Barbara Könches: Der Videoessay

Die essayistische Arbeitsweise ist originär eine textbasierte. Über das Warum lässt sich spekulieren. Schaut man auf die Geschichte dieser Textform zurück, so erkennt man schnell, dass 1580 als der Philosoph Michel de Montaigne erstmals eine Abhandlung unter dem Titel »Essais« herausgab, Bilder ganz anderen Rezeptionsanweisungen unterlagen. Wohl hatte man die mittelalterliche Tafelmalerei hinter sich gelassen, aber von einem subjektiv geprägten, reflexiven Versuch über ein Thema war man weit entfernt.

Daher hat sich der Essay in der Literatur und in der Wissenschaft seit langem etabliert. In der Bildenden Kunst jedoch bedurfte es einer zusätzlichen Charakteristika: dem Zeitverlauf, denn der Essay lebt von einer kurzen, dennoch raumdurchgreifenden Denkbewegung. Im Gegensatz zum Modell ist er nicht abgeschlossen, sondern offen, tastend und zögernd.

Der Film bot erstmals auch den Bilderschaffenden die Möglichkeit, auf den essayistischen Stil zurückzugreifen und der wohl Prominenteste unter den Filmessayisten ist Jean-Luc Godard.

Gerade in den letzten 15 Jahren ist das Interesse von Seiten der Medientheorie am Filmessay enorm gestiegen, hat man doch erkannt, dass das Spannende an dieser Filmgattung die Unabwägbarkeit zwischen Dokument und Fiktion, zwischen Autor und Publikum, zwischen Erinnerung und Traum ausmacht.

Wie immer in solchen Fällen scheitert die Kategorisierung an der Ausnahme, die Regel am Verzicht, dennoch seien in Stichworten die Kriterien aufgezählt, welche der Medienwissenschaftler Hanno Möbius 1991 in seinem Text »Das Abenteuer Essayfilm«1 summarisch notiert:
  • Der Essayfilm verzichtet auf den 'roten Faden' einer Spielhandlung. 
  • Klassische, von der Dramaturgie bestimmte Raum- und Zeitgefüge werden negiert.
  • Historisch arbeitet der Essayfilm in einem nicht kausal konstruierten Gefüge assoziativer Verdichtung.
  • Der Essayfilm setzt sich zusammen aus bereits gedrehten Dokumentar- und Spielfilmszenen sowie eigenen Materialien.

„Von den dokumentarisch intendierten Filmpartikeln gibt es bei vielen Essayfilmen einen fließenden Übergang zu kleineren Inszenierungen.” Daher ist nicht zuletzt die Montage, die Arbeit am Schnitt mit oder als Cutter, das Herzstück des Essayfilms. Alle Ebenen im Essayfilm sind zugleich dem Erzählen und der Reflexion des Erzählten vorbehalten. Deshalb stehen Originalton und Kommentar gleichberechtigt nebeneinander.

„Die herausragende Bedeutung der vielfältigen, medialen Gedächtnisse [z.B. Tanz, Schrift, Dichtung] für den Essayfilm läßt es berechtigt erscheinen, von einem neuen Gesamtkunstwerk zu sprechen. Mehr als jede andere Filmgattung vereinigt der Essayfilm Beiträge der verschiedenen Künste zu seiner Thematik.”

Dies aber unter der Bedingung des Fragments, des Unabgeschlossenen, denn hierin liegt die Herausforderung an den Zuschauer: das Denken fortzuführen, sich nicht passiv den Bildern auszuliefern. Selbige formale Kriterien auch im Videoessay ausfindig zu machen, ist ein Leichtes, unterscheidet doch nur das Material beides voneinander. Dabei bietet sich die leicht handhabbare und inzwischen kostengünstige Variante des Videos geradezu für die essayistische Form an. Wie Papier und Bleistift liegt die Kamera allzeit bereit, Beiläufiges und Entscheidendes zu dokumentieren, subjektiven Blicken zu folgen oder auf Relevantes zu fokussieren. Auch für den Videoessay steht pars pro toto ein Name: Harun Farocki, der Berliner Filmemacher, der in der Vergangenheit sowohl mit Film als auch mit Video gearbeitet hat und wie zum Beleg der oben angeführten Kriterien veröffentlichte Farocki 1995 eine Arbeit namens »Schnittstelle«.

Rembert Hüser: Was soll Essayfilm eigentlich heißen? Nicht richtig 'Film'? 'Gehobener' Film? Richtet man da nicht eine Kategorie für etwas ein, das sich auf der Ebene des Films immer grundsätzlich als Problem stellt? Warum ist »Arbeiter verlassen die Fabrik« kein Essayfilm? Oder »Nicht löschbares Feuer«? Oder warum sind deine Beiträge für »Sesamstraße« keine Essayfilme? Oder »Faces« von John Cassavetes?

