Dieter Hacker: Die Utopie einer neuen Volkskunst
Dieter Hackers programmatischer Text "Utopie einer neuen Volkskunst" erscheint 1978 in der vierten Ausgabe der Zeitschrift »Volksfoto«, die von ihm und Andreas Seltzer herausgegeben wird. Er wirbt für eine "neue Volkskunst" und einen veränderten Blick auf die ästhetischen Strategien von Amateuren.
Volkskunst – das Wort befremdet. Der Begriff des Volkes, suspekt durch seine unmittelbare Vergangenheit, löst Abwehr aus. Niemand will dazugehören und das Volk selbst versteht sich nicht als solches. Im Sinne der nationalen Identität umreißt der Begriff kein genaues Verständnis mehr und als Bezeichnung für eine soziale Klasse ist es außer Gebrauch, schon deshalb, weil kaum noch das Bewusstsein über die Existenz von Klassen besteht.
Anders, aber nicht besser ergeht es dem Wort Kunst. Darüber, was eine ist und was keine und ob es vom Können kommt, vom Wissen oder vom Geld, ist an den Stammtischen so viel und so geredet worden, dass jede Diskussion sich nur noch auf den eingefahrenen Gleisen zu bewegen pflegt.
Dem Wort Volkskunst, der Verbindung von beidem – traditionell gebraucht für die Folklore – haftet auch deren Unechtes an und die Assoziation von Lederhosen lässt sich nur schwer vertreiben.
Warum also die forcierte Verwendung dieses Begriffes?
Die unsichere Reaktion auf die Begriffe macht ein Maß an Entfremdung des Selbstverständnisses von der Geschichte deutlich und einen Mangel an Projektion der eigenen Existenz in die Zukunft, dass schwerfallen würde, künstlerische Produktion noch zu rechtfertigen, wollte man diesen labilen Zustand resignierend als unveränderbar hinnehmen.
Die Suche nach den Möglichkeiten einer neuen Volkskunst und das Beharren auf dem belasteten Wort heißt also hoffen, dass es gelingen möge, etwas ans Licht zu verhelfen, was seine Wurzeln in der alten Volkskunst hat, die gegenwärtige Lebensweise zu ihrem Ausdruck bringt und so die trübe Aussicht in die Zukunft zu klären hiIft.
Fatamorgana
Folklore ist das versteinerte Relikt von Handlungen und Erzeugnissen, die einmal in Übereinstimmung mit den Lebensbedingungen entstanden waren. Während diese sich längst verändert haben, blieben dann und wann ihre Produkte und Ausdrucksformen erhalten, häufig durch den Motor des Geschäfts. Durch die Entwurzelung von ihrem Sinn entblößt und poliert für den Konsum, füllen sie aber offensichtlich ein Vakuum. Die Motive dieser Traditionspflege sind auch das eigentlich Interessante. Zahllose, in Sänger- und Trachtenvereinen Organisierte, sind mit Eifer und Ernst bei der Sache und sogar eine durchkommerzialisierte Show wie die Passionsspiele von Oberammergau drängt die Frage auf, warum so viele das anschauen. Nicht von der Hand zu weisen ist der Gedanke, dass hier der Feierabend einlösen soll, was der Alltag nicht einmal mehr verspricht. Das Gesicherte des Volksliedes etwa und seine Tradition ist das Solide, das die instabile Familie, schnell wechselnde politische Ereignisse und viele, aber oft nur oberflächliche soziale Kontakte nicht mehr bieten.
Vor allem aber findet die angesichts der hohen Kunst der Gegenwart erlebte Ohnmacht ihre aufsässige Reaktion in der Zuwendung zum verständlichen und einfach schönen "Kunstwerk". So erlebt man die Teilnahme am kulturellen Prozess und wenigstens der Aktive die persönliche Entscheidung, tun zu können, was er für wichtig hält.
Andererseits fehlt der Beschäftigung mit der Folklore jegliche Bereitschaft zum Wagnis einen unerprobten Gedanken zu denken, eine neue Empfindung zuzulassen. Mehr noch, alle investierte Energie dient letztlich der Betäubung, der Ablenkung vom als unbefriedigt erlebten Leben, statt dessen Beherrschung.
