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Andrew Barry: Die Konstituenten Europas

Rede zur Finissage de Ausstellung »Making Things Public« am 2. Oktober 2005

© ZKM | Zentrum für Kunst und Medien Karlsruhe, Foto: Wamhof
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D7 Paragraph: mod_text / GPC_ID: 2885
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Ich würde akzeptieren, dass die Briten erst noch einen positiven Beitrag zum Nachdenken über die europäische Verfassung, ganz zu schweigen vom Republikanismus, liefern müssen. Tatsächlich aber ist das genaue Gegenteil der Fall. Frau Thatcher war bekannt für ihre feindselige Haltung gegenüber dem, was die Briten nach wie vor gerne als »den Kontinent« bezeichnen, und zog es vor, es für möglich zu halten, Europa als einen einzigen Markt zu betrachten, ohne sonst irgendetwas zu unternehmen. Ohne wirklich zu bedenken, mit wieviel Arbeit die Schaffung eines Marktes verbunden ist. Ohne zu bedenken, dass sich daraus unzählige neue europäische Objekte und Standards ergeben würden! Und erst recht, ohne die neuen Formen europäischer Politik zu bedenken, die sich mit allen diesen neuen europäischen Objekten und »Öffentlichkeiten« befassen würden, an deren Entstehung sie unfreiwilligen Anteil hatte!

Doch vielleicht gibt es einen bescheidenen - sehr bescheidenen! - aber ich hoffe konstruktiven britischen Beitrag zum Schreiben einer neuen europäischen Verfassung, der ein wenig für die Vergangenheit entschädigen wird. Die britische Fassung ist, natürlich, wie allgemein bekannt gar kein Dokument, sondern wird von ihren Interpreten in die Tat umgesetzt. Es gibt ganze Regale voller langweiliger Bücher über die britische Verfassung, aber keinen schriftlichen Verfassungstext. Ja wenn man sich all die Schriften über die britische Verfassung ansähe, würde man feststellen, dass sie eine höchst ungleichartige Menge an Praktiken, Gesetzen und Präzedenzfällen enthalten. Etwas aber ist offenkundig. Diesen britischen Verfassungsrechtlern ging es nie vorrangig um die Gesellschaft oder Zivilgesellschaft, bei denen es sich ja letztlich auch um »kontinentale« Ideen handelt. Sondern es ging ihnen um Fragen wie die, ob das Parlament oder der Souverän oder der Premierminister imstande ist, dieses oder jenes zu tun, auch wenn es nicht zwangsläufig ein Dokument geben muss, welches das eine oder das andere eindeutig festlegt.

Es ist leicht, diese zahllosen Schriften über die britische Verfassung als irrelevant abzutun. Mit ihrer ständigen Berufung auf die Geschichte, auf Präzedenzfälle und, natürlich, auf die Königin behaupten die britischen Verfassungsrechtler, die Briten benötigten gar keine schriftliche Verfassung, da ihre ungeschriebene ohnehin überlegen sei. Warum etwas aufschreiben, das des Aufschreibens gar nicht bedarf! Edmund Burkes Reflections on the Revolution in France war eine Warnung an die Briten, nicht die schlechte Idee zu importieren, eine Verfassung sei etwas, auf der alles andere aufbaue. Während ziemlich unklar ist, was die britische Verfassung ist, liegt es auf der Hand, was sie nicht ist. Walter Bagehot, Autor eines der einflussreichsten Texte des 19. Jahrhunderts über die britische Verfassung, wies darauf hin, dass das »sichtbare Experiment [des allgemeinen Wahlrechts in Frankreich] den ouvriers nicht unbedingt helfen wird«. Britische Verfassungsrechtler neigten zu der Annahme, das schriftliche Festhalten von Sachverhalten in Form einer Verfassung komme einem Akt revolutionärer Gewalt ziemlich nahe. Ehrerbietung gegenüber der Autorität und dem, was die Engländer gerne als »the great and the good« bezeichnen, war ein besserer Garant für die Freiheit als die Sicherheit schriftlicher Verfassungen und die Ungewissheiten sichtbarer und öffentlicher Experimente.