Farocki: Die Kategorie ist so untauglich, wie auch 'Dokumentarfilm' nicht besonders tauglich ist, klar. Wenn im Fernsehen viel Musik gespielt wird, und man sieht Landschaften, dann nennt man das mittlerweile auch schon Essayfilm. Viel Stimmungsmäßiges und nicht eindeutig Journalistisches ist schon Essay. Das ist natürlich furchtbar. Das ist so vage, wie damals die Versuche in den fünfziger Jahren. Damals hat Enzensberger mal darüber geschrieben, dass der naturwissenschaftliche Begriff des Experiments überhaupt nicht taugt für den Kunstbetrieb. So ähnlich vage ist auch dieses Wort vom Essay geworden. Aber mir geht es immer noch darum, dass Erzählen und Erörtern zusammengehören, dass die Diskurse eine Erzählform sind. Der Zweite Weltkrieg ist nicht in einen Roman von einem neuen Tolstoj eingegangen, eher in die Dialektik der Aufklärung von Horkheimer und Adorno.2

Der letzte von Farocki genannte Aspekt ist der entscheidende: Erzählen und Erörtern gehören im - so könnte man es modisch ausdrücken - poststrukturalistischen Kunstkontext zusammen. Das Faktische nähert die Fiktion und das Virtuelle ist realer als jede Utopie. Insbesondere das Interesse an der Dokumentation verschaffte dem Videoessay in den letzten Jahren eine vermehrte Aufmerksamkeit von Seiten der Kuratoren. Hito Steyerl, Filmemacherin und Autorin aus Berlin, schreibt dazu:

„Dabei entstand eine bislang theoretisch wenig bearbeitete Zone der Überlappung von Videokunst, Kino, Reportage, Fotoessay und anderen Formen, in denen sich verschiedene existierende Genres und Formate in Form audiovisueller Film-, Video- und Installationsarbeiten überschneiden und deren Stilmittel sich fortwährend verändern. Didaktische und realistische Arbeiten wechseln sich mit reflexiveren dokumentarischen Produktionen ab, mit visuellen Maschinen, welche die Organisation von Dokumenten und die dadurch produzierten Subjektivitäten reflektieren und organisieren. Die Beschäftigung mit den formalen Spezifika der dokumentarischen Form im Kunstbereich hat etwa mit Ausstellungen wie True Stories im Rotterdamer Witte de With oder Es ist schwer das Reale zu berühren im Kunstverein München erst vor kurzem begonnen – und findet auf theoretischer Ebene noch kaum statt.”3

Dem hat kürzlich die Schweizer Medientheoretikerin und Künstlerin Ursula Biemann mit der Publikation von »Stuff it«, dem ein Symposium4 in Zürich 2002 vorausging, ein Ende gesetzt.

Theodor W. Adorno charakterisierte in seinem Aufsatz »Der Essay als Form«, denselben als eine ideologiekritische Methode, die auch und vor allem in der Lage sei, den Dogmatismus der Wissenschaftsgläubigkeit zu durchbrechen: „Unbewußt und theoriefern meldet im Essay als Form das Bedürfnis sich an, die theoretisch überholten Ansprüche der Vollständigkeit und Kontinuität auch in der konkreten Verfahrensweise des Geistes zu annullieren.”5

Es dürfte deutlich geworden sein, wer sich mit dem Videoessay beschäftigt, tut dies aus drei Gründen: Aus Interesse an einem Thema, aus Interesse am bewegten Bild und aus Interesse am Denken. In der Videosammlung des ZKM befinden sich einige Arbeiten, die diesem Interesse nachkommen, so zum Beispiel Animation I von 1973, eine frühe Auseinandersetzung mit Medienkritik des amerikanischen Künstlers Keith Sonnier.

Im Rahmen des »\\internationalen\medien\kunst\preises« bzw. früher des »Videokunstpreises« wurden immer wieder Beiträge nominiert, die der Form des kritischen oder subjektiven Essays unterliegen, so z.B. »Tout désir d´oubli disparu« (1991) von Johane Fréchette [Videokunstpreis 1994]. Thema der kanadischen Künstlerin ist die Zerstörung der Umwelt und die dadurch verursachte Gefährdung des Menschen. Mit Hilfe von Erinnerungen an die eigene Krebserkrankung, der sie harten Widerstand entgegenbrachte, läßt Fréchette den Zuschauer teil haben an ihren persönlichen, doch sogleich allgemein gültigen Ansichten und Einsichten über das Verhältnis von Mensch und Natur.