So sind die entscheidenden Impulse vernichtet, indem sie nur noch dienen, im erkalteten Kulturbrei zu rühren.
Symbiose
Volkskunst ist ohne die Kunst nicht zu denken, so wenig wie umgekehrt, es sei denn, die Kunst fände sich mit ihrer esoterischen Endzeitexistenz ab. Darauf weist allerdings einiges hin.
Die eindrucksvollsten Werke der Kunst dieses Jahrhunderts offenbaren keine zukunftweisenden Perspektiven – vielleicht die der Freiheit, die Kunst durch ihre eigene Entwicklung demonstriert – die aber durch ihren Abstand von den Realitäten nicht einmal mehr zur gesellschaftlichen Utopie taugt. Das Rasende ihrer Metamorphosen und ihre extrem disparate Struktur zeigen allerdings unbeabsichtigt durchaus etwas über die gesellschaftlichen Zustände. Avantgardekunst, wie wir sie seit Beginn des Jahrhunderts kennen, wirkt nicht mehr ein auf die gesellschaftlichen Zustände, macht auch den Versuch nicht mehr, sondern hat sich resignierend zurückgezogen aufs eigene Terrain. Das aber ist Indiz auch für das Auseinanderfallen gesellschaftsbestimmender Bereiche wie Politik, Wissenschaft und Kunst.
Die während der Feudalherrschaft, insbesondere aber zur Zeit des aufstrebenden Bürgertums wichtige Repräsentationsfunktion der Kunst ist heute reduziert aufs Tändeln mit dem exaltiert Fremdartigen. Wie mit einem Mannequin kann der noch immer herrschende Bürger sich mit einer Sammlung zeitgenössischer Kunst schmücken. Im Unterschied zur Renaissance oder dem Barock bringt aber das Kunstwerk nicht mehr Empfindung und Denken der Zeit zur Anschauung, als dessen vitaler Bestandteil es sich begreifen würde. Sofern zeitgenössische Kunst das fehlende kulturelle Selbstverständnis des Bürgertums vorführt, von einem proletarischen ganz zu schweigen und sofern sie unbeabsichtigt den Abbau von Kultur im Sinne der abendländischen Tradition vorführt, ist sie also durchaus wahr. Der Freistellung von einer umgreifenden Weltanschauung, ihrem Rückzug auf sich selbst und der dadurch ermöglichten Einführung des artistischen Experiments als Bewertungskategorie verdankt Avantgardekunst ihre schillernde Entfaltung, die sie für den Kenner und Liebhaber genussreich machen kann.
Aber nach bald einem Jahrhundert exzessiven Experimentierens scheint diese Methode erschöpft, zumal die auf diese Weise vorangetriebene Entfremdung von den anderen Lebensbereichen den Verlust auch noch der restlichen gesellschaftlichen Funktionen der Kunst in Aussicht stellt. Je weiter sich die hohe Kunst von den gängigen kulturellen Standards entfernte, umso mehr verkamen diese entweder zum Kulturtourismus oder sie sanken ab auf das triviale Vergnügen, das etwa die Folklore bietet.
Mit der Entrückung der Kunst aus dem wenigstens für Interessierte noch zugänglichen Verständnisbereich geriet auch vollends aus dem Blickfeld, dass schöpferisches Handeln nicht das Privileg weniger Berufskünstler zu sein braucht. Wo allerdings versucht wird, in der Manier vieler Volkshochschulkurse die traditionellen künstlerischen Tätigkeiten wie malen, schreiben, fotografieren oder modelIieren zu "demokratisieren", den Gutwilligen zu einem Hobbykünstler auszubilden, sitzt man einem Missverständnis auf. Der Hobbykünstler reproduziert nur als Dilettant, was die große Kunst vorgemacht hat. Die "künstlerischen" Wochenenderzeugnisse unterwerfen sich willig den Regeln der Kunst. Sie sind nicht Erzeugnisse kulturell Emanzipierter. Deshalb bleiben ihre Flügel gestutzt, wo das wahre Kunstwerk aufsteigt. Ursache aber ist nicht etwa eine besondere Befähigung von Künstlern. Der schöpferische Wille des Hobbykünstlers ist nur in eine falsche Richtung gelenkt.
Der Versuch zur Inauguration einer neuen Volkskunst kann nur ein Akt der Kunst sein.
