global aCtIVISm: global citizen

Lebenswichtige Interessen der gesamten Menschheit, die einzelne Nationalstaaten nicht berücksichtigen, werden von den „globalen Bürgern“ wahrgenommen.
© Foto: Occupy Museums
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Seit mehr als 20 Jahren erleben wir weltweit eine zunehmende Verflechtung von Politik, Wirtschaft, Kommunikation, Wissenschaft und letztlich auch Kultur.

VON PETER WEIBEL

Diese Phänomene, die man unter dem vielzitierten Begriff der Globalisierung zusammenfassen kann, sind eng mit einer technologischen Entwicklung verbunden, die einerseits zu dem führte, was Marshall McLuhan bereits 1968 als „Global Village“ bezeichnet hat, und andererseits eine globale wirtschaftliche und politische Entwicklung beförderte, die weltweit Anstoß zu punktuellen Protesten bildet. Die neue Dialektik von lokal und global bildet weniger das Gesicht eines „Global Village“ aus, sondern eher das Profil der Macht globaler Verflechtungen von Firmen und Banken, von Finanztransaktionen und Offshore-Gesellschaften, einer neuen oligarchischen Elite, welche die Funktion politischer und ziviler Institutionen ebenso bedroht wie die Rechte der Individuen.

Wir erleben die Periode einer staatlichen „Bürgerausschaltung“ ( P. Sloterdijk) statt demokratischer Bürgerbeteiligung. Deswegen kommt es immer mehr zu neuen Protestformen der Empörten und Indignados, die sich aus der erlebten Ohnmacht der Individuen speisen. Diese neue Form spontaner nichtinstitutioneller Massenproteste von Individuen ist ein weltweit unübersehbares Phänomen und hat gerade im Arabischen Frühling und jetzt in der Türkei gezeigt, wie etablierte Machtsysteme, z. B. die wechselseitige Unterstützung von östlichen Diktaturen und westlichen Demokratien, von wirtschaftlichen und militärischen Interessen – zumindest für einen kurzen Moment der Geschichte – unterbrochen werden können.

Steigender Gewaltpegel

Eines ist nicht zu leugnen, es haben, unterstützt durch neue Kommunikationsmedien, gesellschaftliche Umbrüche stattgefunden, die zeigen, in welchem Ausmaß sich Gräben zwischen traditionellen Gesellschafts- und Generationsverträgen auftun können, sodass es zu bisher ungekannten sozialen Spannungen kommt, die Gewalt auslösen. Doch der Gewaltpegel steigt nicht nur in den arabischen und asiatischen Ländern, sondern auch im Inneren des Westens selbst. Von USA bis Schweden, von Frankreich bis England kommt es immer wieder zu individuellen Gewaltausbrüchen von Jugendlichen und Erwachsenen mitten in der Zivilgesellschaft, für die es bisher keine überzeugenden Erklärungen gibt. Unsere Gesellschaft versperrt offensichtlich die historischen Fluchtmöglichkeiten (escape buttons). So entsteht eine vermeintliche Ausweglosigkeit, aus der scheinbar nur Gewalt einen Ausweg schafft.

NGOs (non-governmental organisations), die von Individuen getragen werden, also eine Form der Kooperation zwischen Individuen und Institutionen außerhalb staatlicher Instanzen, haben in den letzten Jahrzehnten eine wichtige bahnbrechende und vorbereitende Rolle für den globalen Aktivismus gespielt. Man denke an die weltweit aufsehenerregenden Aktionen und Bilder von Greenpeace, Amnesty International und Tierschutzvereinigungen. Offensichtlich haben große gesellschaftliche Gruppen nicht den Eindruck gehabt, dass der Staat selbst ausreichend die Rechte aller Bürger, die Menschenwürde, den notwendigen Klimaschutz und die Rechte von Tieren schützt, sondern im Gegenteil sie verletzt. Daher haben sie neue Organisationsformen gefunden, um diese Lücke zu füllen und um in der Öffentlichkeit für ihre Anliegen Gehör zu finden.

