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Andreas Beitin: Face, Surface, Interface

Zum Motiv der Maske im Werk von Lynn Hershman Leeson

© Lynn Hershman Leeson
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Das Motiv der Maske spielt im Werk von Lynn Hershman Leeson eine entscheidende Rolle. Aspekte wie Identitätswechsel, Rollenspiel, Selbstporträt und das Performative zeugen von einer fortwährenden Auseinandersetzung mit der Bedeutung der Maske in unserer Gesellschaft. Lynn Hershman Leesons bedeutender Beitrag zur Gegenwartskunst ist es, den Archetypus der Maske für die zeitgenössische Kunst gesichert und ihn in der Medienkunst in eine zeitgemäße Form überführt zu haben.

Der nachfolgende Auszug entstammt dem Essay von Andreas Beitin aus dem Katalog »Lynn Hershman Leeson. Civic Radar«, der zu Beginn des Jahres 2015 erscheinen wird.

__________________________________________

 

Die Maske

Masken dienten und dienen nicht nur der Verstellung, dem Annehmen einer anderen Identität, dem Ausdruck von Stimmungen und Befindlichkeiten, sondern auch dem Schutz – überwiegend im realen aber auch im metaphysischen Sinn, etwa im Rahmen von rituellen Handlungen. Diese Ambivalenz hat von je her die große Faszination für Masken begründet. Screens als elektronisch-apparative Form von Masken können als zeitgenössisches Synonym für Identitätskonstruktion, Performativität, Verstellung, aber auch für Überwachung gelten. Durch digitale Masken im Internet findet das archetypische Medium im 21. Jahrhundert eine Fortsetzung. Der Begriff der Maske ist immer sehr vielgestaltig definiert worden und reicht von dem materiellen Artefakt über die auf das Gesicht aufgetragene und mit ihm verschmelzende Maske des Make-ups bis hin zur immateriellen oder eben digitalen Maske der Verstellung. Die Definitionen und Übergänge von einer zur anderen Form können dabei fließend sein.

 

Die Vorstellung, dass der Mensch im sozialen Umgang nicht (immer) mit seinem ‚wahren’ Gesicht agiert, sondern sich hinter einem Konstrukt, vergleichbar einer Maske, verbirgt, ist ein verbreiteter Topos in der westlichen Kulturgeschichte. 1762 stellte hierzu Jean Jacques Rousseau fest: „Der Mensch der Gesellschaft existiert gänzlich in seiner Maske.“[1] Auch im 19. Jahrhundert wird an dieser Vorstellung festgehalten. Arthur Schopenhauer rekurriert in dem Zusammenhang auf eine der ursprünglichsten Verwendungen von Masken, nämlich den Einsatz im Theater: „Unbewusst treffend ist der in allen europäischen Sprachen übliche Gebrauch des Wortes ‚Person’ zur Bezeichnung des menschlichen Individuums: denn ‚persona’ bedeutet eigentlich eine Schauspielermaske, und allerdings zeigt keiner sich, wie er ist, sondern jeder trägt eine Maske und spielt eine Rolle. – Überhaupt ist das ganze gesellschaftliche Leben ein fortwährendes Komödienspielen.“[2]
Nun verwenden sowohl Rousseau als auch Schopenhauer – letzterer von der Theatermaske ausgehend – den Begriff der Maske im übertragenen Sinn als Mittel zum Rollenspiel. Wie sehr sich das Rollenspiel heute mit dem Aufkommen und der verbreitenden Nutzung des Internets mit seinen digitalen Welten ausdehnen würde, war seinerzeit nicht abzusehen. Das Motiv der Maske, oder abstrakter formuliert: Das Motiv des bildlichen oder verbalen Vortäuschens, des Verstellens, des Konstruierens einer anderen Identität ist dementsprechend heute so aktuell wie nie zuvor, da neben den schon im realen Alltag verwendeten »Masken« der Verstellung in den digitalen Welten von Internet, Second Life, den unterschiedlichsten Blogs und Foren im WWW jeden Tag millionenfach virtuelle Masken aufgesetzt werden. Aus Lust am Rollenspiel, an der Konstruktion von Wunschidentitäten wird eine andere Identität angenommen oder auch aus Gründen der Tarnung, der Absicht, unter falscher Identität Informationen zu erhalten beziehungsweise zu spionieren, oder gar zu betrügen. Gerade unter dem heute überwiegend negativ konnotierten Konzept der Maske respektive der Maskierung lässt sich mit Richard Weihe feststellen: „Als Gegenbegriff zum natürlichen Gesicht konnte sich die Maske gar zu einem Antonym von Wahrheit entwickeln.“[3] Die Maske, englisch auch als »screen« bezeichnet, und vor allem die digitale Maske wird also im positiven Fall mit Rollenspiel und dem Ausdruck von Kreativität bis hin zum künstlerischen Werk, im negativen Fall mit Fake, Simulation, letztlich Fälschung und damit im weiteren Sinn mit Betrug in Beziehung gesetzt. So wie Marshall McLuhan 1971 vom Fernsehen als einer »totally new kind of mask« gesprochen hat[4], sind heute darüber hinaus die Bildschirme der Computer oder die Displays von Tablets oder Mobiltelefonen die wiederum neuen, elektronischen, dislozierten Masken des 21. Jahrhunderts, die virtuellen Identitäten keine Grenzen setzen. [...]
 