Im Interesse ihres eigenen Fortbestehens als eine die gesellschaftliche Entwicklung mitbestimmende Kraft muss sie einen Weg finden, ihre Isolation zu korrigieren, ohne volkstümelnde Anpassung an den verbreiteten Geschmack. Die Suche nach konkreten Ansätzen wirklicher Volkskunst, deren Bearbeitung und der Entwurf einer tragfähigen Entwicklungsperspektive ist eine Aufgabe der Kunst. Volkskunst wäre der Boden, in dem hohe Kunst wurzelt, um umso kräftiger wachsen zu können. Umgekehrt blieben die Ansätze zur Volkskunst unbemerkt und unentwickelt ohne Zuwendung der Kunst, die sie auch aus dem oft nur pragmatisch aufs Ziel ausgerichteten Zustand zu erlösen vermag.
Die Symbiose von beidem – Kunst und Volkskunst – ihr aufeinander Angewiesensein, bedeutet aber nicht, dass sie ihrem Wesen nach gleich, oder die Formen, in denen sie erscheinen, ähnlich sein müssten.
Gemeinsam ist ihnen beiden als ihr grundsätzlicher Wesenszug, dass in ihnen Wahrheit anschaulich wird, aber nicht nur in dem Sinne, dass sie Wahrheit aufdecken würden sondern sie selbst sind Ereignisse, Eingriffe ins bis dahin Gewesene, durch die sichtbar wird, was bisher verborgen war. Unterschiedlich aber ist die Weise, in der Kunst und Volkskunst dies vollbringen und unterschiedlich ist deshalb auch das Aussehen der Werke.
Kunst entsteht nicht aus einem spontanen Akt. Die Bindung an die Geschichte seines Metiers im bestimmten Kulturraum befreit das Kunstwerk aus der bloß subjektiven Beziehung zu seinem Hersteller. Diese Geschichte bildet den Hintergrund, aus dem heraus das Kunstwerk bewertet wird. Jedes bedeutende Werk aber verändert den historischen Hintergrund für die nachfolgenden Werke, während es selbst in ihn eingeht und so ein Teil der Kunsthistorie wird. Auch aus ihrer Geschichtlichkeit heraus ist die Kunst ein Mittel zum Selbstverständnis menschlichen Daseins. "Kunst ist im wörtlichen Sinne des Wortes Welt-Anschauung" (H.-G. Gadamer). In deren Rahmen und gleichzeitig kann das große Kunstwerk Projektion individueller und sozialer Utopien sein. Jedes Kunstwerk also – und das unterscheidet es vom Wesen des allgemeinen ästhetischen Verhaltens – wird innerhalb eines historischen Bezugssystems produziert und ist auch nur in dessen Kenntnis – über das bloße Geschmacksurteil hinaus – zu erfassen.
Diese Umstände waren nicht seit je die gleichen, sind geworden und sind trotzdem in ihren Grundzügen nicht mehr revidierbar. So ist die Methode nicht glaubwürdig, die Distanz aktueller Kunst zu ihrem Publikum einfach durch den historischen Rückgriff zu verringern – wie es etwa der sozialistische Realismus vor führt –, Werke anzufertigen, die ihre leichtere Zugänglichkeit der Ignoranz gegenüber den Konsequenzen verdanken, die in den historischen Kunstwerken angelegt sind, auf die auch sie sich berufen.
Urkunst
Dem Wesen des ästhetischen Verhaltens näher zu kommen, sind vielleicht Überlegungen zum Ursprung der Kunst ein Weg.
Theodor W. Adorno notierte in der »Ästhetischen Theorie« (1970):
"Ältere Kunst als die paläolithische ist nicht erhalten. Fraglos aber hebt Kunst nicht mit Werken an, mögen sie überwiegend magisch oder bereits ästhetisch sein. Die Höhlenzeichnungen sind Stufe eines Prozesses und keineswegs eine frühe. Den frühgeschichtlichen Bildern muss die mimetische Verhaltensweise vorausgegangen sein, das sich selbst einem anderen Gleichmachen, nicht durchaus koinzidierend mit dem Aberglauben an direkte Einwirkung ..."
"Wo der Angehörige des Clans das Totemtier oder eine gefürchtete Gottheit imitiert, zu ihr sich macht, bildet sich der Ausdruck, ein Anderes als der Einzelne für sich ist.
