Foto einer Multimediaprojektion, ein Bild in Rosa, Schwarz und Türkis mit geometrischen Formen. Darauf der Text: »Jürgen Claus, Expansion of the Art«

20.04.2021

Mr. Expanded Cinema ist gestorben

Gedanken zum Tode von Gene Youngblood

VON JÜRGEN CLAUS

Das one-man-book

Es gibt die »one-man show«, geschlechtergerecht kann man sie mit der »one-woman-show« aktualisieren. Und es gibt das »one-man book«. Proust und die »Suche nach der verlorenen Zeit«. Joyce und »Ulysses«. Und es gibt Gene Youngblood und das »Expanded Cinema«. Gene hat einen Stein ins Medienwasser der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts geworfen. Die Wellen, die der Stein auslöste, sind bis heute weltweit wahrzunehmen. Google-Scholar verzeichnet buchhälterisch die Zitate, in denen Gene beziehungsweise sein Medienweltbestseller im wissenschaftlichen Kontext auftauchen. Der herrschenden Klasse der Digitalkids hat er wenig, hätte er viel zu sagen. Ihre sozialen Medien haben die soziale Spezies der humanen Medien nicht im vordersten Visier. Und Gene Youngblood war ein Exponent einer humanen Aufbruchsgeneration, die im Schatten unter anderem des Planetenarchitekten Richard Buckminster Fuller, kurz Bucky, erwachsen wurde, besser: es verstand, das Erwachsenwerden mit humanem Engagement (ein anderer wäre Herbert Marcuse) zu koppeln.

Foto einer bunten Multimediaprojektion von Jürgen Claus
Multimediaprojektion im Rahmen einer »Expanded Arts« von Jürgen Claus zum Thema »AV-Center«, München 1969

Am 30. Mai 1942 wurde er zum Passagier des Raumschiffes Erde. Dem Raumschiff-Metapher-Erfinder Bucky wurde Genes one-book-Dauerbrenner zum Anlass einer ausführlichen Einleitung, es erhielt durch sein Vorwort den Segen des Exponenten einer neuen Erziehungsrevolution. „Youngloods Expanded Cinema ist der Beginn der neuen Ära des Bildungssystems selbst.“ Ja, Bucky visionierte sogar die »Expanded Cinema Universität« von morgen, so sehr lag es ihm am Herzen, der Jugend (der 1960er-Jahre) Zukunft zuzusprechen. Eine multimediale, planetare Zukunft. Praktische (soll man sagen praktizierende) Utopie ist die Schiene, auf der beide Realitätsvisionen, die von Bucky und die von Gene, parallel laufen. Sagen wir Expanded Cinema, so sagen wir »expanded consciousness«, der Beginn der neuen Ära des Bildungssystems.

„Expanded Cinema bedeutet nicht Computerfilme, Videophosphor, atomares Licht oder sphärische Projektionen.“

Gene ist verblüffend neugierig und deshalb kenntnisreich; als Journalist recherchiert er für den »Los Angeles Herald Examine« des Hearst Imperiums. Dann erscheinen seine Recherchen und Dokumentationen in der »Los Angeles Free Press«, salopp: »Freep«, Auflage der Underground Zeitung: 125 000 Exemplare, Motto: »Every reader is a reporter«, sein Honorar: wöchentliche 80 $. Seine dort und an anderer Stelle publizierten Texte sind das Grundgerüst für »Expanded Cinema«. Gene kommt mit dem Buch im richtigen Moment, heißt: der Boden ist bereitet für ein Resümee. Denn andere hatten bereits das kreiert, definiert und in die Öffentlichkeit gesetzt, was Youngblood popularisierte. (Mit ironischem Understatement hatte er sich vier Hippies als Leser vorgestellt, die Auflage der Erstausgabe verkaufte sich dann doch 50 Tausend Mal in sieben Jahren. 2020 kam schließlich eine Neuauflage bei Fordham University Press heraus.) Ich denke an den Moviedrome-Erfinder Stan VanDerBeek und den Filmexperimentalpionier Jonas Mekas an der anderen Küste des US-amerikanischen Kontinents. Ich denke an das »Expanded Cinema Festival« in der New Yorker Cinemathek, November 1965. »Media Art Matters!« Und Gene argumentiert wie der Marshall McLuhan des erweiternden Films und der Buckminster Fuller der planetaren Kunst:

