als eine Gegenwelt, als eine verfälschte Welt der Zeichen abheben. Die Simulation kennt die Reversibilität der Zeichen, beispielsweise die von Leben und Tod, nicht mehr, sie vernichtet diese Grundenergie der Zeichen, der Illusion, wie ich heute sagen würde.
 

      Die Welt des symbolischen Austausches war die Welt der Illusion im Sinne der vitalen Illusion bei Nietzsche. Diese Gesellschaften oder unsere früheren Gesellschaften konnten mit dieser Illusion noch umgehen. Für uns ist diese radikale Illusion schwer zu ertragen, wir können mit ihr nichts mehr anfangen. Daher müssen wir eine andere Strategie entwickeln, die die Illusion mit den Zeichen der Simulation bekämpft. Wir ersetzen die radikale Welt der Illusion durch die relative Welt der Simulation. Diese Strategie hat sich mit den Medien radikalisiert.
 

      Für mich ist die Welt der Simulation aber keine Welt der Entfremdung mehr. Es handelt sich dabei eher um eine vielleicht fatale Strategie, aus der Welt des Scheins und der Erscheinung in die Welt der Simulation zu flüchten, in eine künstliche Welt, die möglicherweise virtuell perfekt ist. Heute nimmt die Simulation die Form der Virtualität an, durch die wir versuchen, eine perfekte, mit sich selbst identische Welt zu erfinden. Das ist natürlich das perfekte Verbrechen, das die Spuren hinter sich auszulöschen sucht. Mit der Simulation verschwindet nicht nur die Illusion, sondern auch die Wirklichkeit.
 

      Das Verschwinden der Wirklichkeit ist nicht so ausschlaggebend, wohl aber der Verlust der Illusion, obgleich das Wort Verlust immer so nostalgisch klingt. Es ist einfach so. Wir verfolgen eine andere Strategie, die uns vielleicht schützt. Wir verschwinden einfach in die Welt der Simulation, anstatt in der Welt der Illusion zu erscheinen. Mit den neuen Technologien haben wir vielleicht eine Möglichkeit gefunden, sehr listig zu verschwinden. Vielleicht ist das die kollektive, aber unbewußte Absicht der menschlichen Gattung.
 

      Die Theorie der Simulation, die das Ergebnis einer Analyse unserer Kultur der Neuzeit gewesen ist, konstatierte eine Mutation unserer westlichen Kultur. Ich habe nicht vom Simulakrum in allen Gesellschaften und geschichtlichen Epochen gesprochen. Für mich ist die Dimension dieser Theorie aber jetzt umfassender geworden. Es handelt sich um einen Wettkampf zwischen Illusion und Simulation. Das meine ich jetzt natürlich nicht metaphysisch oder kosmologisch. Aber vielleicht ist eben die Simulation gar kein so radikaler Gegensatz zur Illusion, sondern nur ein großer Umweg, um dann wieder auf die Illusion zu stoßen.
 

      Möglicherweise begegnen sich die Extreme wieder. Mit den avanciertesten Technologien finden wir vielleicht wieder den radikalen Zustand der Illusion. Das ist natürlich unentscheidbar. Wenn ich früher von der symbolischen Ordnung und der Simulation gesprochen habe, so würde heute nicht mehr vom Symbolischen sprechen, weil der Begriff so "müde" geworden ist. Ich mag auch nicht mehr von der Simulation sprechen. Ich bin ihrer überdrüssig geworden, ohne deswegen auf den Begriff der Wirklichkeit zurückkehren zu wollen."

Florian Rötzer:

"Sie haben den Übergang in unsere Welt ja durch viele Konzepte zu beschreiben versucht. Ich habe das, ganz einfach gesagt, immer so verstanden, daß die frühere Welt von Gegensätzen wie gut/ böse, Illusion/ Realität etc. regiert war, während die Simulation oder Virtualität diese Gegensatzpaare, zwischen denen viele Übergänge möglich waren und die miteinander in einem dramatischen Bezug standen, aufheben, wodurch ein schillernder Zustand der Indifferenz eintritt.
 

Sie haben zwar jetzt immer der Simulation die Illusion entgegengesetzt, aber es scheint mir doch so zu sein, daß Sie in Ihren Schriften oft auch als immanenten Gegensatz zur Simulation das Ereignis sahen, das nicht simuliert oder integriert werden kann, das als Erwartung oder auch als Katastrophe aus der geschlossenen, indifferenten Welt der Simulation ausbricht oder in sie einbricht, das etwas Singuläres ist und das auch mit der Verführung verbunden ist."

Jean Baudrillard:

      Das Ereignis ist für mich mit der Verführung und der Illusion verknüpft. Durch die Verführung gewinnt die Welt wieder ein Pathos der Distanz. Der allgemeinen Vermischung der Kategorien stellt sich die Distanz der Dualität, der Alterität, der Verführung entgegen.
 

      Daraus entstehen nicht mehr die alten Gegensätze von gut und böse oder von wahr und falsch. Solange gut und böse entgegengesetzt sind, befindet man sich in der Welt des Guten. Wenn sie sich nicht mehr trennen lassen, dann ist dies die Welt des Bösen, weil dieseVerwechslung das Prinzip des Bösen ist. Das Ergebnis ist die Indifferenz. Die Verführung stellt eine intensive Dualität her, mit der sich das große Spiel wieder über jede Simulation, aber auch über die alten Gegensätze hinaus abspielen kann, wie das Nietzsche bereits vorhergesehen hatte.
 

      Heute allerdings sind wir in der Welt der Simulation nicht über den Gegensatz von gut und böse hinausgekommen, wir haben ihn vielmehr unterschritten. Mit diesem Zustand kann die Herausforderung der Verführung wieder entstehen, durch die die Illusion wieder zum Zuge kommen kann, in der die Dinge und wir selbst nicht mehr identisch sind, in der die Dinge als Erscheinungen und nicht als ontologische Wesen da sind.
 

      Ich meine damit keine subjetive, sondern eine objektive Illusion. Auch in der physischen Welt haben wir nie mit den realen Dingen in der radikalen Präsenz zu tun, sondern die Dinge sind immer in Distanz zu uns. In dieser Distanz ist das Spiel der Verführung möglich. Daran glaube ich nicht als Ideologie, sondern als Tatsache. Wir sehen das auch in der physischen Welt. Die Sterne oder Massen ziehen einander an, weil sie sich in einer Distanz zueinander befinden und nicht kollabieren."
 

Gekürzte Fassung des in "Medienkunstpreis 1995" veröffentlichten Gesprächs zwischen Jean Beaudrillard und Florian Rötzer (Hg. Zentrum für Kunst und Medientechnologie Karlsruhe, 1995)