Während Ausdruck scheinbar zur Subjektivität rechnet, wohnt ihm, der Entäußerung, ebenso das Nicht-Ich, wohl das Kollektiv inne. Indem das zum Ausdruck erwachende Subjekt dessen Sanktion sucht, ist der Ausdruck bereits Zeugnis eines Risses. Erst mit der Verfestigung von Subjekt zum Selbstbewusstsein verselbstständigt sich der Ausdruck zu dem eines solchen Subjekts, behält aber den Gestus des sich zu etwas Machens. Abbilden könnte als Verdinglichung dieser Verhaltensweise gedeutet werden, Feind eben der Regung, welche der freilich seinerseits schon rudimentär objektivierte Ausdruck ist. Zugleich ist solche Verdinglichung durchs Abbild auch emanzipatorisch: sie hilft den Ausdruck befreien, indem sie ihn dem Subjekt verfügbar macht. Einmal waren die Menschen vielleicht ausdruckslos wie die Tiere, die nicht lachen und weinen, während doch ihre Gestalten objektiv etwas ausdrücken, ohne dass wohl die Tiere etwas verspürten. Daran erinnern die Gorilla – ähnlichen Masken, dann die Kunstwerke. Ausdruck, das naturhafte Moment der Kunst, ist als solches schon ein Anderes als bloß Natur."
Die Tradition unseres Denkens, das die seit Tausenden von Jahren sich vollziehende Arbeitsteilung forciert und in der Klassifizierung menschlichen Handelns in den Unterbau und den kulturellen Überbau zugespitzt sich ausdrückt, verstellt uns den Blick auf die Vielfalt ästhetischen Verhaltens. Bezeichnenderweise gelten gerade die Höhlenzeichnungen als Inbegriff der Urkunst, einmal sicher, weil gerade sie erhalten sind, aber auch, weil sie den Schemata unseres Kunstbegriffes am ehesten entsprechen.
Sie scheinen eine Überhöhung des uns unbekannten täglichen Lebens der Steinzeitmenschen, die ersten Zeugnisse von Transzendierung menschlicher Existenz. In der rigorosen Einseitigkeit dieses Verständnisses liegt vielleicht eine der Ursachen, die uns die plausible Verbindung heutiger Kunstwerke mit unseren existentiellen Interessen so schwierig macht. Denn sicherlich war sowohl die Wandzeichnung, als auch der rituelle Tanz nur ein kleiner Teil aus dem Ausdrucksspektrum des Urmenschen. In der Art des Umgangs der Mitglieder des Clans untereinander, im Kampf mit dem Feind, im Nachahmen der Stimme eines Tieres, um es anzulocken, – darf man vermuten – hat der ästhetische Ausdruck seit jeher eine Rolle gespielt. Und wo zum Beispiel bei der Tierimitation das unmittelbar auf das Ziel gerichtete Verhalten aufhört, nämlich die Jagd des Tieres, und die Freude an der Musik beginnt, wird schwer zu entscheiden sein. Wo auch kein Grund zu dieser Entscheidung besteht, ist doch in der abendländischen Kultur aus der kleinen Differenz ein Prinzip entwickelt worden, dem sie zwar ihre Entfaltung verdankt, das aber auch die Ursache dafür ist, dass etwa die heutige Kunstmusik mit den täglich erzeugten Geräuschen kaum noch etwas zu tun hat. Dieser Ursprung der Kunst – als ästhetisches Verhalten noch nicht in der heutigen Schärfe getrennt war in einen “trivialen” und einen artifiziellen Bereichbietet einen Hinweis darauf, was unter einer neuen Volkskunst zu verstehen wäre. Das “triviale” Verhalten nämlich existiert wie seit je: eine Wohnung einzurichten, sich bewusst zu kleiden oder in der Badewanne zu singen.
Volkskunst hat ihren Grund nicht in der hohen Kunst, die sie nur schlechter nachahmen könnte, sondern in diesem alltäglichen ästhetischen Verhalten.
Ego
Volkskunst ist die Antithese zum totalen Konsum. Ihr Revolutionäres liegt in der individuellen Produktion.