„Expanded Cinema ist überhaupt kein Film: Wie das Leben ist es ein Prozess des Werdens, der fortwährende historische Drang des Menschen, sein Bewusstsein außerhalb seines Verstandes, vor seinen Augen zu manifestieren. Man kann sich nicht mehr auf eine einzige Disziplin spezialisieren und hoffen, wahrheitsgemäß ein klares Bild seiner Beziehungen zur Umwelt auszudrücken. Das gilt vor allem für das intermediale Netzwerk von Kino und Fernsehen, das mittlerweile als nichts weniger als das Nervensystem der Menschheit fungiert.“

Europäische Kontrapunkte

So sehr Gene in der USA-Kunst & Medien-Szene omnipräsent ist, bleibt er im alten Europa subpräsent. Da gab es allerdings ebenfalls die Kreuzritter der »Expanded Arts« und des »Expanded Cinema«. Im Juni 1967 halte ich im »vollbesetzten Galeriesaal« der Städtischen Kunsthalle Düsseldorf dazu einen Multimediavortrag. (Yvonne Friedrich in der »Rheinischen Post«: „Stehen wir vor einem extremen ‚Klimawandel‘ in der Kunst, deren Grenzen sich mehr und mehr verwischen? Wird das ‚Bild‘ als Kunstträger verlassen zugunsten verschiedener Medien insbesondere aus dem industriellen und elektronischen Bereich?“)

Buchcover: Erstausgabe von »Expanded Cinema«, 1970

Ich bereite mein Buch »Expansion der Kunst« vor, das 1970 zunächst in deutsch bei Rowohlt, dann in Japanisch und in Spanisch erscheint. In Wien schreibt Peter Weibel zeitnah ein Vorwort zu den beiden 1315 Seiten starken, bis heute unübertroffenen Bänden einer »Subgeschichte des Films« von Hans Scheugel und Ernst Schmidt. „blinde passagiere auf einem schiff, dessen steuerung wir übernehmen wollten, um den kurs zu ändern, suchten wir die einordnung in einer tradition, die erst aufgrund der neuen erfahrungen entdeckt wurde, die tradition der subgeschichte.“

Zurück zu Gene Youngblood, in den USA omnipräsent, nicht so in Europa. Ausnahme ist ein Auftritt bei der Linzer ars electronica 1986, genauer in dem Vortragszyklus zu einem orbitalen Zeitalter. Im Juli 1994 bereiten Nora und ich ein weltweites »Solar Art Network« vor und machen bei der Solarkünstlerin Janet Saad-Cook in Santa Fee Station. Eine gute Gelegenheit, Gene dort zu treffen. Er schlägt vor, zum Essen auch Woody Vasulka einzuladen. Santa Fee und New Mexico sind O’Keefe-Land, nicht gerade illustre Sterne am Medien- und Technologiehimmel. Jedenfalls hat es Gene dorthin verschlagen, ausgestattet mit einer Professur am College of Santa Fee, später zur Universität erhoben, im Mai 2018 aufgrund finanzieller Mangelerscheinungen geschlossen. Was soll man von einer Welt (Politik) halten, die auf der einen Seite mit Buckminster Fuller eine Weltuniversität visioniert und auf der anderen sehr irdischen Seite eine lokale Universität in Santa Fee nicht am Leben halten kann? Hier schließen sich Potenzen kurz und der Corona-Mehltau erstickt sie. Gene Youngblood stirbt an Herzbeschwerden am 6. April 2021.

Zur Ars electronica Linz 1986 treffen sich (v.r.): Peter Weibel, Gene Youngblood, Jürgen Claus.
Gene Youngblood (Mitte) mit Peter Weibel (rechts) und Jürgen Claus. Linz 1986
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