„Aber dieses Leben reicht dafür nicht…“
Notizen zu »Götter und Schriften rund ums Mittelmeer – Symposion in memoriam Friedrich Kittler«
VON SVEN GRINGMUTH
Zeit seines Lebens war Friedrich Kittlers Werk Gegenstand heftiger Dispute, weit über den Horizont akademischer Vermittlung und Selbstvergewisserung hinaus. Als der Medienphilosoph („Lieber wäre mir natürlich Philosoph, aber so einfach kriegen wir die Dinge wohl nicht mehr“ sagte er in 2009) am 11. Oktober des vergangenen Jahres in Berlin verstarb, da wurde sein wissenschaftliches bad boy-Image noch in den Nachrufen und Feuilleton-Artikeln betont. Freund Jürgen Kaube schrieb im Nachruf in der FAZ von den „dreizehn Gutachten“, die bemüht werden mussten. „Nicht einmal habilitieren wollten sie den Assistenten in Freiburg“ anno 1982. Kurzum: Der Streit um Friedrich Adolf Kittlers Habilitations-Schrift Aufschreibesysteme 1800/1900 wurde ebenso legendär - derart, dass auch andere Feuilletonisten aus den tatsächlichen neun Gutachten die dreizehn machten - wie das Werk selbst und Kittler kehrte in der Folge der Literaturwissenschaft den Rücken. Aus dem Freiburger Poststrukturalisten-Germanisten der 1970er Jahre wurde ein, den Autodidaktismus auf höchste Höhen hebender, deutscher Ingenieur/Programmierer in den 1980er Jahren und schließlich in den letzten Jahren das Abbild eines deutschen Professoren aus dem 19. Jahrhunderts, ganz der Mythologie des griechischen Altertums verschrieben. Er, dessen Programm oft mit der von ihm propagierten These von der „Austreibung des Geistes aus den Geisteswissenschaften“ umschrieben wurde, schrieb 2001: „Wie kommt es, daß Leute in Europa nicht die Liebe wissen, sondern das Wissen lieben?“.
Friedrich Kittlers Thesen, seine Programme, Behauptungen, Arbeitsweisen, Techniken, sein beschwingter Eklektizismus und sein überbordender Intellektualismus prägte (mindestens) eine ganze Generation von Forschern, Künstlern, Geistersehern.
Bereits einige Zeit vor seinem Tod, plante Kittler seinen Abgang von der akademischen Bühne – mit einem letzten Symposion. Ein Paukenschlag sollte es werden, sein (wissenschaftliches) Vermächtnis. Vorgesehener Titel: »Götter und Schriften rund ums Mittelmeer«. An dieser Stelle sollten noch einmal alle Fäden, die er im Feld Medien-, Sprach-, Kultur- und Literaturwissenschaften in den letzten Jahren spannte, zusammenkommen, die Wege sich treffen, gleichsam Perspektiven eröffnet werden. Dies geschah vor wenigen Tagen am ZKM | Karlsruhe (Fr–Sa, 19.–20.10.2012) auf höchst eindrucksvolle Weise und unter dem ergänzenden Titel: In memoriam Friedrich Kittler.
Das ZKM_Medientheater bot den idealen Ort zur Ausgestaltung des Symposions und das schummrig-blaue Licht erinnerte an den von Kittler so geschätzten Doktor Gottfried Benn und dessen Liebe zu dieser Farbe: „Blau, welch Glück, welch reines Erlebnis…“. Zugleich korrespondiert die derzeit im ZKM gezeigte Ausstellung »Sound Art. Klang als Medium der Kunst« auf gespenstische Weise mit Werk und Leben des Sound-Bastlers und Rockmusik-Liebhabers Kittler. Geräusche, Soundfragmente, Sprache, dies prägte den Kittler´schen Kosmos not at least.
Kittler sprach einmal von den „Göttern, die in den Maschinen hausen“. Kaum ein Zitat könnte den ersten und zweiten Tag des Symposions inhaltlich sinniger verknüpfen. Während der Freitag die griechische Antike, die Götterwelt des klassischen Altertums und die Entstehung von Schrift und Sprache, die Besonderheiten von Keil- und Hieroglyphenschrift, die Entwicklung von Vokalen, Konsonanten im Mittelmeerraum (und in der Perspektive darüberhinausgehend) untersuchte, brachte der Samstag den Übergang zum 20. und 21. Jahrhundert und zu den neuen Göttern, den „Maschinen, Maschinen [die] unsere Planetenkruste eroberten“ (Kurt Pinthus, Die Überfülle des Erlebens; 1925). Jene Götter waren es schließlich, die Kittler lange Jahre fasziniert und sein Schaffen beflügelt haben. War er nicht selbst einer jener „Priester in weißen Laborkitteln“, deren Existenz er behauptete, die das Innenleben der Maschinen sezierten und priesen?
