Pionier der Neuen Musik. Der Komponist Hermann Heiß

Erstveröffentlichung: »Mediagramm« Nr. 12, ZKM, Karlsruhe, Juli 1993

Portrait von Hermann Heiß

Im Juli 1993 beschrieb der damalige Leiter der ZKM | Audiosammlung, Thomas Gerwin, das Digitalisierungsprojekt zum akustischen und schriftlichen Nachlass des Komponisten Hermann Heiß: 

"In der Mediathek des ZKM wird der gesamte Nachlaß des Komponisten Hermann Heiß auf digitale Datenträger überspielt. Es handelt sich um Tonbänder, Schriften, Manuskripte, Programme und Partituren, die fast vollständig in der Hessischen Landes- und Hochschulbibliothek Darmstadt vorliegen und von dort zur Digitalisierung zur Verfügung gestellt werden. Die Originale werden an ihren angestammten Orten überspielt oder kehren nach der Archivierung im ZKM dorthin zurück. In digitaler Form wird die gesamte Sammlung Teil des Internationalen digitalen elektroakustischen Musikarchivs (IDEAMA) und steht ab 1996 in der Audiothek des ZKM für die Öffentlichkeit zur Benutzung bereit. In der Mediathek des ZKM wird der gesamte Nachlaß des Komponisten Hermann Heiß auf digitale Datenträger überspielt. Es handelt sich um Tonbänder, Schriften, Manuskripte, Programme und Partituren, die fast vollständig in der Hessischen Landes- und Hochschulbibliothek Darmstadt vorliegen und von dort zur Digitalisierung zur Verfügung gestellt werden. Die Originale werden an ihren angestammten Orten überspielt oder kehren nach der Archivierung im ZKM dorthin zurück. In digitaler Form wird die gesamte Sammlung Teil des Internationalen digitalen elektroakustischen Musikarchivs (IDEAMA) und steht ab 1996 in der Audiothek des ZKM für die Öffentlichkeit zur Benutzung bereit.

Als der Komponist und Theoretiker Hermann Heiß am 6. Dezember 1966 in seiner Heimatstadt Darmstadt starb, hinterließ er ein facettenreiches und ungewöhnliches Oeuvre. Seine medienübergreifenden Werke, die Sprache, Licht und Tanz einschlossen, seine Zwölftonkompositionen, seine Improvisationsstudien sowie seine Tonbewegungslehre, seine Pionierarbeit im Bereich der elektroakustischen Musik und vor allem seine Lehr- und Vortragstätigkeit, etwa bei den berühmten Darmstädter Ferienkursen, gaben Impulse für Musiker und Komponisten aus aller Welt.

Er wurde am 29. Dezember 1897 als jüngstes von elf Kindern in Darmstadt geboren und interessierte sich bereits in frühester Jugend für die Musik. Er schreibt in einem Brief:

“Es gab keine Platzmusik, bei der ich mich nicht zum Dirigenten stahl, um ihm mit einem Scheit Holz in der Hand zu assistieren (...) Mit den Eltern vierhändig am Klavier führten wir nicht nur Haydns, sondern auch selbsterfundene Kindersymphonien auf.”

Nachdem er kurzzeitig versucht hatte, “einen anständigen Beruf zu erlernen”, wurde er 1916 zum Militär einberufen. Nach der Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft 1919 begann er mit intensiven, hauptsächlich autodidaktischen Musikstudien. Als er sich 1923 zum ersten Mal mit der Zwölftontechik auseinandersetzte, der er durch seine eigene Arbeit “unbewußt schon ziemlich nahegekommen war”, stand er vor der Wahl, sich einem der beiden Protagonisten der Zwölftonmusik anzuschließen – Arnold Schönberg oder Josef Matthias Hauer. Schönberg überzeugte ihn durch sein kompositorisches Werk (damals gerade op. 23), Hauer durch seine, nach Heiß' Meinung ausbaufähigere Grundidee von der Zwölftontechnik. Also ging er 1925 für ein Vierteljahr zu Hauer nach Wien und arbeitete mit ihm “sozusagen Tag und Nacht”. Dabei entstand Hauers Schrift »Die Zwölftontechnik«, die er Hermann Heiß widmete. Heiß beschreibt Hauer als einen “stets begeisterten Menschen, der im offenbaren Gegensatz zu seinem Charakter diese form- strenge Kompositionsweise schuf”, als einen, der “plötzlich nachts auf den Straßen Wiens mit lauter und schöner Stimme anfing, Hölderlin zu zitieren oder gar in seinen Zwölftonsätzen zu singen.” Die Begegnung mit Hauer prägte Heiß nachdrücklich.

