Menschen sitzen vor eine Bühne, über der eine große Leinwand hängt

12.05.2016

Writers for Freedom – Der weltweite Kampf für freie Meinungsäußerung

Im Rahmen der GLOBALE-Reihe »Writers for Freedom« setzte sich das ZKM | Karlsruhe für verfolgte und inhaftierte SchriftstellerInnen ein.


VON MARTINA HOFMANN

Seit der Verkündung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte im Jahr 1948 verpflichten sich die Vereinten Nationen zur Einhaltung und zum Schutz des Rechts auf freie Meinungsäußerung. In Artikel 19 heißt es: „Jeder hat das Recht auf Meinungsfreiheit und freie Meinungsäußerung; dieses Recht schließt die Freiheit ein, Meinungen ungehindert anzuhängen sowie über Medien jeder Art und ohne Rücksicht auf Grenzen Informationen und Gedankengut zu suchen, zu empfangen und zu verbreiten.“ In Deutschland ist die Freiheit des Wortes zudem in Artikel 5 des Grundgesetzes verankert und gilt als einer der wichtigsten Indikatoren demokratischer Rechtsstaatlichkeit. Dies gibt KünstlerInnen jeglichen Genres die Möglichkeit, sich frei zu äußern, sich kritisch mit der Gesellschaft, in der sie leben, auseinanderzusetzen oder Ungerechtigkeiten anzuprangern, ohne Repressalien befürchten zu müssen.

Freiheit des Wortes eines unserer höchsten Güter

Doch dass uns dieses Recht zugesichert wird, scheint für viele von uns zu einer Selbstverständlichkeit geworden zu sein, die uns allzu leicht vergessen lässt, dass es auch in unserem Land Zeiten gab, in denen die Äußerung der eigenen Meinung oder das geschriebene kritische Wort eine Gefahr für das eigene Leben darstellte. In welch privilegierter Situation wir uns heute befinden und dass die Freiheit des Wortes eines unserer höchsten Güter ist, das es um jeden Preis zu schützen gilt, rückt daher häufig erst dann ins kollektive Bewusstsein, wenn wir es auch hierzulande als bedroht empfinden, wenn etwa deutsche Satiriker aufgrund ihrer Äußerungen über Politiker und Staatsoberhäupter in anderen Ländern in die Kritik geraten.

Dann zeigen sich MedienvertreterInnen und PolitikerInnen aller Couleur bestürzt und besorgt, meist jedoch ohne im selben Moment mit Nachdruck anzuprangern, dass Verletzungen und Einschränkungen der Meinungsfreiheit in Ländern wie der Türkei, der Volksrepublik China, dem Iran, Katar, Kamerun, Aserbaidschan oder Saudi-Arabien leider noch immer an der Tagesordnung sind. Obwohl sich diese Staaten als Mitglieder der Vereinten Nationen der UN-Menschenrechtscharta verpflichtet fühlen sollten, sind Kunst- und Medienschaffende nach wie vor von Zensur, Publikationsverbot, Verfolgung und zum Teil drakonischer Bestrafung bedroht. 

Um der Strategie, KritikerInnen auf diese Weise mundtot zu machen, entschieden entgegenzutreten, ist es unerlässlich, öffentlich auf die in vielen Ländern prekäre Situation hinzuweisen und auf Schicksale von Betroffenen ganz konkret aufmerksam zu machen. Dieser wichtigen Aufgabe widmete sich das ZKM | Karlsruhe von August 2015 bis März 2016 im Rahmen der Veranstaltungsreihe »Writers for Freedom«. In Kooperation mit dem PEN-Zentrum Deutschland und der Literarischen Gesellschaft Karlsruhe wurden einige der derzeit weltweit rund 900 AutorInnen vorgestellt, die aufgrund ihrer literarischen Arbeit bedroht und verfolgt werden, anhaltender Schikane ausgesetzt sind, inhaftiert oder gefoltert werden oder gar um ihr Leben fürchten müssen.