Eine der Fragen, die das Symposium unbeantwortet ließ (oder unbeantwortet lassen musste): Ist es möglich anders als fragmentarisch über den zu sprechen, dessen Arbeitsweise so maßgeblich durch das Fragmentarische geprägt war? Eine Mischung aus „Präzision und Schlampigkeit“ nannten Tania Hron, Kulturwissenschaftlerin und langjährige Mitarbeiterin Kittlers, sein ureigenes System, seine Technik. Auch im Folgenden nur Notizen, ausschließlich Fragmentarisches.
„Why was Jesus crucified?“ – Warum schlug man Jesus ans Kreuz? Freunde berichten aus den letzten Lebensjahren Kittlers von (s)einem regen Interesse an der Geschichte des (Früh-)Christentums. Kittlers ureigene These: Jesus als „Medienstürmer“, als „Medienrebell“ - seine Mörder sind die Rabbiner, die Schriftgelehrten. Er macht die Thora lesbar für die armen Leute, geht weg von der „Geheimschrift“, schreibt Vokale. Jesus mithin als „ketzerischer Rabbi, der das Hebräische vokalisiert“ und somit die Thora für die Aramäer – dies ist die Sprache der Armen - lesbar/verständlich macht. Jesus liest hebräisch, er ist das „hebräisch-alphabetisierte Wunderkind“ – es sind keine Schriftgelehrten mehr nötig, nur „Idioten verbleiben bei den Konsonanten“. Der Berliner Kulturwissenschaftler Gerhard Scharbert sammelte die Scherben des fragmentarischen Nachlasses Kittlers zu diesem Komplex auf und formte im blaulichtgetränkten Medientheater ein Grisaille-Fenster größter Transparenz und Schönheit. Vor allem auch im Duktus des Kittler eigenen „Hingerissenseins“ durch die Liebe zum Gegenstand, die eben auch „Spekulationen, (…) Fehler, autodidaktische Übertreibungen und Unbeweisbarkeiten“ (Kaube) kennt und duldet. Ludwig Morenz assistierte: „Das Mißverständnis wirkt oft kulturfördernd!“ - damals wie heute, möchte man ergänzen. Die Entstehung von Sprache, Schriftsprache, Alphabet, so der Bonner Ägyptologe Morenz, sei eben – dies auch ein wichtiges Diskussionsergebnis des ersten Tages – nur multikausal denkbar. Nicht ein oder zwei Aspekte, sondern eine Gemengelage aus unterschiedlichsten historischen, ökonomischen, geographischen, politischen, religiösen und kulturellen Aspekten wirkte konstituierend.
„Im Denken eine neue Sprache“, so der Kulturwissenschaftler Peter Berz von der Humboldt-Universität zu Berlin, habe Kittler selbst (mit und im Rückgriff auf Martin Heidegger) geformt, eine „Mischung, die Unvorhersehbares herstellt“ und der man eben folgen können muss, wenn man „über Denk-Dinge“ spricht (Siegfried Zielinski; Universität der Künste, Berlin).
„Ein Literaturwissenschaftsprofessor ist nichts wert, wenn er nicht selbst mal Gedichte geschrieben hat!“ – ein Ausspruch der Kittler ebenfalls nachgesagt wird. Ein Medienarchäologe ist nichts wert, wenn er sich nicht in ein Medium vergraben kann, mag man im Umkehrschluss denken, schaut man sich Friedrich Kittlers leidenschaftliche Synthesizer-Bastelei an. Er kaufte Teile in aller Welt, ließ sich Bausätze zuschicken, schraubte, lötete, klebte. Sebastian Döring (Medienarchäologe, Berlin) und Jan-Peter E.R. Sonntag (Künstler, Komponist, Theoretiker, Berlin) gingen der Frage nach: Kann man die Kittler´schen Synthesizer lesen wie eine Blackbox? Wie ist die Anatomie der 5 Zauberkästen beschaffen? In Film und Soundinstallation fragten sie, was an Schrift in den Geräten verborgen sein mag und wie man sie lesen kann. Denn sie zum Klingen zu bringen ist ihnen verboten. Das deutsche Literaturarchiv Marbach, diese „schwäbisch-deutsche Gedächtnisanstalt“, erlaubt dies nicht. Die Klänge, die entstehen würden, würden ohnedies so nie wiederkehren, denn die frühe Synthesizer-Generation der späten 1970er- und frühen 1980er-Jahre stellt ein analoges Wunderland dar: Ständig „out of pitch“. Schon Änderungen der Raumtemperatur oder Luftfeuchtigkeit haben Auswirkungen auf den Sound.
