Warburgs Begriffe
"Der Liebe Gott steckt im Detail"
„Alla francese" – Gegenstück zu „all'antica" – bezeichnet die Mode, die im 15. Jahrhundert in Italien an den Höfen beliebt war und aus Frankreich kam. Die Frauen trugen lange spitze Hüte (Hennins) und erschienen in engen Kleidern wie wandelnde Standbilder. In Italien entwickeln die Künstler in der Frührenaissance aus antiken Darstellungen neue Bewegungsformen, die dem Körper zu mehr Präsenz verhelfen. „All'antica" breitet sich über die Kunst aus und erfasst schließlich das „bewegte Leben", die höfische und städtische Wirklichkeit.
Bereits in seiner Doktorarbeit über Sandro Botticelli prägt Warburg den Begriff „bewegtes Beiwerk", eine Formel, die zum Teil der Modesprache entnommen ist. „Accessoire" würde es heute heißen. Benennen will Warburg die Bewegungselemente, wehende Haarpracht, flatternde Gewänder; sie sind der nackten Venus von Botticelli tatsächlich beigegeben und sie waren als bewegliche Versatzstücke auch in der Literatur nachweisbar: feststehende Formulierungen, die en bloc übernommen wurden, als antike Stoffe in die Dichtung eindrangen.
„Bewegtes Beiwerk" gilt als das erste einer Reihe von teilweise paradox klingenden Doppelwortpaaren, die Warburg als neue Begrifflichkeiten für die kunstgeschichtliche Beschreibung vorschlägt. 1905 kommen die „Bilderfahrzeuge" hinzu. In den 1920er-Jahren sagt er sogar „automobile Bilderfahrzeuge": anfangs sind nur die Bildteppiche gemeint, die in Flandern produziert werden und nach Florenz kommen. Vor allem bei den Medici erfreuen sie sich großer Beliebtheit. Später dehnt Warburg den Begriff auf alle beweglichen Bildträger aus: Grafik, Ol auf Holz, Bücher und Handschriften. Die Bildteppiche sah Warburg im Übrigen als eine Vorform der Grafik, da sie nach einer Vorlage in mehreren Exemplaren produziert werden konnten – und dann auch populäre Szenen aufnahmen.
Beobachtung par excellence ist das unvermittelte Auftauchen der „Ninfa/Nympha fluida", der Gestalt, mit der Warburg beispielhaft zeigt, was er unter der Rückgewinnung der Antike in den Kunstwerken der Frührenaissance versteht. Der pagane Ursprung der Frauenfigur, die mit bewegtem Haar und luftigem Gewand, zumeist einen Fruchtkorb tragend, in die Bilder „einsteigt", ist – einmal erkannt – leicht nachvollziehbar.
Schon in seiner Dissertation über Botticelli sieht Warburg die Ninfa als zentrale Figur der Primavera und beschreibt ihre Wirkung neben der bekannteren Venus in der Muschel. Um 1900 „entdeckt" er sie dann in den Fresken von Ghirlandaio (Santa Maria Novella, Florenz). Sie wurde eher als „nebensächliche" Dienerin behandelt. Er macht sie zum entscheidenden Bildelement; sie ist das konkrete „Abbild" seiner Denkfigur, der „Bilderwanderung", und wird zur zentralen Überläuferin in seinem Mnemosyne-Atlas, die „Eilbringitte", so eine weitere von Warburgs typischen Wortschöpfungen. Sie hat dennoch eine ambivalente Energie, wird zur gefährlichen „Kopfjägerin", denn ihr griechisches Vorbild, die Mänade, die berauschte Begleiterin des Dionysos, lässt in ihrem ausschwingenden Arm ein Messer aufblitzen. In diesem Zusammenhang führt Warburg den Begriff „energetische Inversion" ein. Die Ambivalenz des Bewegungsimpulses führt zum Wechsel der Bedeutung desselben Zeichens, zum „Umschlagen" in der polaren Spannung. Schon in der Antike schillert die Ninfa zwischen der unberechenbaren Mänade in Ekstase und einer Viktoria mit Lorbeerkranz, ist schlechte Mutter wie Medea oder „gute" Spenderin des Lebens, der schützende Luftgeist, mit Wind und Wolken, das fliegende Haar, der Körper vom schimmernden Kleid nur lose umspielt. Und genau so ambivalent bleibt sie nach ihrer Aufnahme in den christlichen Kanon, eine männermordende Frau, einmal Salome, die ihren Tanz mit der Forderung nach dem Kopf des Johannes verbindet, dann Judith, die das Volk Israel vor dem bedrohlichen Feldherrn Holofernes rettet.
Ob schreckliche Dämonin oder gute Rächerin, ob Sieger oder Niedergehender, ob Tänzerin oder Kämpfer – sie alle sind aus einer „Pathosformel" entwickelt und werden von ihrer Kontur gefasst. Pathosformel ist vermutlich Warburgs bekannteste Begriffsprägung, wieder eine kontrastierend konstruierte Denkfigur, dramatischer Stoff und unbewegliches Muster in einem. Wenn das Pathos sich nach der Renaissance verselbstständigt und ohne Spannung seine Kräfte spielen lässt, spricht Warburg von „barocker Muskelrhetorik". Er experimentierte mit dem Vokabular aus anderen Feldern der Wissenschaft, vorzugsweise aus der Naturwissenschaft, nannte die Pathosformel in den 1920er-Jahren das „Engramm leidschaftlicher Erfahrung." Seine Forschung ist nicht zu trennen von der Aufmerksamkeit für die ansteckende Energie der Bewegung, von Bildwanderung und Internationalität. Zusammen mit Fritz Saxl sprach er von den „Wanderstrassen der Kultur", die über alle Grenzen hinweg die „Bilderfahrzeuge" reisen lassen. Seinen Fachkollegen warf er „grenzpolizeiliche Befangenheit" vor, denn nur mit grenzüberschreitender Unbefangenheit konnte er seine eigenen Entdeckungen machen.
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Text: Axel Heil, Margrit Brehm und Roberto Ohrt