Kontextualisierung – Die GLOBALE

Im Jahr 2000 erklärte ZKM-Vorstand Peter Weibel in einem Interview mit dem Tagesspiegel, KünstlerInnen seien als »kritische Spiegel« anzusehen, Spiegel der technologischen, gesellschaftlichen, aber auch politischen Entwicklungen, und die Aufgabe der Kunst müsse es sein, Türen zu öffnen, wo niemand sie sehe.

Rund fünfzehn Jahre nach diesem Interview startete im Juni 2015 zeitgleich zu den Festivitäten zum 300. Jubiläum der Grundsteinlegung Karlsruhes am ZKM ein Kunstereignis, in dem sich dieser Anspruch an die zeitgenössische Kunst in besonderer Weise widerspiegelte: die GLOBALE.

Über 300 Tage hinweg wurde den BesucherInnen in zahlreichen Ausstellungen und mittels verschiedener Veranstaltungsformate eine globale Perspektive auf gegenwärtige künstlerische und technologische Prozesse sowie politisch und gesellschaftlich relevante Fragen eröffnet. Dass dem hohen Stellenwert der künstlerischen Freiheit gerade im Rahmen eines solchen Kunstereignisses eine entscheidende Rolle zukommt, versteht sich von selbst. Und so hatte das kuratorische Team um Peter Weibel die Verknüpfung von Kunst und Recht bereits früh als einen thematischen Schwerpunkt der GLOBALE definiert. Im Konzeptpapier, das dem Gemeinderat schon im Juni 2012 vorgestellt worden war, hieß es dazu: „Selbstverständlich werden [...] auch juristische, rechtliche und ethische Fragen, wie Schutz der Rechte der Menschen [...], in Teilen der Ausstellungen und begleitenden Symposien behandelt werden.“

Projekte wie »Writers for Freedom« oder die Ausstellung »GLOBAL CONTROL AND CENSORSHIP«, die noch bis Ende Juli 2016 in den Lichthöfen 1 und 2 zu sehen ist, setzten genau an diesem Punkt an und sind darüber hinaus als Weiterführung einer thematischen Linie zu verstehen, die das ZKM – etwa mit Ausstellungen wie »CRTL [Space]. Rhetorik der Überwachung von Bentham bis Big Brother« (2001/2002) oder »Making Things Public. Atmosphären der Demokratie« (2005) – seit Langem beschreitet.

Konkrete Planung – Das Konzept der Lesepatenschaft als roter Faden

Die Planung der Reihe »Writers for Freedom« stellte in vielerlei Hinsicht eine Herausforderung dar. Zum einen galt es, aus einer enorm großen Zahl an Fällen eine Auswahl zu treffen, bei der nicht nur die Aktualität oder Dringlichkeit berücksichtigt, sondern vor allem abgewogen werden musste, ob öffentliche Aufmerksamkeit wirklich sinnvoll ist oder sich für die AutorInnen selbst oder deren Familien sogar negativ auswirken könnte. Hinzu kam, dass längst nicht alle Informationen, die online über einen Fall kursieren, als gesichert gelten können. Eine enge Abstimmung mit den KollegInnen des PEN, die häufig mit den Familien und Rechtsberatern der Betroffenen in Verbindung stehen und über sorgfältig recherchierte Hintergrundinformationen verfügen, war daher unerlässlich.

Ausgehend von der Vielzahl möglicher zugrunde liegender Konstellationen und Tatbestände war nur eines von Beginn an klar: Die Reihe konnte nicht als ein Format konzipiert werden, bei dem sich alle Veranstaltungen nach demselben Prinzip aufbauen ließen. Vielmehr würden die Besonderheiten der einzelnen Fälle maßgeblich den Aufbau und Ablauf der Veranstaltungen bestimmen. Es bedurfte daher einer Konstante, die sich als roter Faden durch das gesamte Projekt ziehen bzw. die verschiedenen Veranstaltungen leitmotivisch verbinden würde.