Überhaupt: Wie ist der Nachlass Friedrich Kittlers beschaffen? Woraus besteht er maßgeblich? Neben nachgelassenen Schriften, losgelösten Sätzen, Kritzeleien, Schaltplänen, Schachskizzen auf Typoskripten, ist es vor allem Hardware/Quellcode was er hinterlässt: Tonbänder, Festplatten, Disketten, CD-Roms, Zettelkästen. Viele Recherchen zu den ungeschriebenen/noch zu schreibenden Büchern bewahrte er in seinem – nur für ihn ganz zu durchschauenden (Präzision vs. Schlampigkeit) – System auf. Zur Zuordnung von Farben in der Literatur forschte er beispielsweise jahrelang: „Aber dieses Leben reicht dafür nicht…“ [Zitat F. Kittler]. Aus dem nikotingelb-vernebelten Nachlass plötzlich Persönliches: Bilder der Mutter, des Vaters, des Bruders. Schulzeugnisse. Friedrich Adolf Kittler: Der Saxophonist der Schulband.
Paul Feigelfeld, Informatiker und Kulturwissenschaftler in Berlin, berichtete von panischen nächtlichen Anrufen Kittlers. Mal ist es eine geschmolzene Graphikkarte (tatsächlich eine der vielbeschworenen „KATASTROPHE(N)!“), mal ein Problem das sich simpel lösen lässt - Rechner: Ein/Aus. Eine Lösung, die man verfolgen kann, bis das Gerät aufgibt - oder man selbst (vgl. Synthesis von Peter Weibel, 1967). Feigelfeld entwirft ein Bild, illustriert die Erinnerung: Kittler nächtelang an seiner Linux-Maschine, rauchend, in seinem Büro – wie er ordnete, schrieb, programmierte: „Wie Kittler programmiert hat, so programmiert heute kein Mensch mehr: Ohne Programmierumgebung und dergleichen, oft über Wochen" [Zitat P. Feigelfeld]. Im „manischen Signifikantenrausch“ ging der User_Ich an die Grenzen seiner Hardware, seiner Festplatte (ein „lebendiges epistemisches Ding“). Und jeden Donnerstag scharte er dann in seinem Büro die Follower, die Jünger um sich. Zum rauchen, basteln, diskutieren über mathematische Probleme und die griechischen Götter, den Funker Guderian und die Goethesche Farbenlehre.
Kittler war präsent. Manisch präsent geradezu – ob gewollt oder nicht. „Das Sein, als es sich Europa schickte, hieß ständige Anwesenheit – was vergeht, wie die Rosen, Schmetterlinge und Menschen, schien ihm gegenüber ein Nichts“ schrieb er vor ungefähr zehn Jahren. Menschen vergehen, in der Tat. Was bleibt? Zunächst die wehmütige Erinnerung an dieses Symposion. Und daran, wie Erika Kittler so schön lachte, als sie mit ihrem Regenschirm die Soundinstallation „Rain Dance“ von Paul DeMarinis auf dem Vorplatz des ZKM testete. Manchmal reicht ein Leben nicht aus.
[Zitat F. Kittler] Dieses Zitat stammt von seiner langjährigen Mitarbeiterin Tania Hron, die dies im Rahmen ihres Vortrags beim Symposion berichtete. Kittler soll, beim Anblick seiner umfangreichen Zettelkasten-Systeme, geseufzt haben, dass er noch so viele Bücher habe schreiben wollen, so viele Dinge zu Papier bringen wollen, „aber dieses Leben nicht dafür ausreiche…“.
[Zitat P. Feigelfeld] Paul Feigelfeld, Informatiker und Kulturwissenschaftler in Berlin.
Über den Autor
Sven Gringmuth hat an der Universität Siegen Medienwissenschaften, Geschichte, Sozialpädagogik und Sozialwissenschaften studiert. Er promoviert zu Leitsemantiken im Frühwerk Diedrich Diederichsens und arbeitet an der Universität Siegen als Lehrkraft für besondere Aufgaben im Bereich Neuere deutsche Literaturwissenschaft und Kulturwissenschaft.
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