Merve Verlag

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Dry. Ein Magazin, Merve, Berlin 1983.

„[W]ir sind ein kleiner Underground-Verlag, non profit [...]. Wir wollen ein kleiner Verlag, unscheinbar und daneben sein, denn das macht uns irre Spaß. Rosarote Grüße“

Brief von Heidi Paris und Peter Gente an Roland Barthes am 9. Mai 1979. ZKM | Archiv, ZKM-01-0046-02-0007.

Peter Gente, Merve Lowien, Rüdiger Möllering und Michael Kwiatkowski gründeten 1970 in West-Berlin den Merve Verlag. Wolfgang Hagen stieß kurz darauf hinzu. In den folgenden Jahrzehnten durchlief das als neomarxistisches Kollektiv gestartete Projekt viele Entwicklungsphasen: Zunächst bestrebt, den deutschen Kadermarxismus durch Impulse aus Frankreich und Italien zu beleben, veröffentlichte der Verlag Texte der italienischen Kollektive Il Manifesto, Lotta Continua und Potere Operaio, aber auch von Autoren wie Louis Althusser, Jacques Rancière, u.v.a.m.

Als sich der Verlag 1974 vom Kollektiv zum Zwei-Personen-Betrieb wandelte, verabschiedete sich das Leitungsduo Heidi Paris und Peter Gente von marxistischen Theorien und suchte auf Initiative Paris‘ den Kontakt zu den poststrukturalistischen Theoretikern Frankreichs. Die 1977 herausgebrachte Publikation »Patchwork der Minderheiten« von Jean-François Lyotard besiegelte die Wende in der Verlagspolitik. Nicht mehr die großen Machtstrukturen und politischen Kämpfe standen im Fokus, sondern machtpolitische Taktiken gesellschaftlicher Minderheiten, die sich außerhalb des Zentrums behaupteten. Das kollektive Potential dieser kleinen Kämpfe interessierte nun. Das Format der Bücher passte sich diesem Inhalt an und schrumpfte auf das seither beibehaltene DIN B6-Format. Waren bisher alle Bücher in der Reihe »Internationale Marxistische Diskussion« erschienen, so kamen sie jetzt im »Internationalen Merve Diskurs« heraus und wurden bunter.

„Die Farbe ist schön geworden, der Drucker ist bei seiner Arbeit ganz schön abgedriftet, vielleicht hat er vom Text zu viel mitgekriegt.“

Brief von Heidi Paris und Peter Gente an Jean-François Lyotard am 1. Juni 1978 anlässlich der Veröffentlichung von »Intensitäten«. ZKM | Archiv, ZKM-01-0046-02-0203.

Durch seine AutorInnen begann der kleine Verlag den Diskurs in West-Berlin zu wesentlich zu bestimmen. Der Kulturhistoriker Philipp Felsch geht in seiner Verlagshistorie so weit, die 1980er-Jahre als „Merve-Epoche“ zu bezeichnen. Gleich 1980 brach Martin Kippenbergers »Frauen« mit dem bisherigen politischen Auftritt des Verlags: Die „Beutegalerie eines notorischen Machos“, wie Felsch den Bildband nennt, setzte sich nicht mehr für den Klassenkampf, wie die anfangs durch das Kollektiv herausgegebenen Bücher, oder die sogenannten kleinen Kämpfe von Frauen, Schwulen, Häftlingen und weiteren gesellschaftlichen Minderheiten ein, wie es unter dem Einfluss Heidi Paris zunehmend der Fall gewesen war. Immer mehr rückten Kunst, Musik und die ästhetische Theorie ins Zentrum des Paris-Gente-Universums. Mit Sylvère Lothringer und dessen Verlag Semiotext(e) bestand seit 1979 eine enge Zusammenarbeit und reger Austausch. Auch die Gedanken und Theorien Jean Baudrillards und Paul Virilios prägen Merve und seine LeserInnen seit Ende der 1970er-Jahre und über die Jahrtausendwende hinweg entscheidend.