Dem verbreiteten Mangel an persönlicher Handlungsfreiheit im Beruf steht nicht etwa ein entwickeltes Freizeitleben gegenüber. Eine Untersuchung, die an der Bremer Universität durchgeführt wurde [Bremer Universitätszeitung, Jahrg. Nr. 8] zeigt, dass die Kompensationsthese nicht haltbar ist. Dieser These zufolge wird der Mangel an Identifikation mit dem Beruf und das nicht befriedigte Bedürfnis nach Entfaltung der eigenen Fähigkeiten in der Arbeit durch eine Vielzahl von Freizeitbeschäftigungen ausgeglichen. Die Untersuchung zeigt im Gegenteil, dass die inhumansten Arbeitsbedingungen, wie etwa die des Fließbandarbeiters auch das verkümmertste Freizeitleben zur Folge haben, während schon qualifiziertere Arbeiter ihre Freizeit vielfältiger verbringen.
Auch die vielfältigste Freizeitbeschäftigung aber, die ihren Höhepunkt im organisierten Abenteuerurlaub findet, kann nicht darüber täuschen, dass ihre Quelle in aller Regel nicht die individuelle Entscheidung ist, sondern die totale Verwaltung. Unter dem Anschein zunehmender Liberalisierung von Arbeits- und Freizeitleben beschleunigt sich in Wahrheit diese Entwicklung. So dient die mit Aufregung geführte Diskussion um die Einführung des Kabelfernsehens letztlich doch nur den Herstellern der Geräte. Denn man darf vermuten, dass die angeblich humanen Möglichkeiten dieser Einrichtung, die dem bisher passiven Fernsehzuschauer gestatten, in der begrenzten Region ins Programm sich einzuschalten, von diesem nur in meinungskonformer Weise genutzt werden. Das Kabelfernsehen hätte keine Chance, mit der technischen Möglichkeit zum Feedback eingeführt zu werden, wüssten das nicht alle an der Entscheidung Beteiligten.
In Wirklichkeit werden nur die letzten Lücken der freien Zeit gefüllt mit technischem Angebot. So können beispielsweise durch das Videoaufzeichnungsgerät Fernsehprogramme optimal ausgenutzt werden und drohen so noch die Reste individueller Handlungen zu ersticken, obwohl die gleiche Technik auch ein produktives Verhalten ermöglichen würde.
Die Freiheiten, die die Technik verspricht, kann sie und will sie nicht einlösen. Der Ansatz liegt woanders.
Jeder Mensch produziert auch sein eigenes Programm und sei es das bescheidenste. Manchmal ist es eine körperliche Eigenart, manchmal eine Fertigkeit wie gut pfeifen zu können oder eine intellektuelle Leistung, wie Witze zu erfinden.
Solche Eigenschaften unterscheiden die Individuen und werden meist liebevoll gepflegt.
Dann und wann blitzt die Besonderheit auf, in der vertrauten Umgebung, in der Kneipe, findet ihre Anerkennung und erlaubt ihrem Eigner die Freude an seiner Unverwechselbarkeit. Außerhalb dieses engsten Umkreises aber gilt sie nichts, wird allenfalls als persönliche Kuriosität eingeschätzt. Dem mangelnden Bewusstsein über die Wichtigkeit solcher Unverwechselbarkeiten – nicht zuletzt auch bei ihren Urhebern selbst – folgt, dass sie kaum als Basis der eigenen Emanzipation benutzt werden. Das Selbstvertrauen, das dazu nötig wäre, werfen sie nicht ab, um so weniger unter dem gleichmacherischen Druck, der von den Repräsentanten industrieller Zivilisation ausgeübt wird.
Trotzdem – schärft man den Blick für die Erscheinungsformen individuellen Ausdrucks, findet man doch ein überraschend großes Spektrum, in dem die Merkmale persönlicher Unverwechselbarkeit nur die einfachsten Formen darstellen. Von diesen, bis zu den Formen organisierten politischen Handelns reicht der Raum, der die Grundlage einer neuen Volkskunst sein könnte.
Nutzen
Die Produktion eigener Ideen und ihr engagierter Einsatz beginnt nicht bei der sozialen oder politischen Handlung, die, wenn sie Substanz haben soll, aus viel ursprünglicheren Erfahrungen eigener Leistungsfähigkeit erst entspringen kann. Aus freier Entscheidung nützliche Arbeit für Andere kann erst leisten, wer gelernt hat, so zu handeln, dass es auch ihm selber nützt.
