Der Mnemosyne Bilderatlas
Der Hamburger Kulturwissenschaftler Aby M. Warburg (1866–1929) ist einer der Pioniere der modernen Kunst- und Bildwissenschaft. Er hatte sich vor dem Ersten Weltkrieg in der Fachwelt als Experte der Florentinischen Kunst einen Namen gemacht, mit vergleichsweise wenigen Publikationen, die jedoch immer überraschende Wege der Erkenntnis eröffneten und mehrfach zu sensationellen Entdeckungen führten. Vollkommen ungewöhnlich war allerdings das Projekt, dem er sich in seinen letzten Lebensjahren widmete: der Mnemosyne Bilderatlas, der lange ein Legende blieb, selbst nachdem er 1993 veröffentlicht wurde.
Von 1924 bis 1929 konzentrierte Warburg sein gesamtes Wissen in dieser Bildersammlung, die schließlich auf 63 Tafeln Platz fand und knapp tausend Einzelstücke umfasste. Er verwendete überwiegend Fotografien, aber auch Illustrationen aus Büchern oder Bildmappen, Originalgrafiken oder Zeitungsseiten; sogar Briefmarken und Werbeprospekte setzte er ein. Ganz selbstverständlich bediente er sich moderner Reproduktionstechniken, um auf dieser Grundlage ein „Instrument" der Erkenntnis zu entwickeln. Den heutigen Betrachter erinnert das Werk wohl an die Bildfülle der Internetsuchmaschinen, doch Warburgs Tafeln sind sehr überlegt konstruiert; ein Speicher, der die Erinnerung in komplexen Konstellationen verdichtet. Mnemosyne, die griechische Göttin der Erinnerung und Mutter der Musen, macht er zur Schutzheiligen seines Projekts. Es ging ihm um die Frage, wie die antike Bildwelt in den europäischen Kulturraum zurückkehrte und die mittelalterliche Welt in ein neues Zeitalter führte – ein klassisches Problem, dessen Lösung jeder kennt: die Renaissance, die Wiedergeburt.
Die Beispiele, die auf den Tafeln des Bilderatlas zusammengezogen werden, handeln jedoch nur wenig von großen „Meisterwerken" und anerkannten „Werten". Sie führen vor allem in die Frührenaissance und entfalten die Konfliktgeschichte, zeigen nicht das Ergebnis, sondern den Moment, in dem um die Bedeutung der Kunst noch gerungen wurde. Die Dialoge und Interessensgegensätze zwischen den Künstlern, Auftraggebern, Philosophen, Dichtern und der Kirche wurden von Warburg nie einfach entworfen. Die Konfliktlinien gehen durch die beteiligten Personen selbst – und durch die Werke. Es verwundert daher wenig, dass der Atlas auch in der Kunst keine Grenzen kennt. Malerei, Skulptur, Grafik, illuminierte Handschriften, Bildteppiche, Hochzeitstruhen, Spielkarten, Gebrauchsgegenstände, Schmuck – Warburg suchte in allen Bereichen nach Hinweisen, die ihm helfen konnten.
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Text: Axel Heil, Margrit Brehm und Roberto Ohrt