Nils Röller: Towards Cuzco 03

View of a house wall and a wall: On there that painting of a green leaf and the word "Coca"
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Lieber K.,

danke für Deine mail, was Du über die mentale Talenge Deutschlands nach der verlorenen WM schreibst, das klingt nicht gut. Meinst Du, dass man vom Rhein bis an die Oder jetzt Scharen streng ausschauender deutscher Mädchen auf den Strassen sehen wird, die dem traurigen King Kahn opfern?

Die Mindmodler aus den Parteizentralen werden ganz schön was zu tun haben, die traurigen deutschen Gemüter für die bei der Bundestagswahl avisierten Prozente zu steuern. Mann, durch das Internet bekomme ich das nur häppchenweise mit. Dir würde ich wünschen, dass Du für einige Zeit Köln verlassen kannst und andere Perspektiven gewinnst, einfach in einer Meerkneipe am Golf von Neapel dich erholst, Malzeug dabei hast, um Deine Gefühle aufzulockern. Wie steht es um Dein Gefühl? Du schreibst über Frauen, die Du siehst, formulierst Meisterstücke der Gedrängtheit zu modisch sinnlichen Reizen, aber über Deine Gefühle erfahre ich wenig. Ist unter deiner Oberfläche alles in ein diskretes Angestelltenblau getüncht? Ich fürchte, dass sich in Deinem Inneren ein emotionaler Atom-BSE-Turm aufhäuft, der dann katastrophisch aus den Wahrnehmungsorganen ausbricht.

Das Attachment habe ich nicht geöffnet, es wäre hier zu teuer geworden, wo nur Mondökonomen leichtfertig Dokumente herunterladen. Jede Minute kostet und das Attachment hatte eine KB-Zahl, die mit Blutsegeln auf mich zukam. Da wäre mein Meerschall verklungen und der Fliehkraftregler, mit dem ich meinen Gedankendampf reguliere, wäre mir um die Ohren geflogen. Ich muss noch sehr auf das Geld achten. Solange die anderen mit dem Equipment nicht da sind, bin ich auf das Internetcafe hier am Plaza Major angewiesen. Allein die Fahrt dorthin kostet ein Vermögen. Dabei muss ich Dir soviel schreiben. Vermutlich wirst Du in den nächsten Tag weitere mails von mir bekommen. Kannst Du soviel verkraften? Hast Du das Geld, um so oft in das Internetcafe zu gehen? Die Gebührenrechnungen werden hier zu einem Gezeitenkalender, nachdem sich mein Zeichenhandel richten muss. Auch wenn ich einen vagen Auftrag in Aussicht habe, so will nicht in den alten Fehler verfallen, und über meine Verhältnisse leben. Apropos Verhältnisse: die Collezioni Donne, die Mädchen, denen Du auf dem Weg zur Zeichensendestation begegnest, schmücken meinen Gedankengarten. Bitte mehr davon...

Seelilien... haben wir einmal darüber gesprochen, wie lyrische Ausdrücke entstehen, mein lieber Kerzenhändler, du ultraarmer Fürst des Werdens? Jeder Zeit dichten zu können, das heisst doch an der See Obst haben oder ein Berlinfloss im Blütenmeer zu steuern. Du schlägst jetzt die Hände über dem Kopf zusammen. Ich habe mir übrigens ein Malskelett zusammengelegt, um meinen Gedanken Gestalt zu verleihen, demnächst mehr.

Cuzco, Cuzco, Cuzco, die Inkanachfahren tragen für die Touristen historische Kostüme mit Kopfbedeckungen, die an Radaranlagen erinnern. Damit nehmen sie Kontakt zu den Vorfahren auf. Ich musste sehr lachen als ich einen Haufen von ihnen vor dem Museo Palacio Municipal gesehen habe. Sie sehen abstrakt und unbeholfen vor den spanischen Fassaden aus. Nun überfällt mich gerade eine merkwürdige Melancholie. Der Traum von der grossen Überschwemmung holt mich wieder ein. Kann es nicht wirklich sein, dass die Polkappen schmelzen und der Wasserspiegel so steigt, dass die Welt überschwemmt wird und nur in den Höhenlagen des Himalayas und der Anden Menschen überleben? Dann wären die Inkas wieder die Herren der Welt. Vorbei die europäische Tradition, keine abendländischen Wenzel und Professoren für die Geschichte Roms. Stattdessen im Himalaya liebliche Menschen, Blüten wiegen im Haar, das sie schmückt, und hier die Nachfahren des Huayna Capac (1493-1527), unter dessen Regentschaft das Reich der Inkas die grösste Ausdehnung hatte. Leider hat die Mittschnitttaste meiner Aufmerksamkeit während der Stadtführung geklemmt. Zu oft war ich deshalb auf der falschen Spur, hörte dem Klang der Sperrmüllinstrumente meiner westlichen Ausbildung zu, anstatt die Worte der Führerin mitzuschneiden. Sie ist übrigens eine Akademikerin, die ihre Familie ernährt, indem sie Touristen mit dem Bus zu historischen Monumenten in Cuzco führt.