Diese Konstante fand sich im Konzept der Lesepatenschaft, also in der Idee, SchriftstellerInnen einzuladen, die öffentlich die Stimme für KollegInnen erheben würden, denen die Freiheit des Wortes nicht zuteil wird, bzw. die sich bereit erklärten, stellvertretend aus Werken von AutorInnen zu lesen, deren literarische Stimme ansonsten nicht bei uns ankäme.

Persönliche und literarische Nähe

Eine solche Lesepatenschaft lässt sich grundsätzlich auf zwei verschiedene Weisen anlegen. Entweder man gewinnt AutorInnen als Lesepaten, die von Vornherein eine große persönliche Nähe zu den inhaftierten KollegInnen aufbauen können, etwa weil sie aus dem gleichen Land stammen oder weil ihnen ähnliches widerfahren ist. In diesen Fällen lassen sich nicht nur biografische Parallelen, sondern im Hinblick auf die Werke häufig auch inhaltliche Bezüge herstellen.

Sind diese Gemeinsamkeiten nicht vorhanden, ist eine Lesepatenschaft aber auch im Sinne einer Annäherung auf literarischem Wege denkbar und sinnvoll. Hier geht es dann verstärkt darum, ein Bewusstsein für die unterschiedlichen Umstände des Schreibens bzw. die sich von Land zu Land zum Teil enorm unterscheidende Wirkkraft literarischer Texte zu schaffen.

Wie sie auch angelegt sein mag – ein zentraler Aspekt der Lesepatenschaft ist es, Texte inhaftierter AutorInnen einem breiten Publikum zugänglich zu machen und wenn möglich sogar in einer deutschen Übersetzung zu präsentieren. Doch leider lässt sich dieser Anspruch nicht immer verwirklichen, denn dass eine größere Anzahl von Texten oder gar ganze Buchpublikationen zugänglich sind, bei denen die Autorenschaft wirklich als gesichert gelten kann, ist eher die Ausnahme als die Regel. Nicht selten sind es nur einige wenige kurze Texte, in manchen Fällen sogar nur ein einziges Gedicht, dessen Veröffentlichung einen Autor oder eine Autorin hinter Gittern gebracht hat. In diesen Fällen ist es die Aufgabe der Lesepaten, solchen Schlüsseltexten ergänzend oder kontrastierend eigene literarische Arbeiten an die Seite stellen, sich mit dem Vortrag eigener Texte solidarisch zu zeigen.

Mit einem Rückblick auf die einzelnen Veranstaltungen im ZKM soll noch einmal verdeutlicht werden, wie unterschiedlich sich eine Lesepatenschaft von Fall zu Fall gestalten kann.

Man sitzt auf einer Bühne musiziertz auf eine Klangsschale und singt dabei
Liao Yiwu beim Vortrag seines Gedichts »Für einen zum Tode Verurteilten«
© ZKM | Zentrum für Kunst und Medien, Foto: Fidelis Fuchs

Die Veranstaltungen im Einzelnen

Zum Auftakt der Reihe am 12. August 2015 war der chinesische Schriftsteller und Musiker Liao Yiwu zu Gast in Karlsruhe, der selbst aufgrund der Veröffentlichung seines Gedichtes »Massaker« vier Jahre in China in Haft war, dem aber 2011 die Flucht nach Deutschland gelang und der seitdem in Berlin lebt. Für seine Werke, die in China verboten sind, wurde er in Deutschland bereits mehrfach ausgezeichnet – unter anderem erhielt er 2011 den Geschwister-Scholl-Preis und 2012 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels.

