Pierre Henry

Geburtsjahr, Ort
1927, Paris, Frankreich
Biografie

Pierre Henry steht mit seinem Schaffen an einer wichtigen Schaltstelle der zeitgenössischen Musik – zwischen der (post)–modernen Entwicklung der sogenannten ‚Ernsten Musik‘ und dem weiten Feld des Forschens mit neuen Instrumenten und Klängen. Seine Ausbildung war ‚klassisch‘: zwischen 1938 und 1944 Studium der Komposition (bei Nadia Boulanger), der Harmonie–Lehre (bei Olivier Messiaen), von Schlagwerk und Piano (bei Félix Passerone) am Pariser Konservatorium (Conservatoire National Supérieur de Musique).

Zwischen 1944 und 1950 arbeitet Henry als Orchester-Musiker, am Klavier und am Schlagzeug. In diese Zeit fallen auch seine Forschungsarbeiten zu einer experimentellen Lauten-Lehre. 1948 komponiert er seine erste Film-Musik, allein mit akustischen Objekten: Voir l’invisible. 1949 gründet Pierre Henry mit dem Ingenieur und Musik–Theoretiker Pierre Schaeffer eine musikalische Forschungsgruppe: Sie entwickeln bis 1958 die ‚musique concrète‘, eine elektro–akustische Musik, die vor allem mit neuen technischen Instrumenten experimentiert.

1958 verlässt Pierre Henry die Groupe de Recherche de Musique Concrète (GRMC) und gründet sein eigenes Studio in Paris, APSOME, das sich als erstes ganz der experimentellen und elektro- akustischen Musik widmet. In den 60er Jahren entwickelt Pierre Henry seine musikalischen Forschungen weiter, schreibt Stücke nur für Mikrofone (1962 »Le Voyage« – »Tibetanisches Totenbuch«) und ‚flirtet‘ mit der Rock–Musik: 1964 entsteht ein viel gesampelter elektronischer Pop–Song (»Psyche Rock«), in den 70ern das Album ‚Ceremony‘ mit der Gruppe Spooky Tooth.

Gleichzeitig komponiert Pierre Henry Stücke für seinen Freund, den Choreographen Maurice Béjart, für Filme – und auch für Werbung. In diese Jahre fällt seine Zusammenarbeit mit Künstlern wie Georges Balanchine, Carolyn Carlson, Merce Cunningham, Alwin Nikolais und Maguy Marin. Mit den Malern Yves klein, Jean Degottex, Georges Mathieu, Nicolas Schöffer und Thierry Vincens entwickelt er musikalisch-visuelle Performances. Seit 1950 hat Pierre Henry auch zahlreiche Filme vertont – zuletzt ein Werk von Dziga Vertov. 

Ab 1982 hat Pierre Henry mit seinem neuen Studio SON / RÉ ungefähr 45 neue Werke erarbeitet – darunter »Histoire naturelle« (1997), »La Tour de Babel« (1999), »Concerto sans orchestre« (2000), »Poussière de soleils« (2001), »Hypermix« (2001), »Dracula« (2002), »Zones d’ombre« (2002) und »Faits divers« (2003).

In den letzten Jahren hat Pierre Henry seine anfänglich für klassisch geschulte Ohren durchaus anarchistisch klingende Musik zu einer Art reflektiven Reise zwischen Klängen und philosophischen Gedanken verfeinert: Er sucht die Synthese zwischen Klang, Geist und Seele – nicht mehr, aber auch nicht weniger. Reine Geräusche (heute häufig in der elektronischen Popmusik) interessieren ihn nicht. Der Mitbegründer der modernen elektronischen Musik stellt heute die Frage nach dem Sinn hinter dem Sound.

[Manfred Heinfeldner, 2003]