... Ich bin die Nacht über in Cuzco geblieben und schreibe Dir nun mit dem letzten Rest meines Akkus während ich Bahn fahre. Was für eine Nacht! Ich war gestern Abend in einer Diskothek und bin einer örtlichen Lorelei auf den Felsen gefahren. Im Morgengrauen musste ich sie, weil sie nach der langen durchtanzten Nacht, nicht mehr mit dem Bus nach Hause kam, ein Taxi zahlen. Ich bin mir ihr hin und zurückgefahren. Purpurseglig war mir nicht zumute. Denn wir hatten zwar Spass, aber an die Feigen ist es nur sprachlich gegangen. Dann allerdings mit einer chirugisch-klinischen Komponente, die dem postkolonialen Rechenkünsten (Adder) eines Statistikers entsprungen ist. Die Lorelei erzählte mir, dass die vorherige Regierung, Zwangssterilisationen durchführen liess. Das ist mehr als ein Gemunkel. Entweder Sterilisation oder keine medizinische Versorgung, so haben sie den eingeborenen Frauen gedroht. Wieviel Eingriffe durchgeführt wurden, das weiss man nicht, die Barometrina der Presse schwankt, je nachdem ob konservative Papisten oder fortschrittliche Populationsrechner das Ruder der Meinung in der Hand haben. Schief gehen kann da viel, besonders in der westlichen Berichterstattung. Allerdings hätte ich nie gedacht, in einer Diskothek, die auf den Grundrissen einer Inkasiedlung gebaut ist, Reggae und Techno zu hören und über Sterilisation zu sprechen. In der Diskothek war eine Videogrossprojektion zu sehen, auf der Jagdszenen aus dem Reich der Tiere gezeigt wurden. Ich habe mich übrigens glücklich vergrüsst. Nun sitzen neben mir zwei Physiker, die abends in der Diskothek waren und nun auch nach Machu Pichu fahren. Einer ist lyrisch interessiert und sagte zu dem Rest Sterne, der morgens über den Bahnanlagen noch hing: Le stelle lucentissime. Er ist sonderbegabt, kann italienisch und mischt mit bei einer Weltkraftkonferenz. Er spricht abgehakt im Scheibenwischertakt. Mit seinem Begleiter diskutierte er über Differentialgleichungen. Vielleicht finde ich heraus, was er damit meint. Ich frage mich, ob ihre Begriffe zu einem besonderen Sprachrhythmus führen, zu einem Stabreimbeat vielleicht. Spätere Generationen werden vielleicht ihre fachwissenschaftliche Rede als Kunst betrachten. Ich bin noch von der Nacht umfangen. Mir geht viel durch den Kopf, mein Kind, meine Frau... sie ist jetzt mit der nettimität, der politischen Cyberkunst beschäftigt und aus Gründen des politischen Engagements sind wir Tausende von Kilometern entfernt. Sie diskutiert vermutlich über die Lage der Gefangenen von Guantánamo mit Netaktivistinnen, während ich mir in den Anden Gedanken über künstlerische Anwendungen der Mobilkommunikation mache. Cedille und die Handynymphen, das wäre ein schöner Titel für eine Kurzgeschichte. Zwei Mädchen mit Prepaidcards lassen sich in einen Park locken. Nein, keine Grausamkeit, kein Splatter, keine Hautfetzen, sondern nur ein zartes Zeichen glitzert in einer Lichtung und wartet darauf, dass es wieder in die Welt des fröhlichen Buchstabentransfers eingegliedert wird.

Ich gebe zu, die letzten Zeilen waren mehr Wunst als Kunst, mehr vom Wollen als vom Können geleitet. Schreib mir bitte ehrlich, ob Dich meine mails nerven, sag mir auch, ob Du überhaupt soviel KB empfangen und bezahlen kannst.

D(ein) S.

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