Der „globale Bürger“

Proteste gegen den Atomstaat und gegen die Verschmutzung der Erdatmosphäre sind von Bürgerbewegungen ausgegangen und nicht von den zuständigen, staatlichen Organisationen und haben gewisse Erfolge erreicht bzw. sogar zu neuen Parteigründungen geführt. Nach der „global city“ (Saskia Sassen, The Global City, 1991) und der „global governance“ (Brundtland-Bericht, 1987) entsteht eine neue Form gesellschaftlichen Handelns, eine „performative Demokratie“, in deren Mittelpunkt der „global citizen“ steht. Dieser neue Bürgertyp kümmert sich um lokale Probleme (wie Bahnhofsbauten) genauso wie globale (wie Klimaschutz). Lebenswichtige Interessen der gesamten Menschheit, die einzelne Nationalstaaten nicht berücksichtigen, werden von den „globalen Bürgern“ wahrgenommen. Globaler Aktivismus ist das Ergebnis des „globalen Bürgers“.

Die traditionellen Grenzlinien zwischen Individuum und Institution, Subjekt und System werden durch den neuen Aktivismus immer mehr verschoben, aufgelöst und umkämpft. Öffentliche Massen-Manifestationen, vom Puerta del Sol in Madrid, Tahrir-Platz in Kairo, Platz des himmlischen Friedens Tian'anmen-Platz in Peking und dem Taksim-Platz in Istanbul, die sich massenmedial wie ein Virus in den neuen Onlinemedien verbreiten, liefern Beispiele nicht für die Macht der Massen, sondern für die Macht der vernetzten Kommunikation und Kooperation der ansonsten ohnmächtigen Individuen. Historische Massenaufmärsche waren – mit Ausnahme von revolutionären Situationen – von oben organisiert und initiiert. Der zivile Massenprotest heute wird von unten organisiert und initiiert, z. B. Stuttgart 21. Der globale Aktivismus als Bewegung des 21. Jahrhunderts liefert erste Anzeichen gegen allen Kulturpessimismus, dass anstelle des popkulturellen Massenkonsums auf paradoxe Weise eine systemkritische Massenkultur entstehen kann.

Einforderung der Versprechungen des Rechtsstaates und der Demokratie

Es scheint, auch die Kunst könnte mehr und mehr zum öffentlichen Raum werden, in dem das Individuum autonom agieren kann und die Versprechungen des Rechtsstaates und der Demokratie, von der Menschenwürde bis zur Freiheit, einfordert. Durch Aktionen von Kleingruppen wie Pussy Riot und Femen oder Massenbewegungen wie Occupy u. v. a. sind in letzter Zeit wiederholt spektakuläre Protestbewegungen in den Fokus einer weltweiten Öffentlichkeit gerückt, die auf völlig verschiedene aber immer eindrucksvolle Weise gezeigt haben, was im weitesten Sinn bürgerschaftliches (lat. civis, der Bürger) Engagement bewirken kann.

Obwohl die Kuratoren von Kunstgroßveranstaltungen wie die documenta 13 oder die Biennale di Venezia 2013 sich in unzeitgemäße Esoterik und Okkultismus flüchten, gibt es daher auch im Kunstsystem eine große Bewegung von non-governmental art (NGA). Kritik an Politik, Wirtschaft, Kirche, Institutionen zu äußern, ist auch im vermeintlich aufgeklärten und liberalen 21. Jahrhundert noch immer weder selbstverständlich noch auf breiter Ebene akzeptiert – auch nicht in der westlichen Welt. Artes liberales – die Kunst freier Bürger erhält heute eine neue globale Bedeutung.

Die Ausstellung global aCtIVISm im ZKM | Zentrum für Kunst und Medientechnologie Karlsruhe stellt die Frage, wie drücken KünstlerInnen ihre Sorge über die bestehenden Verhältnisse heute aus? Die Performance-Kunst des 20. Jahrhunderts war in vielen Fällen nur der Selbstdarstellung des Künstlers bzw. der Künstlerin gewidmet (Marina Abramović, The Artist is Present, 2010) und diente mehrheitlich der Darstellung malerischer und skulpturaler Probleme. Die Performance fand auch hauptsächlich im neutralen Kunstraum, im White Cube des Museums, statt, und ist deswegen wiederholbar.