Als Lesepate erhob Liao Yiwu die Stimme für seinen Freund und ehemaligen Mithäftling Li Bifeng und gab in Begleitung seiner Dolmetscherin Yeemei Guo im Gespräch mit Moderator Gerwig Epkes bedrückende Einblicke in die grauenhafte Situation regierungskritischer SchriftstellerInnen in chinesischen Gefängnissen. Anhand ausgewählter Passagen aus seinem Zeugenbericht »Für ein Lied und hundert Lieder«, die in deutscher Sprache von dem Schauspieler Frank Stöckle vorgetragen wurden, führte er den ZuhörerInnen schonungslos vor Augen, wie es ihm selbst in der Haft ergangen ist, wie sehr ihn die Erlebnisse heute noch belasten und warum er es daher als seine unbedingte Pflicht empfindet, sich aus dem Exil heraus unermüdlich für bedrohte und verfolgte KollegInnen einzusetzen.

Und so zeichnete er eindringlich das Schicksal Li Bifengs nach, das nicht nur im Hinblick auf die gemeinsame Zeit im Gefängnis so unlösbar mit seinem eigenen verbunden ist, sondern vor allem aufgrund der Tatsache, dass die Machthaber Chinas Li Bifeng fälschlicherweise vorwarfen, an Liao Yiwus Flucht nach Deutschland beteiligt gewesen zu sein, und ihn daraufhin 2012 erneut zu zwölf Jahren Haft verurteilten.

Nur selten gelingt es, einen Lesepaten zu finden, der so persönliche Einblicke in das Leben und die Arbeit eines inhaftierten Autors zu geben imstande ist. An dieser Stelle daher noch einmal ein herzliches Dankeschön an Liao Yiwu für eine bewegende Veranstaltung, die in Auszügen auch am 29. September 2015 in der Radiosendung SWR2 LiteraturEN zu hören war.

Drei Menschen sitzen auf einer Bühne, während der mittlere von ihnen, ein Mann, spricht
Enoh Meyomesse mit der Dolmetscherin Sabine Seubert und seinem Lesepaten Hans Thill
© ZKM | Zentrum für Kunst und Medien, Foto: Fidelis Fuchs

Am 4. November 2015 konnten wir zu unserer großen Freude den kamerunischen Dichter und Menschenrechtler Enoh Meyomesse zu seinem ersten Deutschlandauftritt in Karlsruhe begrüßen. Im November 2011 im Nachgang zu seiner Kandidatur bei den Präsidentschaftswahlen in Kamerun inhaftiert und Ende 2012 zu sieben Jahren Haft verurteilt, war Meyomesse Mitte April 2015 überraschend aus dem Kondengui Zentralgefängnis in Yaoundé freigekommen und erhält derzeit über das Elsbeth-Wolffheim-Literaturstipendium der Stadt Darmstadt sowie das Writers-in-Exile-Programm des deutschen PEN die Möglichkeit, seine schriftstellerische Tätigkeit in Freiheit fortzusetzen.

Über das Schreiben hinter Gittern

Im Medientheater des ZKM sprach der seit Anfang Oktober 2015 in Darmstadt lebende Dichter mit Moderator Gerwig Epkes über seine Zeit in Haft, über das Schreiben hinter Gittern und über die zentrale Rolle, die das PEN-Zentrum bei seiner Freilassung gespielt hat. So berichtete er, dass sich mit Einsetzen der Bemühungen um ihn seine Haftbedingungen umgehend drastisch verbessert hätten, er nicht mehr gewaltsamen Übergriffen ausgesetzt gewesen sei und ihm sogar neue Richter zugeteilt worden seien, die seinen Fall noch einmal geprüft und ihn schließlich freigesprochen hätten. Die Karlsruher Dolmetscherin Sabine Seubert übersetzte das Gespräch, in dem Meyomesse mehrfach betonte, wie wichtig es ihm sei, sich von Deutschland aus auch weiterhin unermüdlich für sein Land einzusetzen. Es wurde am 24. November 2015 in Auszügen auch im SWR ausgestrahlt.