Mit der Wende veränderte sich West-Berlin und Schöneberg, das für Gente und Paris wichtiger Feier- und Lebensraums gewesen war. Unter anderem die documenta X 1997 und die Technomusikszene wurden zum Einflussfeld des Verlags. Mit »Liebe Dein Symptom wie Dich selbst!« nahmen Gente und Paris 1991 Slavoj Žiźek ins Programm. Im Jahr darauf veröffentlichten sie das bis dato einzige Buch, das mit dem etablierten Format und Aussehen bricht: Gilles Deleuzes und Félix Guattaris »Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie«. Die Kunsttheorie blieb auch in diesem Jahrzehnt zentral: 1995 erschien »In der weißen Zelle. Inside the White Cube«, die erste deutsche Übersetzung des wegweisenden Essays von Brian O'Doherty. 1997 publizierten Schriftsteller Rainald Goetz und DJ Westbam »Mix, Cuts & Scratches«. Und am Ende des Jahrzehnts trat Tom Lamberty erstmals als Herausgeber in Erscheinung. Zusammen mit Frank Wulf brachte er in vier Büchern bis 2006 den Nachlass des Autors und Philosophen QRTs heraus.

Als Heidi Paris 2002 sich das Leben nahm, trat Tom Lamberty in den Verlag ein. Peter Gente zog sich langsam aus den Geschäften zurück. 2006 übergab er das Verlagsarchiv ans ZKM | Zentrum für Kunst und Medien Karlsruhe und wanderte ein Jahr später nach Thailand aus. Dort verstarb er 2014. Tom Lamberty verlegte den Verlagssitz 2017 nach Leipzig.

Während sich die Themen des Verlags durch die Jahrzehnte veränderten und weiterentwickelten, blieb die Form ihrer Veröffentlichung stets die gleiche: Zum einen hält der Verlag an der von Jochen Stankoswki gestalteten Raute für die Umschlagsgestaltung fest, zum anderen befinden sich zwischen den Buchdeckeln der Taschenbücher (fast immer) Text-Fragmente, Ausschnitte, Aufsätze, Interviews und (Streit-)Gespräche, Vorträge und Vorlesungen.

In insgesamt vierzig Kisten ging das Merve-Archiv 2006 in den ZKM-Bestand über. Allein die Verlagsbibliothek umfasst 1.543 Titel und erstreckt sich über rund 22 laufende Meter. Hinzukommen knapp zehn laufende Meter Archivalien. Einen Schwerpunkt bildet die Zeitungsausschnittsammlung Gentes, ergänzt durch Notizen des Verlegers. Neben einigen Manuskripten und Druckfahren sind auch Korrespondenzen erhalten. Unter anderem mit Theodor W. Adorno, Roland Barthes, Dirk Baecker, Jean Baudrillard, Hannes Böhringer, Daniel Charles, Gilles Deleuze, Heinz von Foerster, Michel Foucault, Felix Guattari, Johannes Gachnang, Pierre Klossowski, Sylvère Lotringer, Jean-François Lyotard, Herbert Marcuse, Harald Szeemann, Walther Seitter und Paul Virilio standen die Verlagsmitglieder oft freundschaftlich im Austausch. Die von Gründungsmitglied Rüdiger Möllering geschenkten Protokolle der Sitzungen in den Jahren 1970 bis 1972 geben darüber hinaus Einblick in diese frühe Phase des Merve-Kollektivs.

In den Jahren von 2002 bis 2007 organisierte das ZKM | Zentrum für Kunst und Medien Karlsruhe vier Ausstellungen mit dem Merve Verlag im Rahmen der Ausstellungs- und Symposiumsreihe »Die Philosophie und die Künste«. Auch hierzu finden sich im Verlagsarchiv sowie im institutionellen Archiv des ZKMs Bestände.

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