Der ursprünglichste Nutzen der selbstbestimmten Handlung ist der Triumph, gegen die Gewohnheiten des Bedientwerdens selber etwas verfertigt zu haben. Reinhold Messner und Peter Habeier, die zum ersten Mal den Mount Everest ohne Sauerstoffgeräte begingen, sagten zur Begründung: “Ohne technische Tricks wollen wir den höchsten Gipfel der Erde bezwingen – sonst lassen wir es bleiben.” Und: “Es ist eleganter so.”
Die ästhetischen Kategorien von Purismus und Eleganz verweisen die ratlose Frage nach dem Sinn solch gigantischer Anstrengungen auf den persönlichen Nutzen, den die Handelnden aus ihnen ziehen. Nutzen also, das wird an diesem Beispiel deutlich, muss keineswegs Nutzen im Sinne einer sozialen Handlung sein und kann doch über das bloß Subjektive hinausstehen. Das narzisstische Erlebnis, das den Bergsteiger motiviert, wird eben dadurch, dass er sich das Recht dazu nimmt, beispielhaft und er in seiner Außerordentlichkeit sogar zur Verkörperung des Menschheitsmythos. Auch in den nicht spektakulären Fällen beinhaltet das Selber-Anfertigen ein Element der Verweigerung gegenüber der totalen Verwaltung, wenn es nicht bloß die schon wieder vom System geplante Freizeit- und Hobbytätigkeit ist.
Der persönliche Nutzen ist das solideste Motiv, sich anzustrengen. Sind die eingeführten Methoden nicht anwendbar oder führen sie nicht mehr zum Erfolg, bleibt die Wahl aufzugeben oder neue Wege zu finden. Nicht zufällig sind die Manifestationen sozialer Außenseiter besonders zugespitzt (siehe »Der Sendermann«), weil bei ihnen die Diskrepanz zwischen der selbst gesetzten Mission und der Schwierigkeit, sie auf legalem Wege zu veröffentlichen, besonders groß ist. Der Nutzen, den der Handelnde aus seiner Arbeit zieht, ist hier evident, denn die selbst geschaffene Öffentlichkeit ist zugleich psychisches Notventil und Selbstbestätigung der Teilnahme am sozialen Leben.
Widerstand
“Ich bin ein Rebell gegen den Staat” sagt Reiner Schiele und führt darauf die Schwierigkeiten zurück, die er bei Durchsetzung seines Rechts mit den Behörden hatte.
Nie werden wir eine Wandbeschriftung finden, in der ein Mieter seinen Hausbesitzer preist und sogar das anscheinend rein private Anliegen von Herrn D., eine Frau zu finden, verstößt in der Rigorosität seiner Selbsterkenntnis , seiner Einsicht in repressive gesellschaftliche Ursachen und der Konsequenz die er zieht, gegen das, was man tut.
Volkskunst ist immer ein Akt der Revolte, nie affirmativ und so das Gegenteil zu jeglicher Form unkritischer Staatstreue. Dieser Widerstand gegenüber den gültigen Normen unterscheidet Volkskunst auch von aller bloßen Hobby- und Freizeitbeschäftigung und eint sie mit den großen Werken der Kunst. Auch zu Zeiten, als es praktisch nur religiöse oder höfische Kunst gab, die naturgemäß den Wünschen der Auftraggeber entsprechen musste, hat Kunst ihr anarchistisches Moment nie völlig verloren, das sich – zwar getarnt – in den größten Werken zeigt. Heute, da Kunst ihre enge Bindung an die Herrschaft verloren hat, ist ihr oppositioneller Charakter um so mehr zu einer Frage ihrer Berechtigung geworden.
Der Widerstand gegen jede Form von Indoktrination ist eine Nahtstelle zwischen Kunst und Volkskunst. Im Unterschied aber zum großen Kunstwerk, dem der historische Kontext, aus dem es entsteht, die bloß private und ans Detail fixierte Aussage verbietet, ist diese geradezu die Domäne von Volkskunst. Von ihr kann man nicht die Weltanschauung verlangen, sondern gerade in der Darstellung subjektiven Erlebens liegt ihre Überzeugung und ihr Vorbild für den Beobachter.
