Nils Röller: Towards Cuzco 01

View of a house wall and a wall: On there that painting of a green leaf and the word "Coca"
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Lieber K.,

nun habe ich endlich Zeit, Dir zu schreiben, und zwar vom schönsten Ort der Erde, den ich bisher gesehen habe. Ich habe mich nicht mehr verabschiedet, tut mir leid. In den letzten Wochen habe ich zuviel Zeit vertrödelt und hatte dann kurz vor dem Abflug Mühe, die Sachen zusammenzusuchen und den Flieger pünktlich zu erreichen. Meine Freundin stand kurz vor dem Zusammenbruch, weil ein Freund von ihr, Simon, plötzlich gestorben war. Ich musste sie und unsere Tochter noch zur Beerdigung nach Düren fahren. Simon war mir der liebste unter ihren Freunden, er war korrekt und hat sie bei ihren Versuchen in den akademischen Institutionen, den Saunahäusern des Kulturbetriebs, wie sie sagt, einen Platz zu finden, unterstützt. Er war einfach immer da, wenn sie mit jemanden sprechen musste, jedenfalls in diesen Dingen, ich bin ja auch noch da (manchmal, wenn ich nicht unterwegs bin).

Naja, ein schlechtes Gewissen habe ich schon manchmal, aber ich versuche, nicht zuviel daran zu denken. Wichtig ist, dass der Stromkasten der Beziehung stimmt, auf die Webgüter ihrer beruflichen Anstrengungen kann ich nicht viel Rücksicht nehmen. Bisher ging es einigermassen... Jetzt ist sie selbst mit dem Kind im ehemaligen Jugoslawien, um programmatisch an den Geist von Ljubljana zu erinnern. Dahinter steckt ihr Engagement für den Cyberfeminismus. Habe ich Dir schon erzählt, was sie so treibt? Aber eigentlich wollte ich Dir etwas ganz anderes schreiben.

In Lima war ich nur kurz und bin auf Anraten meiner Gastgeber vorausgefahren. Auf der Fahrt zum Flughafen war es noch dunkel. Diese Nacht grant Glas Stimmung fiel mir ein, aber das passt nicht. Aus dem Pazifikblau des Himmels bricht wie die Blüte einer Kaktee der Morgen hervor und kurz danach spannt der falbe Staub zur Sonne. Lima liegt an den Hängen einer karstigen Hügelkette, deren Sand sich ständig auf die Stadt niederlegt. sobald der Tau der Nacht verdunstet ist, ist alles schon wieder von einer rotschmutzigen Wüstenschicht bedeckt.Nun schreibe ich Dir schon aus Machu Pichu und lasse, während ich schreibe, auch gedanklich alles hinter mir (Die Höhenluft und der Coca-Tee wirken wunder). Zartwilde Gegend hier: man fährt mit einer alten englischen Bahn. Kurz nach Verlassen des Bahnhofs in Cuzco knallt es unglaublich. Man wird aus dem Sitz geworfen und fragt sich, ob der Lokführer so atemberaubend töricht gefahren ist, dass die Lok aus den Gleisen springt.

Das wiederholt sich bei jeder Weiche und man gewöhnt sich an die rüde Rhythmik. Eine betuliche Fahrt wird es erst nach der Überwindung des ersten Berges. Dann geht es durch eine blassgrüne verstaubte Ebene, die am Rande von blauen Gletschern begrenzt ist. Später ungefähr auf der Hälfte der Strecke stellt das uniformierte Bordpersonal Fernseher an: andinische Speakerines werben für Videokassetten, in denen die Kultur der Inkas vorgestellt wird. Erst später denke ich über dieses temporäre Hybrid nach: man fährt in einem mechanischen Zug aus den zwanziger Jahren durch eine Kulturlandschaft, die seit zweitausend Jahren besiedelt wird, sieht auf Fernsehern, die in einem asiatischen Tigerstaat hergestellt werden, Werbung für ein Videoband, auf dem südamerikanische Mischlinge sich nordamerikanisch televisuell bewegen. Mechanik, Elektronik, fehlt nur noch die Genetik. Mich hat es gereizt, darüber zu schreiben, aber mich schreckt das verwertende journalistische Denken ab, von dem der Zeichenfischer gesprochen hat. Du weißt noch? Als er uns erklärt hat, was ein Pauschalist ist?
Ausserdem sass mir noch ein gehässiges Wort im Ohr, das einer der Mitpassagiere an Bord des Flugzeugs verwendet hatte. Er nannte eine Mitreisende „Strandnutte“ und ich frage mich, ob es nicht Aufgabe von Journalisten wie dem Zeichenfischer sein könnte, Wortschäden zu beheben und in ihren Artikeln darauf hin zu arbeiten, dass man nicht primitiv Worte zusammensetzt, um abfällig über andere zu sprechen.