Heiß schrieb während und kurz nach seinem Aufenthalt in Wien die »Composition E-Fis-D« für Klavier, die für ihn so grundlegend wurde, daß er sie 23 Jahre nach ihrer Entstehung noch einmal ausführlich analysierte:

“Eine Reihe von zwölf Tönen dient unverändert als Material für alle Sätze. Eine solche Reihe kann nicht frei erfunden werden, wie etwa ein Thema, sie wird unter den vielen Möglichkeiten ausgewählt, wie ein Mosaikbildsetzer sein Steinmaterial wählt, das er bearbeitet, um mit den hergerichteten Steinen seine künstlerische Vorstellung zu verwirklichen (...) Die gewonnenen Bausteine werden zusammengefügt, wobei die Fugung einer der Reihe immanenten Logik entspricht, die sich im sogenannten Kontinuum der zwölf Töne manifestiert. Dieses Prinzip macht eine Komposition dem Hörer alsbald vertraut, es schafft ein harmonisches Band, das nichts mehr mit Funktionstonalität zu tun hat, aber, ohne diese Möglichkeiten auszuschließen, weit stärker und konzentrierter eine gebundene Grundlage ergibt.”

Heiß lernte aber auch Arnold Schönberg kennen. Dem gefiel »E-FIS-D« ausnehmend gut, und er lud Heiß 1932 ein, in seinen Meisterkursen über die Komposition zu sprechen. Kurz darauf mußte Schönberg emigrieren.

In seiner Tätigkeit als Musiklehrer in Spiekeroog (1928- 1933) gründete Heiß ein Improvisations- und Jazzensemble, mit dem er auf Tourneen ging.

“Es fanden sich in unserem Repertoire Brandenburgische und andere Konzerte von Bach. Händel, Corelli, Telemann u. a., frühe mittelalterliche Musik und dann die Moderne von Hindemith bis zur Zwölftonmusik und viele aus musikpädagogischen Gründen geschriebene Werke, die ich mit meinen Schülern spielte.”

Die Vielfalt, die sich in diesem Repertoire widerspiegelt, ist absolut typisch für Hermann Heiß und seine künstlerische Auffassung, die alles einbezog und vieles gleichzeitig und gleich wichtig (wahr)nahm.

1933 zog Heiß für acht Jahre als freischaffender Künstler nach Berlin, wo er Anerkennung beim Publikum und ebenso große Ablehnung bei der Presse erfuhr. So stand in einer Pressekritik:

“Anläßlich eines Klavierabends der Pianistin Else C. Kraus protestierten die Hörer mit Pfeifen und Zwischenrufen gegen die dargebotene Musik, die dafür von einer fanatischen Anhängerschaft demonstrativ beklatscht wurde. Es war die Musik der Komponisten Paul Höffer. Norbert von Hannenheim, Hermann Heiß und Bela Bartok, also des Schönberg-Kreises, gegen die sich das gesund empfindliche Publikum wehrte.”

Wie angesichts der nationalsozialistischen Kulturzensur nicht anders zu erwarten, waren die nun folgenden Jahre für Heiß von Enttäuschungen gekennzeichnet. Zwar komponierte er als Auftragswerk für die Olympiade 1936 »Das Jahresrad« nach einem Text seines Freundes Edwin Redslob. für das Rudolf Laban eine Choreographie entwarf, jedoch wurde die Aufführung des Werkes schroff unterbunden.

1939 heiratete Heiß die Tänzerin Maria Muggenthaler, mit ihr hatte er zwei Söhne, Wendel und Nikolaus. Nach einem kurzen Aufenthalt 1941 an der Heeresmusikschule Frankfurt, wo er wegen Verweigerung militärischer Befehle entlassen wurde, ging er mit seiner Familie zurück nach Darmstadt und arbeitete als freischaffender Komponist, Pianist, Musiklehrer und Verlagsmitarbeiter. Nachdem Darmstadt völlig ausgebombt wurde, zog die Familie Heiß nach Jamnitz in Südmähren, wo er ein halbes Jahr lang in der von Wien nach dort evakuierten Musikschule unterrichtete. Nach der Auflösung der Musikschule flohen er und seine Familie aus der Tschechoslowakei und kamen über Pilsen und den Bayerischen Wald 1946 wieder nach Darmstadt zurück.