Dies gilt auch für die politische Aktion. So ist die Bürgerinitiative gerade wegen ihres regionalen Charakters und der persönlichen Motivation ihrer Mitglieder glaubwürdig und die Aktionen der Palästinenser haben wenigstens bewirkt, die Aufmerksamkeit einer breiten Öffentlichkeit auf ihren Kampf um das für jeden konkrete Recht auf eine eigene Heimat zu lenken.
Widerstand ist Reaktion auf Leiden. Er muss nicht radikal sein, da er meist auch nicht aus einer Bedrohung der Existenz hervorgeht, sondern aus weniger schwerwiegenden Anlässen. Gerade deshalb aber bietet er sich als Vorbild an.
Widerstand des Einzelnen gegen seine völlige Unterwerfung unter das System ist nur Fortführung humanistischer Tradition und ohne ihn läuft das Ganze Gefahr, sich in einer Weise zu entwickeln, in der die Rechte der Individuen nicht mehr zählen. Als einem elementaren Teil der Beziehungen zwischen dem Einzelnen und dem Ganzen kommt deshalb im Widerstand grundsätzlich Wahrheit zum Ausdruck, die wichtiger ist, als die Wahrheit der spezifischen Botschaft. So sind die Botschaften von Rackl (»Neute Zeitrechnung«), der mit seinem Auftreten in der Öffentlichkeit die neue Zeitrechnung beginnen lässt, kaum wahr zu nennen in dem, was sie sagen. Entscheidender aber ist, dass er sie sagt und wie. Denn in ihrer Kontinuität, ihrer Vielfalt und Visualisierung sind sie Beispiele für Einen, der sich das Recht auf die eigene Meinung nicht nehmen lässt. Mit den angebotenen Weltanschauungen, Religionen etc. findet er sich nicht ab, sondern er produziert eine eigene und er veröffentlicht sie. So nimmt gerade er – trotz der Kuriosität seiner Botschaft – selbstbewusst am gesellschaftlichen Leben teil.
Öffentlichkeit
Jeder hat seine Meinung. Solange er sie für sich behält, bleibt sie folgenlos. Meinung ist darauf hin angelegt, öffentlich zu werden und sei es in Handlungen, zu deren Beschluss sie nur mittelbar beigetragen haben. Veröffentlichte Meinung erst macht die Individuen zu souveränen gesellschaftlichen Wesen. Tatsächlich ist die offene Meinung so selten wie die verborgene häufig. In der großen Geschichte wie in der persönlichen zählt aber nur, was realisiert worden ist, nicht, was man immer mal machen wollte. Erst die Veröffentlichung seiner Meinung macht sie auch für ihren Produzenten überprüfbar und so wiederum zur Voraussetzung seiner Bewusstseinsentwicklung. Dies ist der entscheidende Aspekt von Öffentlichkeit, mehr noch als der Wille zum Eingriff, den sie auch demonstriert. Durch die Veröffentlichung seiner Meinung verlässt man die Position des nur Rezipierenden und erhebt mit dem dazu gehörenden Selbstbewusstsein den Anspruch auf Mitwirkung.
Die Möglichkeiten öffentlich zu handeln sind unbegrenzt und unterschiedlich. Der Sitz am Meer zum Beispiel soll nur seinem Erbauer dienen. Aber dadurch, dass er da wirklich steht, wird er zum Anstoß, ohne dass sein Erbauer dies erfährt oder daran interessiert wäre.
Anders sind die Handlungen des Sendermanns von vornherein auf Öffentlichkeit hin angelegt (siehe oben). Er ist von Wahrheit und Wichtigkeit seiner Botschaft so überzeugt, dass seine Energie ungeteilt darauf zielt, sie in unsere Köpfe zu bringen.
Die forcierte Veröffentlichung individueller Erfahrungen und Meinungen und ihre Propagierung unter dem Begriff “Volkskunst” ist nicht gedacht als Konkurrenz zu den großen Informations- und Meinungsapparaten, also als neuerliche Institutionalisierung. Dieser Wettstreit wäre angesichts der Übermacht von vornherein verloren. Die Bürgerinitiative, die sich zur parlamentsfähigen Partei mausert, wird ihre ursprünglichen Intentionen bröckeln sehen, weil sie das Terrain verlässt, auf dem sie substantiell arbeiten kann. Und man braucht keine eigene Offset-Schnelldruckmaschine, um seine Meinung zu veröffentlichen, sondern nur den Kugelschreiber oder die Sprühdose.