Später während des letzten Viertels der Strecke fährt man dann durch einen fahl dunklen Dschungel und gerät dann, nachdem man einen Hubschrauberlandeplatz in der Nähe eines Luxushotels passiert hat, in ein Zeltdorf am Ende der Eisenbahnlinie: railroadsend, vermutlich keine Internetverbindungen. Nirgendwo eine Reklame. Also kann man wenigsten hier problemlos die selbst gestellten Richtlinien einhalten und nicht im Netz arbeiten, recherchieren und kaufen (ein ebay-Verbot kann man hier in der Zeltstadt locker einhalten). Mit Bussen geht es dann hinauf. Dreitausend Meter bestimmt, in eine strahlend kräftige dunkelgrüne Berglandschaft. Ich habe hier in der Nähe durch Empfehlung eine Bleibe gefunden und unglaublich geschlafen, geschlafen, geschlafen. Geträumt habe ich eine Fortsetzung von „waterworld“. Allerdings war mein mentaler Film ruckelig und knarrend. Entschuldige bitte diese unausgewogene Wortwahl, aber Du merkst, dass ich auf der Suche bin und vielleicht komme ich hier meinem Ziel näher. Ich will Verbindungen zwischen den Erbresten, die die Sprache von Stahl, Fortschritt und Weltkrieg hinterlassen hat, zu beweglicheren Formen suchen. In diesem Erdstrich zwischen den Heiligtümern der Inkas, fern von der europäischen Pastoralmacht, kurz vor Schneegrenze, doch mitten im Grün, das die Inkas hier religiös verehrten (Notdurft war für sie eine Angelegenheit des Gottesdienst, Chance mit den Kräften der Natur in Kontakt zu treten, aber ist das nicht schon verkehrt gedacht in der Logik von menschlichen Interviewer und den divine interviewé?). Höre hier einen Schwarm unterschiedlicher Sprachen, das lockert auf, weckt das Gefühl für die eigene Beschränktheit durch unser Zentralmedium, die indogermanischen Sprachen. Fiese Gedankensätze, die im Gehirn unbemerkt lagern und dann aufplatzen und den Gedankenhaushalt verkleckern, so stelle ich mir gerade die Wirkung der europäischen Begriffe vor, die wie ganze Schiffsladungen mit Hülsenfrüchten (habe heute gelesen, dass die Amis so etwas den Afghanen gegen die Hungersnot im Winter schicken) ungefragt eintreffen und auch noch das mentale Habitat der Hiesigen schädigen. Andere Formen der Kommunikation wären denkbar, die Weltsprache als gemeinsamer Flickenteppich, an den jeder einen Fetzen heftet, mit dem Ziel, dass jedes Bewusstsein mit ihm fliegen darf oder sich mit ihm gegen die Unbilden der Witterung schützen darf, jeder ist verwirkt mit ihr im Tibetteppich. Ach ja, Witterung, wegen des Traums von der Überflutung bin ich darauf gekommen.

Du kennst doch den Film von der überfluteten Erde, in dem sich die wenigen Menschen auf fragile selbstgebaute Flossinseln retten? Einer entdeckt Land, eine heile Bergwelt. Ich habe geträumt, so ein Überlebender zu sein, gemeinsam mit den Inkas bauen meine Begleiter und ich ein Floss, mit dem wir durch die überflutete Welt schiffen. Die Nachfahren der Inkas haben Erfahrungen mit alternativen Lebensformen auf dem Wasser. Es soll auf dem Titicata-See schwimmende Dörfer geben, die aus Stroh geflochten sind. Für die Andinos ist eine überschwemmte Erde vermutlich nichts Beunruhigends, sondern nur ein grösserer Seeunfall, eine Erweiterung ihres Lebensraums. Halt, da denke ich ungenau. Wie erhalten sie denn das Heu für ihre schwimmenden Dörfer, wenn alles überschwemmt ist?