Identitätskonstruktion und Rollenspiel

Seit den frühen 1960er-Jahren, hat sich Lynn Hershman Leeson ausgehend vom Motiv der Maske mit Rollenspielen und Identitätskonstruktionen auseinandergesetzt. So hat Lynn Hershman Leeson Anfang der 1970er-Jahre unten den vielsagenden Pseudonymen Juris Prudence, Herbert Goode und Gay Abandon Kunstkritiken und Rezensionen veröffentlicht, was für sie zu der Zeit nicht zuletzt eine Art Maskenspiel gewesen ist[5], und ihr zugleich die Möglichkeit gab, ihre Werke als die einer Künstlerin überhaupt publik zu machen, da in den 1960er-Jahren Kunst von Frauen weitgehend außer Acht gelassen worden ist. In dem Zusammenhang verwundert es nicht, dass Lynn Hershman Leeson fiktive, also maskierte Identitäten positiv bewertet:

 

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I invented provisional identities for myself. They allowed me to have a closer brush truth through fiction. Fiction at its best, makes truth accessible.
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Die Schaffung neuer oder alternativer Identitäten ist eine Form der Maskierung, mit der man sich präsentiert und die das fest eingeschriebene Verlangen des Menschen nach Rollenspiel, nach Identitätswechsel und damit nach Simulation einer anderen Person oder eines anderen Zustandes als dem bestehenden verdeutlicht.[6] Anhand des Motivs der Maske lässt sich dementsprechend hervorragend belegen, wie viele kunst- und kulturhistorische Rhizome von diesem Artefakt ausgehen und wie diese Aspekte mit denen zeitgenössischer Kulturen sowie mit den Strategien im Werk von Lynn Hershman Leeson fusionieren. (...)

Es hat Menschen offensichtlich schon immer gereizt, entweder mit Masken (spielerisch) eine andere Identität vorzugeben, also zu simulieren (was in den überwiegenden Fällen zutrifft), oder, wie bei den Masken der Römer, einen – im Baudrillard’schen Sinn – vorhandenen Zustand zu dissimulieren: Obwohl Verfall und Verwesung unumstößliche gegenwärtige Tatsachen sind, wird durch die Maske Lebendigkeit, oder zumindest Unversehrtheit vorgespielt, was insbesondere auf den performativen Akt bei der Trauerfeier zutrifft.[7] Jean Baudrillard stellt fest, dass es bei der Simulation zunächst um die „Substitution des Realen durch Zeichen des Realen“ geht.[8] Jedoch stellt „die Simulation die Differenz zwischen ‚Wahrem’ und ‚Falschem’, ‚Realem’ und ‚Imaginärem’ immer wieder in Frage.“[9]
Hershman nutzt im Gegensatz zur dissimulierenden Praxis der Römer „die Simulation [...] als Strategie des Realen, des Neo-Realen und des Hyper-Realen“[10], indem sie beispielsweise die Wachsmasken ihrer Breathing Machines mit Sound ausstattet, sie hörbar atmen lässt und dadurch den benannten Unterschied hinterfragt und zugleich die Kunstgattungen mit ihren Festlegungen und Begrifflichkeiten auflösend erweitert. Die Masken simulieren durch ihre Authentizität und Atemgeräusche eine Lebendigkeit, die selbstredend nicht gegeben ist. Über den bereits zitierten Begriff der »persona«, womit man im antiken griechischen Theater eine von Schauspielern getragene Maske, beziehungsweise metonymisch die gespielte Rolle bezeichnet hat (so wie es auch das englische »persona« definiert), und im heutigen Sprachgebrauch unter »Person« ein Individuum versteht, gelingt darüber hinaus eine Verbindung von Maske und Ton, da »persona« sich von dem lateinischen Verb »personare« ableitet, was soviel wie »hindurchtönen«, aber auch »schreien« oder »klagen« bedeutet. Durch die hörbaren Atemgeräusche in den entsprechenden Werken von Lynn Hershman Leeson tönen also sozusagen die Geräusche des Lebens und der Anklage hindurch.

