Merve Verlag
Biografie
»Wie sollen wir ›Das Kapital‹ lesen« von Louis Althusser war der erste Druck des West-Berliner Merve Verlags, noch bevor er sich am 23. Juni 1970 offiziell gründete. Ohne Verlagsnahmen, ohne UrheberInnenrechte hatten die Gründungsmitglieder Peter Gente, Merve Lowien, Rüdiger Möllering und Michael Kwiatkowski das Buch produziert. Das neomarxistische Kollektiv, so geht es aus seinen Diskussionsprotokollen hervor, wollte die Trennung von Hand- und Kopfarbeit sowie die Geschlechterrollen aufbrechen. Mit ihren Büchern strebten sie zudem danach, den deutschen Kadermarxismus durch Impulse aus Frankreich und Italien zu beleben und veröffentlichten Texte der italienischen Kollektive Il Manifesto, Lotta Continua und Potere Operaio, aber auch von Autoren wie Charles Bettelheim, Louis Althusser, Maurice Godelier, Nicos Poulantzas und Jacques Rancière. Mangelndes Kapitel für dieses Unterfangen glichen sie durch Raubdrucke und den vollen Einsatz ihrer Arbeitskraft aus. Erst 1972 konnten monatlich 500 DM an die VerlagsmitarbeiterInnen ausgezahlt werden.
1974 löste sich das Merve-Kollektiv auf und Peter Gente führt den Verlag mit Heidi Paris weiter. Das Leitungsduo verabschiedete sich von marxistischen Theorien und suchte auf Initiative Paris‘ den Kontakt zu den poststrukturalistischen Theoretikern Frankreichs. 1976 erschien mit »Mikrophysik der Macht« das erste von vielen Büchern Michel Foucaults im Berliner Verlag. Die im folgenden Jahr herausgebrachte Publikation »Patchwork der Minderheiten« von Jean-François Lyotard besiegelte die Wende in der Verlagspolitik. Nicht mehr die großen Machtstrukturen und politischen Kämpfe standen im Fokus, sondern machtpolitische Taktiken gesellschaftlicher Minderheiten, die sich außerhalb des Zentrums behaupteten. Das kollektive Potential dieser kleinen Kämpfe interessierte nun. Das Format der Bücher passte sich diesem Inhalt an und schrumpfte auf das seither beibehaltene DIN B6-Format. Waren bis zu »Patchwork der Minderheiten« alle Bücher in der Reihe »Internationale Marxistische Diskussion« erschienen, so kamen sie jetzt im »Internationalen Merve Diskurs« heraus. Am Ende des Jahrzehnts avancierten die kleinen Bänden von Autoren wie Foucault und Lyotard, aber auch Jean Baudrillard, Gilles Deleuze, Félix Guattari und Paul Virilio zur Pflichtlektüre in der West-Berliner-Szene.
Zum Ende der Dekade eröffnetet Merve mit »Tumult: Schriften für Verkehrswissenschaft« zudem ein Forum für all jene, welche die französischen Theorien auf die Gegenstände ihrer Zeit anwenden wollten, von Disco bis Kernkraft. Ebenfalls 1979 läutete der Besuch der Ausstellung »Monte Verità – Berg der Wahrheit«, von Harald Szeemann in der Berliner Akademie der Künste kuratiert, eine weitere Wende für Merve ein. Das Interesse an Kunst und Musik nahm zu, Heidi Paris und Peter Gente kontaktierten John Cage und Patti Smith in der Hoffnung auf gemeinsame Projekte.
Durch seine AutorInnen begann der kleine Verlag den Diskurs in West-Berlin zu wesentlich zu bestimmen. Der Kulturhistoriker Philipp Felsch geht in seiner Verlagshistorie so weit, die 1980er-Jahre als „Merve-Epoche“ zu bezeichnen. Gleich 1980 brach Martin Kippenbergers »Frauen« mit dem bisherigen politischen Auftritt des Verlags: Die „Beutegalerie eines notorischen Machos“, wie Felsch den Bildband nennt, setzte sich nicht mehr für den Klassenkampf, wie die anfangs durch das Kollektiv herausgegebenen Bücher, oder die sogenannten kleinen Kämpfe von Frauen, Schwulen, Häftlingen und weiteren gesellschaftlichen Minderheiten ein, wie es unter dem Einfluss Heidi Paris zunehmend der Fall gewesen war. Neben Kunst und Musik rückte die ästhetische Theorie ins Zentrum des Paris-Gente-Universums. Es brachte Künstlerbüchern wie zum Beispiel Jean-Luc Godards »Liebe Arbeit Kino« (1981), Heiner Müllers »Rotwelsch« (1982) oder Blixa Bargelds »Stimme frißt Feuer« (1988) hervor und verbreitete ästhetische Theorien in Büchern wie Roland Barths »Cy Twombly« (1983), Hannes Böhringers »Begriffsfelder« (1985) und Shushei Hosokawas »Walkman-Effekt« (1987) und später Brian O'Dohertys »In der weißen Zelle. Inside the White Cube« (1995).
Mit der Wende veränderte sich West-Berlin und Schöneberg, das für Gente und Paris wichtiger Feier- und Lebensraums gewesen war. Unter anderem die documenta X 1997 und die Technomusikszene wurden zum Einflussfeld des Verlags. Mit »Liebe Dein Symptom wie Dich selbst!« nahmen Gente und Paris 1991 Slavoj Žiźek und seine Überlegungen zu Psychoanalyse und Hollywoodfilmen, Comics, Science Fiction Stories und B-Movies ins Programm. Im Jahr darauf veröffentlichten sie das bis dato einzige Buch, das mit dem etablierten Format und Aussehen bricht: Gilles Deleuzes und Félix Guattaris »Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie«. Die Kunsttheorie blieb auch in diesem Jahrzehnt zentral: 1995 erschien »In der weißen Zelle. Inside the White Cube«, die erste deutsche Übersetzung des wegweisenden Essays von Brian O'Doherty, bereits 1976 im englischen Original erschienen. 1997 publizierten Schriftsteller Rainald Goetz und DJ Westbam »Mix, Cuts & Scratches«. Und am Ende des Jahrzehnts trat Tom Lamberty erstmals als Herausgeber in Erscheinung. Zusammen mit Frank Wulf brachte er in vier Büchern bis 2006 den Nachlass des Autors und Philosophen QRTs heraus.
Als Heidi Paris 2002 das Leben nahm, trat Tom Lamberty in den Verlag ein. Peter Gente zog sich langsam aus den Geschäften zurück. 2006 übergab er das Verlagsarchiv ans ZKM | Zentrum für Kunst und Medien Karlsruhe und wanderte ein Jahr später nach Thailand aus. Dort verstarb er 2014. Tom Lamberty verlegte den Verlagssitz 2017 nach Leipzig.
Während sich die Themen des Verlags durch die Jahrzehnte veränderten und weiterentwickelten, blieb die Form ihrer Veröffentlichung stets die gleiche: Zum einen hält der Verlag an der von Jochen Stankoswki gestalteten Raute für die Umschlagsgestaltung fest, zum anderen befinden sich zwischen den Buchdeckeln der Taschenbücher (fast immer) Text-Fragmente, Ausschnitte, Aufsätze, Interviews und (Streit-)Gespräche, Vorträge und Vorlesungen.