Erinnerst Du Dich an das Schiff in Waterworld, mit dem der Fischmensch über den Ozean segelt? Es war technisch ausgefeilt, hatte eine Tauchvorrichtung, mit der man sich zu den überschwemmten Städten auf dem Meeresgrund abseilen konnte, um dort nach brauchbaren Zivilisationsresten zu suchen. Wie lange hält sich halbweiche Schalentechnik im Salzwasser? Vermutlich ist er resistent, der Plastikschrott, entstanden im Schatten junger Mädchenblüte der dritten industriellen Revolution, er wird länger seine Form behalten als die Stahlprodukte der verwelkten Mütter der zweiten Revolution. Plastikstoffe, die wir heute wegwerfen, können für die Noahs nach der kommenden Sintflut lebenswichtig werden. Habe mir überlegt, dass die Kunststoffsouvenirs aus den Türkenoperläden in den Vorstädten nach der Überflutung auf den Weltmeeren treiben: rosarote Flamingos und grüne Elefanten, Plastiktürmatten mit arabischen Lettern geraten in die Schiffsschrauben der Arche Noah... Eine Arche Noah, ein verrotteter Öltanker mit Denis Hopper als seemänischer Napolione kommt in dem Film auch vor, deswegen denke ich an Schrauben. Erinnerst Du Dich, ob die Überlebenden der Waterworld Bücher haben? Ich weiss es nicht mehr genau. Wäre für mich wichtig. Du kennst doch die Behauptung, dass die Buchkultur unsere Gedanken so lenkt, dass wir ständig mit dem Ende rechnen? Bücher und Texte treiben die Spezialisierung voran und schärfen die Differenz zwischen Alltag und Phantasie.

Wer liest, möchte immer ein anderer sein. Diese pessimistische Sicht auf die Buchkultur hat ihre Tücken. Man schreibt Bücher über das Ende der Buchkultur, befruchtet sich selbst mit dem Gedanken an sein eigenes Ende. Geistige Onanie kann man das nennen, Herstellung von philosophischem Fusel, Eierlikör. Bücher können doch Schiffe sein, so wie das Multi-Tasking-Schiff des Fischmenschen aus Waterworld. Jetzt fällt es mir übrigens ein: Kevin Costner spielt den Fischmenschen. Bücher und Texte sind Fortbewegungsmittel und Wohnhäuser, die über die Bewusstseinsseinsmeere der Kulturen driften. An ihren Steuerrädern sitzen Figuren wie der letzte grosse Inka, Parcival, Kapitän Ahab und Mohammed. Jetzt geht gerade etwas mit mir durch, ich sollte diese mail vielleicht gar nicht abschicken, denn nach solch einem Gematsche mit Bildungsstücken, die auf bröckeligen mediengeschichtlichen Schnitten serviert werden, kann ich mich bei Dir vielleicht nicht mehr blicken lassen?

Ich bin in Lima übrigens auf eine neue Geldquelle gestossen. Es geht darum, für die spanische Telefonica, die hier die Netze besitzt, einen Zukunftstest machen... Wie das genau gehen soll, das ist alles noch unklar, mir ist auch nicht wohl dabei. Merke aber, dass die Perspektive auf einen künftigen Verdienst mich lockt. Ich sitze nun mit meinem Laptop in den Anden, geniesse die Sonne und lasse die Worte durch die Finger gleiten. Mir fällt ein, dass ich gestern in der Zeitung gelesen habe, dass wieder ein Gletscher in der Antarktis gekalbt ist. Er war so gross wie der Bodensee. Südseeinseln werden überschwemmt. Das wird der Tagesrest sein, der in den Traum geraten ist...