Begleitet wurde Enoh Meyomesse von dem Lyriker, Übersetzer und Writers-for-Peace-Beauftragten des deutschen PEN, Hans Thill, der einen interessanten Einblick in die verschiedenen Möglichkeiten gab, inhaftierte SchriftstellerInnen zu unterstützen, neben eigenen Texten auch einige von Meyomesses Gedichten in einer deutschen Übersetzung vortrug und der bereits als Lesepate hatte gewonnen werden können, als von einer Freilassung Meyomesses noch nicht die Rede gewesen war. Es lag bei dieser Veranstaltung also die ganz besondere Konstellation vor, neben dem Lesepaten auch den Autor selbst begrüßen zu können, um den es gehen sollte, wodurch sich den ZuhörerInnen das Konzept der Lesepatenschaft in Form eines lebendigen Dialogs und Austauschs offenbarte.

Zwei Männer sitzen auf einer Bühne, ein dritter steht an einem Pult und spricht
Jan Wagner liest Mohammed al-Ajamis Gedicht »Tunesischer Jasmin«
© ZKM | Zentrum für Kunst und Medien, Foto: Fidelis Fuchs

Zur dritten Veranstaltung der Reihe war am 27. Januar 2016 der deutsche Schriftsteller und Übersetzer Jan Wagner als Lesepate für den in Katar inhaftierten, inzwischen aber glücklicherweise freigelassenen Dichter Mohammed al-Ajami zu Gast. In der erneut von SWR2-Literatur-Redakteur Gerwig Epkes moderierten Diskussion erörterte er gemeinsam mit dem PEN-Vizepräsidenten und Writers-in-Prison-Beauftragten Sascha Feuchert die Frage nach der Wirkkraft von Lyrik und verdeutlichte die grundlegend verschiedenen Umstände des Schreibens in Deutschland und Katar. Al-Ajamis Gedicht »Tunesischer Jasmin«, dessen Veröffentlichung 2011 zu seiner Verhaftung geführt hatte und das in einer deutschen Übersetzung von Mahmoud Hassanein und Hans Thill vorliegt, stellte Wagner Auszüge aus seinem Gedichtband »Regentonnenvariationen« gegenüber, der 2015 mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet worden war.

Obwohl über die Hintergründe des Falls sowie die konkreten Haftbedingungen al-Ajamis nur wenige gesicherte Informationen verfügbar waren und außer seinem »Jasmingedicht« keine weiteren Texte vorlagen, näherte sich Jan Wagner dem Schicksal seines etwa gleichaltrigen Kollegen auf bemerkenswert persönliche Weise an. So führte er den Anwesenden vor Augen, dass Mohammed al-Ajami seinen 40. Geburtstag hinter Gittern habe verbringen müssen, weil er Dichter sei, während er selbst seinen Ehrentag als Stipendiat in der Villa Massimo in Rom habe verbringen dürfen, weil er Dichter sei. Angesichts dieses frappierenden Gegensatzes kam Wagner zu dem Schluss, dass selbst wer nicht als explizit politischer Dichter in Erscheinung trete, ein Bewusstsein dafür entwickeln müsse, in welch privilegierter Situation er sich hierzulande befände und wie furchtbar es sei, dass KollegInnen in anderen Ländern nicht dasselbe Privileg zuteil werden könne.

Drei Menschen sitzen auf einer Bühne, eine Frau in der Mitte spricht
Herta Müller im Gespräch mit Sascha Feuchert (links) und Gerwig Epkes (rechts)
© ZKM | Zentrum für Kunst und Medien, Foto: Felix Grünschloß

Zu einem beeindruckenden Abschluss kam die Reihe schließlich am 8. März 2016, dem Weltfrauentag, an dem Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller ins ZKM gekommen war, um vor rund 550 ZuschauerInnen auf das Schicksal der in China seit mehr als fünf Jahren unter strengem Hausarrest stehenden Liu Xia aufmerksam zu machen.

Mit Herta Müller hatte man eine Lesepatin gewinnen können, die sich – wohl auch aufgrund ihrer eigenen Geschichte – seit Langem vehement für die Freiheit des Wortes einsetzt und in ihren Werken immer wieder schonungslos die Schrecken des Totalitarismus beleuchtet. In Rumänien aufgewachsen, erlebte sie in der Diktatur Ceauşescus selbst, was es bedeutet, ständiger Überwachung ausgesetzt zu sein und in einem Land zu leben, in dem die eigene kritische Haltung zur Gefahr werden kann.

