Nils Röller: Towards Cuzco 54

View of a house wall and a wall: On there that painting of a green leaf and the word "Coca"
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Unitalienisch (www.tuxamoon.de/text/Kerzenhaendler/Folge_16.html), dieses Wort blockiert mich, es war eines Deiner letzten. Habe das Gefühl, dass ich der Frage nach der sensomotorischen Intelligenz näher komme, wenn ich beobachte, was die Worte mit mir anstellen und welche Beziehung sie zu den beiden Schönen haben. Aber schon das Wort „schön“ setzt mich wieder auf eine andere Spur. Zunächst wird durch die Spur meine Blickrichtung verändert, er möchte nicht bei den schriftlichen Zeichen bleiben. Auf meinem Display habe ich die von Dir empfohlene Webseite mit Fotos (www.richas.de) liegen. Mein Blick fällt auf das Bild einer Frau mit roten langen Haaren, deren rote Spitzen über der weichen Rundung ihres Busens schwanken. Ich sehe, möchte aber eigentlich, bevor ich fortfahre, sie zu beschreiben, das Wort Medienbaron (www.tuxamoon.de/text/Kerzenhaendler/Folge_5.html) setzen, mit dem ich die Lenkung meiner Gedanken, meiner Gefühle, meines Bewusstseins, durch Medientechniken verbinde. Aber dazwischen geraten einige Worte, die Du in Deinem letzten Brief geschrieben hast, ohne mit Ihnen etwas zu verbinden: unitalienisch, Seilabstürze, Brezel Göring (www.tuxamoon.de/text/Kerzenhaendler/Folge_16.html). Ich nehme sie als Knoten, mit denen ich ein Netz knüpfen kann, um die Eindrücke hier zu sammeln. Einem Wort ordne ich die Bemerkung eines Italieners zu einem anderen Italiener zu, der sagt, dass in der Pizzaria Futuro mehr Türken Pizzen bestellen als Italiener, denke mir aber, dass mit dem Wort eine andere Bewertung zum Ausdruck gelangt als eine Unterscheidung von Käufern nach verschiedenen Nationalitäten... das andere setzt eine Diskrepanz zwischen den Namen der Gaststätten hier und luftiger Akrobatik. Warum heisst eine Kneipe hier Kajüte und nicht Trapez? Nur weil der Rhein und damit die Hafenatmosphäre dem Bewusstsein vertrauter sind, als fahrende Artisten und Zirkuszelte... das dritte Wort motiviert eine Suche: Gibt es hier einen Menschen, der einen postheroischen Namen tragen könnte? Brezel Göring, vielleicht der Spitzname eines Junkies, der gerne politische Sendungen im Fernsehen verfolgt. Mir fällt nur der Typ ein, der sich vor zwei Tagen liebevoll und beruhigend über einen schnittigen (dreirädrigen) Kinderwagen beugte und dabei eine Bierflasche und eine Zigarette mit Hand und Mund balancierte...
Möchte dir vom Medienbaron schreiben, nachdem mein Blick auf die Fotografie gefallen ist, die ein rothaariges Mädchen in einer Jeansjacke vor einem weissen Bus zeigt. Auf dem Bus steht in blauer russischer Schrift das Wort Flughafen. Empfinde eine wohltuende Ablenkung durch die Verbindung zwischen Gedanken über das „Schöne“, der Fotografie und dem Titel „Baron“, der aus Zeiten stammt, als technische Medien noch nicht das Vermögen hatten, das sie heute besitzen.