Aber auch wenn Autoren, die sich zur britischen Verfassung äußern, nicht über die Gesellschaft sprechen, verwenden sie gelegentlich ein anderes Wort: die Konstituente oder der Wähler [constituent]. Mitglieder des Parlaments sind »Wählerschaft [constituency] MPs«, das heißt, sie repräsentieren ihre Konstizenten/Wähler. Vielleicht könnte sich diese über Gebühr beanspruchte Idee des Wählers bzw. der Konstituente beim Umschreiben der europäischen Verfassung als nützlich erweisen. Schließlich haben Verfassungen nicht nur Leitprinzipien, sondern auch Konstituenten: jene Dinge, aus denen sie bestehen. Chemische Konstituenten bilden sich selbst in ihren Beziehungen und Reaktionen und machen die Chemie vor allem zu einer Experimentalwissenschaft. Wenn dies also eine konstitutionelle Versammlung wäre, gäbe es vielleicht, ungeachtet der gräßlichen Beispiele der 3Bs - Burke, Bagehot und Blair –, doch noch einen Beitrag, den die britischen Verfassungsrechtler zu Europa liefern könnten. Denn was als Teil der britischen Verfassung gelten darf und was nicht ist für unterschiedliche Autoren völlig unsicher und offen. Und daher auch offen für Modifikationen. Hinter den Schriften von Burke, Bageshot und ihren Anhängern verbirgt sich ein radikaler politischer Empirismus. Wie diese Ausstellung so deutlich gezeigt hat, sind die Konstituenten/Wählers Europas durchaus aktiv dabei! Ungeachtet Burkes Warnungen nehmen sie an öffentlichen Experimenten Anteil! Und sie werfen ständig verfassungsrechtliche Fragen auf:

Spielt es beispielsweise eine Rolle, dass Prince Charles, der Thronfolger und Herzog von Cornwall, das Etikett »Dutchy’s originals« auf Packungen mit auf seinen Gütern hergestellten organischen Würsten anbringt und dadurch die Grenzen zwischen Souveränität und Marketing verwischt?! Ja, natürlich! Oder werden die Betroffenen zu europäischen Konstituenten, wenn Aktivisten die Aufmerksamkeit auf den Schaden richten, den europäische Firmen beim Bau eines Dammes verursacht haben? Warum nicht? Die europäische Verfassung verändert sich ständig. Mal nimmt die Zahl ihrer Konstituenten zu, mal nimmt sie ab. In Anerkennung dieses Sachverhalts schlage ich die folgende Ergänzung der Präambel vor, die, wie ich hoffe, die Möglichkeit eines gewissen politischen Brückenschlags über den Ärmelkanal hinweg bietet:

PRÄAMBEL ZUR EUROPÄISCHEN VERFASSUNG

1. Der Begriff europäische Verfassung soll für die Art und Weise
    stehen, wie die Konstituenten Europas das geworden sind,
    was sie sind.
2. Die europäische Union besteht aus Wählerschaften
    [constituencies], die sich gebildet haben, um gemeinsame
    Probleme und Ungerechtigkeiten in Angriff zu nehmen.
    Sämtlichen Konstituenten/ Wählern Europas sollte es
    ermöglicht werden, Wählerschaften zu bilden.
3. Zu den Konstituenten Europas zählen unter anderem Dinge,
    Flüsse, Personen, Gebäude, Luft, Maschinen, Konsumgüter,
    Lärm, Umweltverschmutzung und Tiere.
4. Die Konstituenten Europas variieren, je nachdem, welche
    Konstituenten betroffen sind und wie und wo sie
    zusammenkommen. Keinem Konstituenten sollte es erlaubt
    werden, zu irgendeiner Zeit ein Monopol zu bilden. Die
    Liste von Europäern sollte zu keinem Zeitpunkt von
    irgendeiner Körperschaft oder souveränen Macht
    eingeschränkt werden.
5. Das politische Leben Europas hat sich nie auf Parlamente und
    Regierungsämter beschränkt. Die Europäische Union erkennt
    die Bedeutung von Karten, Modellen, öffentlichen
    Versammlungen, wissenschaftlichen Darlegungen und
    Theater an, um ihren Konstitenten Ausdruck zu verleihen.
    Sie bestätigt das Recht auf politische Experimente!

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