(Wieder im Hotel)Ich habe einem Fremdenführer zugehört. Er hat von den Gedächtnisstricken der Inkas erzählt. Sie haben ihr Riesenreich beherrscht, indem sie Boten mit Knotenstricken über die Pässe laufen liessen. Es gab keine Schrift in unserem Sinn. Das Gefühl für Raum und Zeit muss völlig anders gewesen sein. Wie lässt sich diese Andersartigkeit erschliessen? Der erste Schritt ist wohl, dass man lernt, von der eigenen Verfassung abzusehen. Beim Abstieg ist mir durch den Kopf gegangen, was der Computer mit uns anrichtet. Im Computer sind die Befehle und die Objekte über die man befiehlt in derselben Sprache abgefasst. Das ist so als wären die Worte über die Worte dieselben wie die Worte über Gegenstände. Ich frage mich, welche Folgen das hat. Und dann fällt mir noch ein, dass bei Übersetzungen sich der Sinn eines Textes oder eines Vertrags ändert, wenn man zum Beispiel ein Wort wie das französische „fonction“ nicht mit Beruf, Aufgabe, sondern mit Funktion, Abbildung übersetzt. Was geschieht bei der Übersetzung von der Inka-Sprache in europäische? Was geschieht bei der Übersetzung einer mündlichen Erzählung in einen Text oder bei der Reduktion meiner Gedanken in einer mail an Dich? Ich will versuchen, die mail von der Rezeption des Hotels abzuschicken. Sonst schreibe ich dir noch den ganzen Tag über von der Waterworld, dem Restwasserstreitgebettel auf den letzten Inseln der Menschen, und verliere meine eigentliche Absicht aus dem Sinn. Aber der Traum heute nacht nimmt mich sehr gefangen und schwingt mit der Pfauenfeder einer veränderten Sicht auf die Welt um meine Vorstellungskraft, die eminenza di mente. Hast Du noch das Buch mit italienischer Lyrik von mir? Ich würde jetzt gerne italienisch lesen, vielleicht sogar Petraca. Er soll ein neues Zeitalter eingeleitet haben, weil er einen hohen Berg (war es der Mont Blanc?) bestiegen hat und als erster den Blick aus der Höhe auf die unter ihm liegenden Kulturlandschaft thematisiert haben. Ich habe meine Schwierigkeit mit diesen Geburtscheinen geistiger Dinge, aber ich würde gerne wissen, wie sein Verhältnis zur Zeit ist. Ist sein Gedicht prophetisch, zielt es auf Veränderungen und auf Erlösung ab oder schafft es einen gedanklichen Freiraum, eine Unabhängigkeit von linearen Vorstellungen? Vielleicht könnten wir hier eine Akademie einrichten, in der die Ökonomie der Zwischenräume gelehrt wird, die Nutzung von Zeitraumnischen. Ich würde gerne mehr für die Allgemeinheit tun, zur Not sogar als Sexöek für Tageszeitungen, damit meine ich als philosophischer Life Styler, der ökologische Gedanken mit physischer Wellness verbindet. Ich würde dann auf einem Zwillingstiger zwischen Auflagenhöhe und Weltverbesserung reiten. Man muss einfach etwas wagen und nicht schon vorher aus Furcht vor dem Verlust des Herzensantheils klein beigeben und an seinen eigenen Leisten kleben bleiben. Einen Granatapfel reitet man so nicht nach Hause. Jetzt höre ich aber auf, setze mich ohne weiteren Handlungsansatz unter das Sonnensegel auf der Terrasse des Hotels und ende einfach so meldunleize...

Einfacher gesagt als getan, im Hotel habe ich keinen Anschluss bekommen, konnte auch nicht meine Diskette vom Hotelcomputer lesen. Die Nachricht wird erst an Dich abgehen können, wenn ich wieder in Cuzco bin. Dort habe ich Internetcafes gesehen. Einer dieser Medienarbeitsplätze gegenüber dem Dom hiess CyberMama Africa. Die Leute hier nutzen die Ecafes intensiv, das ist kein Indiz für ein digitales Weltbürgertum, sondern Indiz für eine Rückkehr in die koloniale Tiefenzeit. Denn seitdem die Telefonica die Netze übernommen hat, sind die Tarife für interurbane Telefonate so hoch geworden, dass sich keiner die Gebühren mehr leisten kann. Sie gehen in die Cybercafes, um sich zwischen Cuzco und Lima auszutauschen. Es ist ein Beweis für Vielheitstauglichkeit der sprachbasierten Kommunikation. Unter dem finanziellen Druck leiten die ärmeren Mittelständler ihren Ausdruck vom mündlichen Kanal um in den schriftlichen. Der globale Kampf um die Vorherrschaft in den globalen Netzen wird hier zu einer Talentprobe für den Medienwechsel vom oralen zum schriftlichen. Die Telefonica macht sich stark für das kulturelle Erbe. Aber auch das ist peinlich, ich schäme mich, dass ich ein Europäer bin. Die Telefonica finanziert hier die Renovierung der spanischen Kathedrale, die auf Grundrissen eines zerstörten Palastes der letzten Inkafürsten steht. Im Unterschied zu den Inka-Architekturen, die vor Erdbeben sicher war, hat die Kathedrale Risse, die durch seismische Bewegungen entstanden sind. Sie zerstören etwas gut Gefügtes, bauen nach unsicheren architektonischen Regeln eine Kathedrale, die nach wenigen Jahrhunderten zu verfallen droht und finanzieren die Renovierung mit dem Verdienst durch die Erhöhung der Telefongebühren. In der Kathedrale ist übrigens ein Gemälde zu sehen, in dem beim Abendmahl ein Meerschweinchen serviert wird. Doch genug der Hühnchenrupferei mit der kolonialen Situation. Ich möchte nach vorne denken und mich nicht in die Schamgebüsche schlagen. Ein bisschen werde ich hier noch bleiben, bevor ich zurück nach Cuzco fahre und Dir aus dem Internetcafe CyberMama Africa diese Mail sende.
Soweit...

Dein S.