Im gleichen Wettbewerb wurde Johan Grimonprez’ Arbeit »Kobarweng or Where is Your Helicopter?« (B/USA 1992) nominiert. Grimonprez, der selbst Anthropologie studiert hat, setzt sich mit der ethnologischen Wahrnehmung des Anderen auseinander. Er rekonstruiert die Entdeckung einer unbekannten Siedlung in Neuguinea teils qua mündlicher Überlieferung, teils qua Archivmaterial. Im Verlauf des Essays gelingt es dem belgischen Künstler die Perspektive zwischen Beobachter und Beobachtetem so zu ändern, dass die der Wissenschaftler als exotisch erscheint.

Schließlich wurde im Jahr 2000 ein Band nominiert, welches ebenso wie das von Grimonprez dem gesellschaftlichen Diskurs verpflichtet ist: »COO-COO-CACAACHOO [Cibu-Ciba]«, (1999) von Olivera Miloš Todorović. Im nachdiktatorischen Belgrad erobert die Popmusik die Stadt, demokratisiert sie, indem Menschen über Sprachbarrieren hinaus auf der einfachen Formel des Pop zueinander finden, sich verständigen.

Ursula Biemann gewann mit »Writing Desire« (2000) den Sonderpreis im Jahr 2002. In diesem ebenfalls in der Videosammlung des ZKM vorhandenen Werk setzt sie sich mit dem Problemfeld Sprache-Netz-Körperlichkeit auseinander. In der Ausstellung »Der Videoessay« ist »Remote Sensing« (2001) zu sehen. Die Arbeit umkreist die Fragestellung nach den Auswirkungen der Globalisierung, den Veränderungen der Grenzen sowohl physischer als auch ökonomischer Art, auf das Leben von Frauen, welches insbesondere in den lateinamerikanischen, osteuropäischen und asiatischen Gebieten drastische Folgen zeitigt. Wobei Schmuggeln als letzte Überlebenschance noch als die harmlosere Variante angesehen werden darf angesichts freiwilliger oder erzwungener Prostitution, die als 'Nebenwirkung' einer rasanten kapitalistischen und technologischen Eroberungsstrategie sich ausbreitet.

Die in Berlin lebende Eléonore de Montesquiou geht in ihren Arbeiten von akustischen Materialien aus: Interviews, Gesprächsfetzen, Erzählungen. Die Videobilder dienen jedoch nicht lediglich der Anschauung, sondern sie reflektieren auf subjektive Art die faktischen Tondokumente, so in »My home is my castle« (2001) und in den kurzen Stücken »Ich habe meine Gedichte verloren« (2001) die der »Unterhaltung zweier älterer, leicht debiler Frauen« folgen.

Ebenfalls in der Sammlung befindet sich das Band »W. S. Burroughs. Gesandter des Abschaums [Commissioner of Sewers]« (1991) von Klaus Maeck. Ausgangspunkt war eine Lesung, die der amerikanische Underground-Dichter 1986 in Berlin hielt. Maeck kombiniert Ausschnitte dieses Auftritts mit Interviewszenen [Jürgen Ploog im Gespräch mit Burroughs] und Beispielen aus Burroughs eigenem bildnerischen Schaffen wie Sequenzen aus Experimentalfilmen der frühen 60er Jahre sowie Bildern.

Konzept und Text (2004): Barbara Könches

1) Hanno Möbius (Hrsg.), »Versuche über den Essayfilm«, (Augen-Blick. Marburger Hefte zur Medienwissenschaft, 10), Institut für Neuere deutsche Literatur der Philipps-Universität-Marburg: Marburg 1991, S. 10–24.
2) Harun Forocki im Gespräch mit Rembert Hüser, »Obdachlose am Flughafen. Sprache und Film, Filmsprache«, in: »Jungle World«, Nr. 46/2000, 8. November 2000, URL: http://www.nadir.org/nadir/periodika/jungle_world/_2000/46/15a.htm (Stand: 2004).
3) Hito Steyerl, »Politik der Wahrheit. Dokumentarismen im Kunstfeld«, in: »Springerin. Hefte für Gegenwartskunst«, 3/03, URL: http://www.springerin.at/de/ (Stand 2004).
4) Institut für Theorie der Gestaltung und Kunst Zürich, Symposium »Stuff it«, 31. Mai bis 2. Juni 2002, in Kollaboration mit dem Migros Museum für Gegenwartskunst, URL: http://www.ith-z.ch/u/video/intro/ (Stand: 2004).
5) Theodor W. Adorno, »Der Essay als Form«, in: Rolf Tiedemann (Hrsg.), »Noten zur Literatur«, Band 11, Suhrkamp: Frankfurt am Main 1988, S. 24.