Jean Baudrillard im Gespräch mit Boris Groys

Black-and-white photograph: Jean Baudrillard smokes a cigarette

 

Boris Groys:

"Jean Baudrillard, in Ihrem vorletzten Buch "Die Illusion des Endes" geht es sozusagen um die letzten Dinge. Vielleicht wäre es für unser Gespräch hilfreich, wenn Sie Ihre Thesen kurzfassen."
 

Jean Baudrillard:

"Das Problem, um das es mir geht, ist das des Endes. Im allgemeinen hat es mich immer schon interessiert zu sehen, was passiert, wenn Dinge oder Prozesse, Ereignisse oder Menschen über sich selbst, über ihr eigenes Ende hinausgehen. Was passiert jenseits des Endes? Was passiert mit dem Leben? Was heißt das: Überleben? Das Leben zu ändern bedeutet die maximale Utopie, zu überleben die minimale Utopie. Das, womit wir jetzt zu tun haben, ist die Tatsache, daß unsere ganze Kultur durch die Simulation, die Medien usw. hinübergegangen ist in etwas anderes, in einen Raum jenseits des Endes.
 

      Die Dinge haben keinen Ursprung mehr und kein Ende, sie können sich nicht mehr logisch oder dialektisch entwickeln, sondern nur noch chaotisch oder aleatorisch. Sie werden "extrem" im litteralen Sinne - ex terminis: sie sind außerhalb der Grenzen. Vielleicht gibt es dort keine Naturgesetze. Vielleicht gibt es eine neue Spielregel, aber wir kennen sie nicht. Um zum Titel zurückzukommen: "Die Illusion des Endes". Alles ist unter den Schatten der Illusion gestellt. Wir glauben doch an das Ende, wir sind immer noch an das Ende geknüpft und wir möchten diese Illusion bewahren, weil wenn es ein Ende gibt, beweist das, daß die Dinge wirklich passiert sind. Sonst haben sie keine Realität, keine Wirklichkeit, wenn das Ende weg ist.
 

      Unsere Weise, das Ende verflüchtigt zu haben, ist, über dieses Ende hinausgegangen zu sein. Da also wird das Ende endgültig kein Termin mehr; wir sind exterminated - Exterministen. Wir können nurmehr vom Ende träumen. Oder wir können vielleicht, wie Canetti sagte, uns danach sehnen, diesen vanishing point des Endes, eine normale Zeit, einen Ursprung, ein Ende, eine Vergangenheit, eine Zukunft wiederzufinden. Davon können wir träumen. Canetti träumte davon. Er sagte: Wenn wir diesen Punkt nicht wiederfinden, dann sind wir der endlosen Zerstörung unserer selbst ausgeliefert.
 

      Ich für meinen Teil bin nicht so optimistisch. Ich meine, wir können nicht - und wir müssen auch nicht - davon träumen. Wir müssen uns also nicht nur jenseits der Kategorien 'Gut' und 'Böse', oder 'Wahr' und 'Falsch' stellen, sondern auch jenseits von Ursprung und Ende. Das ist eine andere, radikale Situation, die wir noch nicht gut kennen. Aber wir müssen dieser Situation Rechnung tragen. Wir können nicht mehr mit einem wirklichen Ende rechnen, vielleicht nur mit einem virtuellen. Da gibt es eine andere oder gar keine Lösung mehr."
 

Quelle und weitere Informationen: suppose

Auszug aus der anläßlich der »Multimediale 4« in deutscher Sprache geführten Unterhaltung zwischen dem französischen Philosophen Jean Baudrillard und dem russischen Kunsttheoretiker Boris Groys, zwei der markantesten Stimmen im kulturellen Kontext.