Abstracts
Aby Warburg. Mnemosyne Bilderatlas – Kolloquium
Matthias Bruhn | Thomas Hensel |
Philippe-Alain Michaud | Werner Rappl |
Joacim Sprung | Giovanna Targia |
Caudia WedepohlSystem und Systematik. Die Anfänge von Warburgs Atlas-Projekt |
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Matthias Bruhn: Schlagmuster
Warburgs Projekt zu Gestenkunde und Gedächtniskultur, das aus heutiger Sicht aus dem Rahmen traditioneller Kunstgeschichte zu fallen scheint, stand seiner eigenen Auffassung nach völlig im Einklang mit den kunstwissenschaftlichen Forschungen der Zeit, insbesondere zur Stilkritik und Evolution von Form. Auch die Einbeziehung der psychologischen und anthropologisch-religionswissenschaftlichen Ansätze, die im Mnemosyne-Atlas um genealogische und kartografische Darstellungsmodi und Überlegungen erweitert wurden, fügen sich in das Bild. Aus dem Abstand mehrere Jahrzehnte bleiben Fragestellung und Aufbau des Atlas, wie die aktuelle Ausstellung zu zeigen vermag, an einigen Stellen dennoch rätselhaft und experimentell. Ein Schlüssel zu diesen könnte in einem weiteren Theorem zu suchen sein, das die Kunstwissenschaft um 1900 maßgeblich angeleitet und Warburg vor allem während seiner letzten Italienreise umgetrieben hatte.
Thomas Hensel: „Laboratorium“ und „zentrale Apparatur“ oder wie aus einem Ingenieurgestelltisch Warburgs Bilderatlas wurde
Die jüngere Warburg-Forschung hat plausibel machen können, dass sich Aby Warburgs Historiographie in Wechselwirkung mit technischen Medien formiert hat. So wurde Warburgs ›Denken in Bildern‹ in seiner Struktur unter anderem durch Bildgebungs- und -übertragungsverfahren wie die Kinematographie modelliert, und die Materialität dieser Medien reicht tief in Warburgs historiographische und epistemologische Entwürfe hinein. Auf dieser Folie sucht der Vortrag die Genese von Warburgs Hauptwerk, seines Bilderatlas, zu beleuchten. Gestützt auf Archivfunde ist die Vermutung, dass sich Warburgs Bilderatlas MNEMOSYNE einem speziellen Schreibtisch verdankt, den Warburg in epistemologischer Hinsicht als äußerst wertvoll erachtete. Der Vortrag unternimmt eine Rekonstruktion dieses Schreibtischs samt seiner Bedeutung für Warburg.
Philippe-Alain Michaud: »Mnemosyne«. Möglichkeiten zur Dynamisierung der Bilder
Bei Mnemosyne experimentierte Warburg mit Möglichkeiten zur Dynamisierung der Bilder: Indem er die Techniken von Montage und Projektion sowie die Metapher der Elektrizität nutzte, um die Darstellungen aus seinem Atlas in Bewegung zu bringen, stellte er sich diese als kinematografische Maschine ohne Apparatur vor. Einem entscheidenden Aspekt der Genese von Mnemosyne wurde häufig zu wenig Beachtung geschenkt: Es handelt sich dabei um die Reise, die Warburg 1895–1896 zu den Hopi-Indianern in Arizona unternahm. Im Rahmen der Ausarbeitung einer Art theoretischer Fiktion erwartete er das Wiederaufleben der florentinischen Renaissance in den indianischen Ritualen. Dies ist eine der möglichen Bedeutungen des Erlebnisses (Überlebens), einem Schlüsselkonzept in der Theorie Warburgs: Die Repräsentation wird nicht mehr als Konzept oder als Form des Wissens gedacht, sondern als Spektakel, nicht als Vorstellung, sondern als Darstellung – ein Wechsel, der seitdem Gegenstand einer wahrhaften Verdrängung seitens seiner Anhänger war, und der erklärt, weshalb die Warburg-Studien einen echten Wandel in der Kunstgeschichte bewirkt haben und weiterhin einen derartigen Einfluss auf das Gebiet der Medienwissenschaften ausüben.
Werner Rappl: Bildstörung. Warburg, der Unbequeme
Der liebe Gott steckt im Detail - oder war es doch der Teufel? Den bedrohlichen Machtansprüchen der Bilder setzen Warburgs Analysen der Entstehungsgeschichte, Filiationen und Korruptionen Depotenzierungsstrategien entgegen. Er legt Migrationshintergründe bloß, entdeckt Eindringlinge und erprobt Neuaufstellungen.
Sternbilder, Landkarten, Stammbäume: Momentaufnahmen ständig im Fluss befindlicher Verschiebungen ohne Ursprung. Migrationen bedingen Grenzüberschreitungen. Aby Warburg folgte den Spuren der Analogien und Entwicklungsstränge an vielen Orten, wie den USA, Italien oder dem Orient, auch seine historischen Erkundungen führten in entfernte Zeiten und Kulturen und über die Grenzen der Wissenschaftsdisziplinen hinaus. Dabei bediente er sich nicht nur neuer Methoden, sondern erschloss auch neue Quellen. Die Risiken dieser Grenzüberschreitungen erfuhr Aby Warburg dabei auch am eigenen Leib.