Medienbaron, das klingt auch nach Lügenbaron, nach jemandem, dessen Machtanspruch nicht solide ist. Insofern lockert der Medienbaron die soeben angestellte Verknüpfung zwischen Seelenlenkung, Technik und Schönheit. Seitlich versetzt und etwas näher am Bus steht eine blonde Frau mit einer Baseballkappe, sie lacht. Sie lacht schön und mein Herz beginnt zu hüpfen.
Ich freue mich, dass ich die beiden Frauen auf einem Photo täglich betrachten kann, dass das Photo in meinem Besitz ist. Ich: ein Fotobaron. Verfüge ich damit auch über die Schönheit? Ist Schönheit nicht etwas, das man nie besitzen kann, etwas, dessen man sich vielleicht für einen Augenblick gewahr wird. Man sagt dann, wie jetzt angesichts der schön lachenden Frau, „ja, die ist aber schön“ und schon in diesem Moment - von dem ich noch nicht mit Bestimmtheit sagen kann, ob er gerade dann einsetzt, wenn das Wort „schön“ gesprochen oder geschrieben wird – setzt ein Zweifel ein, nämlich was das eigentlich ist: Schönheit? Besteht Schönheit im Besitz eines schönen Bildes oder im Gefühl, in der Nähe angenehm auf die Sinne wirkender Menschen zu sein oder besteht Schönheit in dem Gewahrwerden einer Ahnung, dass ein gefälliger Zusammenhang zwischen den Erscheinungen und dem eigenen Leben möglich ist. Ortsforscher (www.tuxamoon.de/text/Kerzenhaendler/Folge_16.html), das Wort entspannt mich. Ich denke zunächst an ein Bild von Spitzweg. Es zeigt einen Schmetterlingsjäger. Es war auf einem Buchumschlag abgedruckt, irgendeine Publikation zur Krise der Anthropologie. Dann kommt mir ein weiteres Photo der Website (www.richas.de) in den Sinn. Es zeigt Kleidungsmuster, ein schwarz-weisses Hemd, dann weisse Flammen auf einem anthrazitfarbenen Autositz, dann rote Blüten auf dünnen weissem Stoff. Im Hintergrund des Bildes eine coole Sonnenbrille, im Vordergrund eine Goldkette. Die Materialien prangen und glänzen reinlich und bewusst, zugleich ärmlich. Gezeigt wird das Innere eines Kleinbusses. Der Tarif für den Transfer beträgt 9 Rubel. Die Fotografie hält einen Moment während einer Übergangssituation fest: die Fahrgäste haben sich auf den engen Sitzen niedergelassen, der Fahrer hat ihnen den Kopf zugewandt. Eine Raumzeit wird durch Fotografie fixiert. Sie wird definiert durch die Abgrenzung und Rücksicht, mit der sich die Fahrgäste auf die Fahrt mit der motorisierten Kutsche zu einer verhalten. Kutsche, das schreibe ich jetzt, weil ich ein Klischee ins Spiel bringen möchte. Das möchte ich ins Spiel bringen, um nicht zu romantisch zu klingen. Merkwürdige Sorge... Eine junge Frau hat eine breite Schiebermütze aus Cord über ihre langen blonden Haare gezogen. Ich sehe ihr nach und frage mich, was meinen Blick lenkt. Wird er durch denselben Mechanismus gelenkt, der andere veranlasst ihr unflätige Worte dreist beim Verlassen der U-Bahn hinterher zu rufen. Ist es der Ekel vor diesen Mechanismen, der sie veranlasst, die Mütze tief in das Gesicht zu ziehen, damit sie nicht die Sprüche und Anmache hören, von denen Martina (www.painstation.de) sagt, dass sie krass und verletzend in Kalk zu hören seien... Mechanismen. Ein Foto von Riechers (www.richas.de) zeigt einen gelben Schiffsmotor, der auf einem Messestand diskret inszeniert wird, diskret und mächtig wie ein heiliger Gral der Antriebskraft. Wie sind die Maschinen gebaut, die meine sinnliche Wahrnehmung organisieren?

Der Motor wird von einem Benzingemisch angetrieben, meine Wahrnehmung der Trimbornstrasse durch ein Wortbildgemisch, zum Beispiel sammle ich die Namen der Geschäfte „Atlantiker-Markt“, „Devrim“ oder ich speichere bildliche Eindrücke wie den grünen Käfer mit dem Aachener Nummerschild vor dem Kiosk, den roten Erker in der Ecke Antoniastr., der den Blick weiterlenkt zum weissen Erker, der über der Holzballustrade der S-Bahnstation seine Nase hängen lässt. CAT MARINE POWER, kann es sein, dass Riechers’ Fotografien die Modi meiner sinnlichen Wahrnehmung einstellen? Der gelbe Motor der CAT MARINE POWER in meinem Inneren, er funktioniert, je nach dem welcher Kapitän und welche Reeder mein Bewusstsein wie einfährt.
Das unlebendige Allgemeine im Unterschied zum lebendigen Allgemeinen ist das eine Formulierung, die meine Vermutung stärkt, dass es ein Prinzip, einen Maschinenbauplan, für mein Bewusstsein gibt. Das lebendige Bewusstsein ist dann eine Maschine, die durch Alltagserfahrung und durch Erziehung eingefahren wird. Heute fühle ich mich in meiner Kalker Laufumgebung wohl, vielleicht, weil ich merke, dass ich Elemente, die ich sonst beim Gang zur U-Bahn übersehe, heute mit Gedanken verbinde. Dabei ist mir klar geworden, dass ich anfangs die Reize unterdrückt habe, z.B. das eingestampfte goldene Aluminiumpapier auf dem Bürgersteig als Abfall vernachlässigt habe, während es mich heute an ein 500-LireStück oder ein Ein- oder Zwei-Eurostück erinnert. Könnte jetzt noch mehr schreiben, mit deinen Worten weben ... sie mit Eindrücken, Fotografien und Bildern verknüpfen ... vielleicht setze ich dieses Webstück fort, bis ich alle deine Worte verwendet habe, heute aber nicht mehr...