Nils Röller: Towards Cuzco 45

View of a house wall and a wall: On there that painting of a green leaf and the word "Coca"
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Lieber Kerzenhändler,

wie schon gesagt, wir sind in einen schwarzen Hafen geraten. Über uns tost der Magnetsturm der Automatentheorie, wir wissen nicht einmal, ob die Hafenfindung korrekt war. Tja, meine Worte... Ich arbeite mich an etwas ab, absurd, sich so von der schönen Umgebung und den anderen Akademieteilnehmern abzuschotten. Bald bin ich damit durch und dann kann ich die Atmosphäre hier geniessen. Sag mal, was machen eigentlich Deine Aquarelle?

Dein Schelm

P.S. Noch einmal zur Funktion. Eines ist, dass die Funktionentheorie zur Definition neuer Zahlklassen geführt hat und damit zu einer Debatte, wie „wirklich“ Zahlen sind. Sind sie in der Natur vorhanden, sind sie Produkte des Geistes? Kann man sagen, dass bestimmte Zahlen natürlicher als andere sind, nur weil sie über einen längeren Zeitraum die Entwicklung der Menschen begleitet haben? Diese Fragen haben zu einer Grundlagenkrise in der Mathematik geführt, in der auch darüber gestritten wurde, was Rechnen überhaupt ist. Ist es ein Zeichenspiel, bei dem Zahlmengen nach Schachregeln zueinander in Beziehung gesetzt werden? Diese Frage hat u.a. zum Konzept der Turing-Berechenbarkeit und mittelbar auch zur Automatentheorie von John von Neumann geführt. Flusser verwendet das Wort „Funktion“ im Bewusstsein dieser Krise und überträgt es auf die Kultur so: „Die Nazis lebten in Funktion der Juden und die Juden in Funktion der Nazis. Auschwitz war ein perfekter Apparat, der nach den besten Modellen des Westens hergestellt worden ist und funktionierte“ (NG, S. 13). Er hat sich mit dem mathematischen Funktionsbegriff beschäftigt und überträgt ihn auf die Kultur. Das hat mich heute auf zwei Gedanken gebracht. Erst einmal, dass es eine Aufgabe für die Akademie ist, die Beziehung zwischen Apparaten und dem Zeitbewusstsein so zu klären, dass verantwortliche Entscheidungen möglich sind. Das setzt voraus, dass man wählen kann und nicht blind einem Gesetz folgt. Wer kann den Blick für Wahlmöglichkeiten öffnen und schulen? Die schöpferisch Tätigen, die Zusammenhänge sehen, die andere nicht sehen. Das ist nicht auf die Kunst beschränkt, sondern betrifft Bastler, Musiker, Wissenschaftler gleichermassen. Habe übrigens eine Kölnerin mit dem Namen Rosa Barba kennengelernt. Sie legt verborgene Möglichkeiten von Filmmaschinen frei. Hier ein Hinweis auf Rosas Buch „Off Sites / Sets“ (www.rosabarba.com):

“Eine Zelle im Halbdunkel. Darin surrt ein Projektor, der bewegte Bilder an die Wand wirft: Bald verlangsamt sich sein Lauf, dann beschleunigt er wieder und steht plötzlich still, um sich kurz darauf mit einem Ruck erneut in Bewegung zu setzen. Der willkürliche Rhythmus, die vermeintlichen Macken der Mechanik in Rosa Barbas Installationen mögen Erinnerungen wecken an die Frühzeit des Films. Doch kann im Werk der Kölnerin nicht die Rede sein von technischer Unwägbarkeit. Denn hinter dem Schauspiel steckt ein ausgeklügelter Strichcode, der das Stop-and-go in jedem Detail digital vorbestimmt. Barba nutzt nicht nur, sie bespiegelt das Medium Film und seine Historie, fragt nach Formen der Inszenierung und kreist um die Konstruktion von Wirklichkeit.” (Stefanie Stadel)

Rosa Barba. Off Sites / Sets. Köln. Verlag der Buchhandlung Walther König

Texte von: Laetitia Sadier, Siegfried Zielinski, Ralph McKay, Micah Magee,Iris Kadel, Klaus Sander, José-Carlos Mariátegui, Nils Roeller, Olaf Karnik, Peter Gorschlueter, Carlos Enrique Garza Caballero Gestaltung: Frieda Luczak, icon Kommunikationsdesign, Koeln

Die andere Idee verstehe ich als persönliche Aufforderung, an einem Glossar zu arbeiten, dass mathematische Begriffe zu künstlerischen Arbeitsweisen in Beziehung setzt. Sende Dir noch etwas aus H.’s Datei:

Anzahl, Neugebauer
“Wenn man auch schon aus den eben gestreiften Beispielen erkennen kann, wie sehr ein `Zahlensystem´ historisch bedingt ist, so wird dies erst recht deutlich, wenn man die Zahlbezeichnungen der `Primitiven´ betrachtet. Es zeigt sich da ganz deutlich, wie `anschauungsgebunden´ der Zahlbegriff ursprünglich ist. So gibt es beispielsweise Sprachen, in denen a Gegenstände der einen Art anders bezeichnet werden als a Gegenstände der anderen Art (“Zählklassen”). Man ist hier also noch nicht so weit gelangt, einen allgemeinen Anzahlbegriff aus dem Abzählen verschiedener Mengen zu abstrahieren. Der Ausbildung einer `systematischen´ Zahlbezeichnung, wie der ägyptischen, mit ihren gleichartig wiederholten Einermarken, dann ebenso wiederholten Zehnerzeichen und konsequenter addititver Verknüpfung geht also noch eine `unsystematisch´ verfahrende Stufe voran. Die Erforschung der Primitivenkulturen liefert aber nicht nur Beispiele `unsystematischer´Zahlbezeichnungen, sondern sie führt uns auch noch die Entstehung der `systematischen´Methode vor Augen durch den Übergang zu Kerbmarken, durch das Einschalten der Anzahlen von `Händen, wenn je fünf Eineiten beisammen sind, usw.... Auch der Mathematiker, der sich mit den philosophischen Grundlagen seiner Wissenschaft beschäftigt, darf an diesen Erfahrungstatsachen nicht vorübergehen und sie durch reine Spekulation ersetzen.” Neugebauer, Otto: “Über vorgriechische Mathematik”. In: Hamburger Mathematische Einzelschriften 8. Heft 1929. Leipzig: Teubner, 1929 (Vermutlich auch zitiert als Abhandlungen des Mathematischen Seminars der Universität Hamburg), 3.