Kunstform der Protestbewegung

Die in der Performance angelegten sozialen und emanzipatorischen Aspekte fanden meistens im öffentlichen Raum statt und wurden im Aktivismus ausgebaut, dessen Ziel nicht die Lösung künstlerischer, sondern sozialer Probleme ist. Der Anspruch bzw. Ausspruch von Joseph Beuys „Jeder Mensch ist ein Künstler“ (1979) und die Maxime von Wolf Vostell „Leben ist Kunst – Kunst ist Leben“ bezeichnen exakt die Voraussetzungen für den Aktivismus. Als Protest an spezifischen historischen Situationen und Konstellationen ist er nicht wiederholbar. Aktivismus und nicht Performance ist die Kunstform der Protestbewegung, die außerhalb von Institutionen stattfindet und die einen sozial motivierten Ausgangspunkt hat, sich aber als künstlerische Ausdrucksform versteht.

Die bildende Kunst war bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts an den Werkbegriff (Leinwand, Bronze, Papier, Holz usw.) gebunden und also Ausstellungskunst gewesen. Aber bereits in den 1960er-Jahren verließen die Künstler zunehmend die sicheren Räume der Institutionen und drückten sich – diese zugleich kritisierend – in ephemeren Ereignissen wie Performances, Happenings und Aktionen aus. Ein politischer Impuls, der zu einem Protest gegen bestehende Situationen führte, war vielen der Aktionen zu eigen. Kunst und Handlung gingen seit der Expansion der Künste Mitte der 1960er-Jahre eine neue Fusion ein, die sich aber immer mehr aus der rein künstlerischen Intermedialität löst und sich immer mehr um soziale und humane Agenden kümmert.

Art und Agency münden daher in einer neuen Form des Aktivismus. Die Künstlerfunktion ändert sich vom Werkproduzenten zum Systemflüchtling oder Systemkritiker, der gelegentlich die Aufgaben übernehmen kann, die bisher den staatlichen Instanzen, der Justiz, der Ökonomie, der Verwaltung oblagen. Die Kunst bildet gewissermaßen ähnlich wie die Philosophie und die Medientheorie das Exil, in dem grundlegende zivile Aufgaben noch wahrgenommen werden. Mit der Funktion des Künstlers ändern sich auch die sog. Werke des Künstlers. Statt Ölgemälden entstehen Flugblätter, Plakate, Graffiti. Statt Holzskulpturen entstehen Onlineportale, Transparente, Medienauftritte. Statt Kunstfilmen entstehen Youtube-Videos.

Spezielles Feld der künstlerischen Ausdrucksform

Im Rahmen des 300-jährigen Gründungsjubiläums der Stadt Karlsruhe im Jahr 2015 veranstaltet das ZKM | Zentrum für Kunst und Medientechnologie den Ausstellungsmarathon einer Globale, die innerhalb von 300 Tagen einen Überblick über die aktuellen Tendenzen in der globalen Kunstpraxis bieten soll. Als Auftakt zu dieser Mega-Schau, die sich während der Dauer der Ausstellung immer wieder verändern wird, ist ab Ende 2013 global aCtIVISm zu sehen, eine Ausstellung die sich einem speziellen Feld der künstlerischen Ausdrucksform widmen wird: einer solchen, die politisch inspiriert ist und durch Aktionen, Demonstrationen und Performances im öffentlichen Raum auf Missstände aufmerksam macht und zur Veränderung bestehender Verhältnisse auffordert. Damit soll auch gezeigt werden, wie verschieden die Rolle der Kunst heute in verschiedenen Weltregionen sein kann. So ist die Ausstellung dazu geeignet, dem Einwand gegen den Konformismus der so genannten Marktkunst wirksam zu begegnen. Die Ausstellung wird mithilfe von Objekten, fotografischen, kinematografischen, videografischen und massenmedialen Dokumenten den globalen Aktivismus als die erste neue Kunstform des 21. Jahrhunderts zeigen.

Blogbeitrag zu »global aCtIVISm« und Interview mit der Aktivistin Joulia Strauss bei taz.blogs

Beitrag und Impressionen zur Ausstellung im neunmalsechs-Blog

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Zur Ausstellung »global aCtIVISm« im ZKM | Museum für Neue Kunst 14. Dezember 2013 – 30. März 2014

Eröffnung: Freitag, 13. Dezember, 19 Uhr

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