Die Wichtigkeit der öffentlichen Aktion liegt gerade im persönlichen Motiv begründet und in ihrer Unabhängigkeit von komplizierten und beschränkenden Apparaten. Die Summe vieler Einzelerfahrungen und Einzelhandlungen führt vielleicht über die bloße Addition hinaus zur neuen Qualität der freien Assoziierung der Individuen.
Innovation
Walter Benjamins Überlegung, dass der Akzent neuer Kunst mehr auf ihrem sozialen Aspekt liegen sollte als auf dem ästhetischen, ist in den in diesem Heft gesammelten Beispielen einer neuen Volkskunst verwirklicht. Eben die Differenz zum Kunstwerk, entschiedener auf ein konkretes Ziel gerichtet zu sein – sei es der persönliche Nutzen oder der Versuch der Agitation – ermöglicht dies.
Kein einziges der Beispiele wurde offensichtlich hergestellt mit der Absicht, ein ästhetisches Gebilde zu schaffen. Umgekehrt die ästhetischen Mittel wurden als Mittel benutzt, um das gesetzte Ziel zu erreichen. Dies unterscheidet diese Beispiele von Volkskunst schon im Ansatz von Werken der Kunst. Ihnen fehlt die Aura des Kunstwerks, da sie ihre Borschaften versachlichen, die überdies keine Weltanschauungen formulieren, große Perspektiven zeichnen, sondern im Gegenteil sehr konkret auf die Gegenwart bezogen sind und auf ihre Urheber und deren reale Anliegen. Dies bestimmt die Wahl der ästhetischen Mittel.
Volkskunst drückt sich öfter noch in prozesshaften Handlungen aus, als in Werken. Aber schon das Spektrum der visuellen Werke ist vielfältig, da ihre Autoren nicht durch die Rücksichtnahme und das Schielen auf die große Kunst behindert sind, wie die Hobbykünstler. AIle Mittel sind erlaubt, die zum Ziel führen. Unter dem Primat der Botschaft die vermittelt werden soll , sind die verwendeten Mittel – orientiert an wechselnden Umständen – ohne Schwierigkeiten korrigierbar. Dies kann am Verfahren des Sendermanns veranschaulicht werden.
Der Sendermann begann mit Postwurfsendungen. Seine Nachrichten, handgeschrieben oder fotokopiert, warf er in die Briefkästen “wichtiger Personen”, deren Adressen er dem Telefonbuch entnahm. Dies erwies sich als zu mühsam und ineffizient. Deshalb kaufte er eine kleine Vervielfältigungsmaschine und verfertigte Flugblätter. Als in Berlin die Wandbeschriftungen sich auszubreiten und beachtet zu werden begannen, übernahm er dieses Mittel und vervollkommnete es in einer unverwechselbaren und wirksamen Weise. Die Nachstellungen der Polizei, die er sich dadurch zuzog, veranlassten ihn, schließlich wieder auf die Wandbeschriftungen zu verzichten und sich auf Straßenagitation mit Hilfe eines tragbaren Transparents – die nicht strafbar ist – zu beschränken. Angetrieben durch seine Mission und durch die ständige Veröffentlichung seiner Botschaften hat der Sendermann gelernt, seine Mittel den jeweiligen Umständen anzupassen.
Ein Blick auf die gegenwärtigen Zustände in der Welt kann uns kaum optimistisch stimmen, was die Zukunft der individuellen Selbstbestimmung und des mit ihr verbundenen souveränen sozialen Verhaltens anlangt. Die Tendenz in den Industrienationen beider politischen Blöcke weist eher ins Gegenteil. Die umfangreiche und durch die neuen technischen Möglichkeiten effiziente Verwaltung verwaltet auch zunehmend die Existenz der Individuen. Dieser Prozess scheint schon nicht mehr steuerbar, sondern im Wesen der Industrialisierung begründet.
Unter Besinnung auf eine Tradition, deren Leitbild das entwickelte Individuum ist, bleibt uns nur das TROTZDEM.