In den zahlreichen Versionen des Atlasprojekts haben sie ihren Niederschlag gefunden. Die Entstehungsgeschichte zeugt ebenso davon wie die Rekonstruktionsansätze nach Warburgs Tod, deren bezeichnende Entstellungen und Aneignungen an ausgewählten Beispielen gezeigt werden.
Joacim Sprung: Magie des Rahmens: Die Verwendung visueller Darstellungen in der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg und ihr Erbe
Von 1913 bis 1929 arbeiteten der deutsche Kunsthistoriker Aby Warburg (1866–1929) und seine Mitarbeiter an der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg (KBW) in Hamburg mit einer Reihe visueller Darstellungen, um einen Überblick über die Nachwirkung der Antike zu geben. Von dieser Arbeit existieren nur noch einige Fotografien, die zeigen, wie das reproduzierte Material an über Holzrahmen gespanntem Sackleinen befestigt wurde.
Die Rahmen verliehen dem historischen Material nicht nur Struktur, um stilistische und typologische Vergleiche zu vereinfachen, sondern trugen auch dazu bei, das visuelle Angebot einer „Geschichtsraumkonstruktion“ zu schaffen. Gleichzeitig schafften die Rahmen in Warburgs Worten „Luft für die Emanzipation der Motive!“ von der Geschichte und der Geschichtsschreibung. Die Rahmen und die visuellen Darstellungen wurden daher nahezu als „Anschauungsapparat“ oder als magischer Rahmen gesehen, der die nomadischen visuellen Darstellungen, die zwischen bzw. in kulturellen Systemen zirkulierten, einfing und umlagerte. Ein Mittel also zur Anordnung, Neuordnung sowie Herauslösung der visuellen Ideen und Artefakte der Vergangenheit sowie ein Fenster zu zukünftigen Bildlandschaften und Bildverwendungen.
Beim Kolloquium am ZKM in Karlsruhe werde ich darüber sprechen, wie die Rahmen von Warburg/Saxl und anderen „Warburg-Jüngern“ (z. B. Kramrish, Clark, Quiviger usw.) als visuelle Mittel zur Einrahmung verwendet wurden und wie diese Bildverwendung ihren Widerhall in der zeitgenössischen künstlerischen Praxis, beispielsweise in den visuellen Werken von Elsebeth Jørgensen, Henrik Olesen und anderen, finden kann.
Giovanna Targia: Eine "organisch geglückte Umformung des Erbes der Antike". Aby Warburg und Fritz Saxl gegen die Nationalisierung der Kunst Rembrandts
Als Aby Warburg am 29. Mai 1926 seinen Vortrag über Die italienische Antike im Zeitalter Rembrandts hielt, dessen Bildmaterial auf den Tafeln 70-76 des Bilderatlas Mnemosyne zu sehen ist, hatte die moderne Rembrandt-Rezeption einen Höhepunkt erreicht, unter Künstlern ebenso wie in der kunsthistorischen Forschung. Die Diskussion um die Besonderheit der Kunst Rembrandts gehört zu einer historischen Situation, in der die Definition »nationaler Stile« breitere Kreise beschäftigt und eine zunehmende Ideologisierung des kunsthistorischen Diskurses stattfindet.
Warburgs Interpretation profitierte von Fritz Saxls Forschungen, der dem holländischen Meister schon seine Wiener Dissertation gewidmet hatte. Mein Vortrag entwickelt eine kritische und vergleichende Lektüre der Texte von Warburgs und Saxl, um zu klären, was Warburg an Rembrandt faszinierte. Auf dieser Grundlage lassen sich die entscheidenden Fragen formulieren, die von der Rembrandt-Sequenz des Bilderatlas aufgeworfen werden.
Caudia Wedepohl: System und Systematik. Die Anfänge von Warburgs Atlas-Projekt
Der Bilderatlas Mnemosyne ist heute Warburgs berühmtestes Werk. Im Jahr 1929 unvollendet hinterlassen und – trotz bemühter Versuche – von der Generation seiner Nachfolger nie zur Editionsreife gebracht, hat kein anderes von Warburgs Werken ähnlich viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Weniger bekannt als die letzte erhaltene, aus 63 Tafeln bestehende Fassung von Oktober 1929 sind die Anfänge des Projekts, die sich bis 1905 zurückverfolgen lassen. In meinem Vortrag möchte ich diese Zeit beleuchten, genauer: Warburgs zwischen 1905 und 1909 dokumentierte Versuche, das durch die Arbeit in Florentiner Archiven zwischen 1897 und 1904 gesammelte Material systematisch zu ordnen. Damals bereits wollte er mit diesen Versuchen (in Anlehnung an verschiedene, in anderen Wissenschaften entwickelte Systeme) eine methodologisch völlig neue Alternative zur etablierten Kunstgeschichte schaffen.