Abbildung von Hermann Heiß' Pausezeichen des Hessischen Runkfunks
Heiß' Gebrauchsmusiken wurden bis in die 80er Jahre gespielt

Nun begann für Heiß ein völlig neuer Lebensabschnitt. Er begann sofort wieder zu komponieren, organisierte Veranstaltungen Neuer Musik und hielt 1946 seinen Vortrag »Einführung in die Zwölftonmusik« bei den ersten Kranichsteiner »Ferienkursen für internationale Neue Musik«. 1948 wurde er zum Lehrer für Tonsatz und Komposition an die Städtische Akademie für Tonkunst in Darmstadt berufen, im gleichen Jahr leitete er während der Arbeitstagung »Neue Musik im Unterricht« in Bayreuth die Arbeitsgruppe »Ton und Klang im neuen Musikhören, Grundlagen einer Ton- und Klangbewegungslehre«. Die Zusammenfassung aller Thesen und Überlegungen zu seiner neuen Kompositionslehre kam 1949 unter dem Titel »Elemente der musikalischen Komposition (Tonbewegungslehre)« heraus.

 

Er durchlebte die vielfältigen Umbrüche unseres Jahrhunderts und formte sie mit

Die Ferienkurse des Jahres 1950 gaben Hermann Heiß einen wichtigen Anstoß: Werner Meyer-Eppler hielt dort den Vortrag »Die Klangwelt der elektronischen Musik« und gab damit den Initialfunken, sich mit der völlig neuen elektronischen Klangerzeugung und den daraus resultierenden Möglichkeiten zu beschäftigen. 1951 kam Pierre Schaeffer nach Darmstadt, um über seine »musique concrète« zu sprechen, 1953 realisierte Heiß seine erste »Elektronische Studie« im Studio des WDR in Köln. Im gleichen Jahr wurde er zum Leiter einer Meisterklasse in Komposition an der Darmstädter Akademie für Tonkunst berufen. Nun trat ein weiterer Bereich wieder in den Mittelpunkt seines Interesses: die Improvisation. Er bildete Improvisationsgruppen, die neben traditionellem Instrumentarium auch elektronische Mittel einbezogen. Heiß fertigte einige Gebrauchsmusiken für den Rundfunk, die bis in die 80er-Jahre gespielt wurden, produzierte weitere elektronische Kompositionen in Köln und entwickelte mit Eberhard Vollmer in Plochingen und später mit der Firma HEAG zusammen verschiedene Geräte, um elektronische Arbeitsweisen zu vereinfachen. 1955 wurde er zum Leiter des Studios für elektronische Komposition am Kranichsteiner Musikinstitut berufen. Dorthin kamen ab jetzt Komponisten aus aller Welt, um die immer weiter entwickelten Geräte und elektronischen Arbeitsweisen kennenzulernen.
In den folgenden Jahren schuf er eine Vielzahl von Orchester-, Kammer-, Bühnen-, Film- und Hörspielmusiken, in denen immer öfter stilbildend Elektronik verwendet wurde Herauszuheben aus dieser Schaffensperiode sind vielleicht als multimediale Komposition »LTM 61« (Licht, Tanz, Musik) von 1961 mit Alice Kaluza (Tanz) und Manfred Kage (Licht), die »Missa für Alt, Tenor, gemischten Chor und elektronisches Tonband« (1964), in der das Problem der Notation elektronischer Musik im Zusammenwirken mit Stimmen praktikabel gelöst wurde, und die »Variable Musik für vier Magnetophone« (1967), die bereits früh auf eine Raumklangwirkung abzielte.

Hermann Heiß führte seine Musik in ganz Europa auf und war in zahllosen Vorträgen ein unermüdlicher Protagonist der Neuen Musik. Dennoch ist sein Name heute nur noch wenigen bekannt. So besessen er von der Musik selbst war, so radikal in seinem Schaffensdrang und Ausdruckswillen, so bescheiden und uneigennützig war er als Person.

Aus heutiger Sicht gibt es nicht den einen wichtigen Beitrag von Hermann Heiß zur zeitgenössischen Musik, sondern eine bunte Palette von immer neuen Ideen und Projekten, von vielfältigen, teilweise divergierenden Facetten. Als ein Zwölftöner, ein Improvisator, ein Pionier der elektronischen Musik, auch ein Bastler, ein Lehrer, ein Theoretiker und ein unermüdlich kreativer Musiker und Mensch durchlebte er die vielfältigen Entwicklungen und Umbrüche unseres Jahrhunderts und formte sie mit.

Der Autor Thomas Gerwin ist Musikwissenschaftler und Komponist. Er baute am ZKM den Audiobereich der Mediathek auf.