Gefangene in den eigenen vier Wänden

Entsprechend feinfühlig gab die Literaturnobelpreisträgerin im Gespräch mit Gerwig Epkes und PEN-Vizepräsident Sascha Feuchert Einblicke in das Leben der chinesischen Künstlerin und Dichterin, deren einziges »Verbrechen«, so Müller, darin bestehe, mit Liu Xiaobo verheiratet zu sein. Seit ihrem Mann im Oktober 2010 der Friedensnobelpreis zugesprochen worden sei, dürfe Liu Xia weder unbeaufsichtigt ihre Wohnung verlassen, noch Besuch empfangen oder telefonieren wann und mit wem sie wolle. Sogar eine freie Arztwahl werde der herzkranken und an schweren Depressionen leidenden Frau verwehrt. Sie sei eine Gefangene in ihren eigenen vier Wänden, permanent überwacht und vollkommen von der Außenwelt abgeschnitten. Diese perfide Art der Bestrafung, so erläuterte Müller eindringlich, sei nur eine der ungeheuerlichen Maßnahmen, die sich die Regierung der Volksrepublik China einfallen lasse, um das Leben der sensibelsten und klügsten Köpfe des Landes zu zerstören.

Als Lesepatin war Herta Müller nicht nur bestens über die Hintergründe dieses konkreten Falls sowie die generellen (kultur-)politischen Entwicklungen in China im Bilde, sondern hatte mit Unterstützung der Dolmetscherin Yeemei Guo in der Vorbereitung auf die Veranstaltung sogar neue deutsche Versionen einiger Gedichte Liu Xias erarbeitet. Mit dieser wunderbaren Geste setzte sie nicht nur ihren bereits mehrere Jahre andauernden Einsatz für die Kollegin fort, sondern trug in ganz besonderer Weise dem bereits erwähnten Bestreben des PEN Rechnung, Texte inhaftierter und bedrohter AutorInnen in deutscher Sprache zugänglich zu machen. Für ihr großartiges Engagement gilt ihr der tief empfundene Dank aller am Projekt Beteiligten.

Resümee und Ausblick

Mit dem Projektes »Writers for Freedom« widmete sich das ZKM einer Thematik, die trotz der enormen Zahl von weltweit offiziell rund 900 Betroffenen (die Dunkelziffer ist vermutlich weitaus höher) in der medialen Berichterstattung leider kaum eine Rolle spielt. Nur selten gelingt es Menschenrechtsorganisationen, Fälle, wie den des saudi-arabischen Bloggers Raif Badawi, in der öffentlichen Debatte zum Thema zu machen.

Umso wichtiger ist es, wenn sich national und international renommierte SchriftstellerInnen öffentlichkeitswirksam für die Freiheit des Wortes einsetzen, in Briefen die Freilassung inhaftierter KollegInnen einfordern oder sich im Rahmen einer Lesepatenschaft solidarisieren. 

Dass die Bereitschaft dazu enorm ist, hat sich während der Konzeption der Reihe deutlich gezeigt. Es bleibt daher zu hoffen, dass sich zukünftig weitere bedeutende Kulturinstitutionen diesem wichtigen Thema annehmen, Lesepatenschaften initiieren und Veranstaltungen wie diese in ihr Programm aufnehmen. Denn eines ist leider sicher: Die Fälle, auf die man öffentlich aufmerksam machen müsste, werden uns angesichts der derzeitigen Entwicklungen in Ländern wie der Türkei oder China nicht ausgehen.

Über die Autorin

Martina Hofmann arbeitet in der Publikationsabteilung des ZKM | Zentrum für Kunst und Medien. Sie war federführend für die Veranstaltung »Writers for Freedom« tätig.

Kategorie: Gesellschaft