Von ihrem eigenen Gesicht abgeformte Masken hat Lynn Hershman Leeson seit 1962 auch innerhalb der Serie der »Suicide Machines« eingesetzt, wie etwa bei »Blazing Sculpture«. Hierdurch hat sie ihr eigenes Gesicht zunächst in eine dauerhafte, der Alterung durch die Zeit entzogene Form gebracht. Das Konzept der »Suicide Machines« sah es jedoch vor, dass sich die unterschiedlichen Arbeiten oder Installationen durch Feuer oder Wasser selbst zerstören und deshalb auch nur noch Fotografien der Werke existieren. Die Masken im Werk der »Suicide Machines« stehen zwar in der westlichen Tradition der Lebendmasken, aber offenbaren zugleich ihren paradoxen Charakter: Die vom lebenden Menschen abgeformte, jedoch – materiell betrachtet – tote Maske, thematisiert die Schwelle zwischen Leben und Tod. Lynn Hershman Leeson reproduziert sich mit Werken wie diesen einerseits immer wieder aufs Neue, versichert sich auf materielle, d. h. überdauernde Weise ihres eigenen Selbst, d. h. ihrer Lebendigkeit und »tötet« sich andererseits durch das Verbrennen ihres Abbildes bei den »Suicide Machines« wieder und wieder.

Und eine weitere Ebene der Simulation kommt bei den frühen Masken-Werken von Lynn Hershman Leeson dazu: Vor dem Hintergrund des verbreiteten Rassismus in den USA der 1960er-Jahre und den zeitgleichen Bestrebungen, die Gleichberechtigung von Schwarz und Weiß durchzusetzen – wie zum Beispiel von der Bürgerrechtsbewegung oder der Black Panther Party –, hat Hershman Leeson das Wachs der Masken dunkelbraun eingefärbt und sich damit stellvertretend eine afroamerikanische Identität gegeben: „It was as sign of solidarity, of how I would be treated if I was black. As a way of putting things into art, like politics of the time, to bring out the inequity“, stellt Hershman Leeson zu ihrem damaligen politischen Engagement fest.[11] Durch diese besondere Form des Rollenspiels ist bereits mit den frühesten Arbeiten ein wesentliches Grundmotiv im Werk von Lynn Hershman Leeson verankert worden, das wie viele spätere Werke und Performances, die sich mit Gender- und Identitätsfragen auseinandersetzen, politische Aspekte enthalten.

Wie wichtig in den frühen Arbeiten mit Wachs-Masken neben einem Identitätswechsel auch das Motiv des Eskapismus ist, wird durch Werke wie »Thinking Person Dreaming of Escape« (1965) und »Self-Portrait as Another Person« (1969) deutlich, bei dem Lynn Hershman Leeson wieder ihr eigenes Gesicht mit Wachs abgeformt und teils dunkel eingefärbt hat. Auffallend ist bei allen Arbeiten, dass das Gesicht jeweils von einer üppigen Haartracht nahezu bedeckt ist, worin man fast eine zweite Art Maske erkennen kann. Über die Titel der Arbeiten manifestiert sich der Wunsch, der eigenen Person, dem Ich zu entkommen und in die Identität einer anderen Person zu schlüpfen – einer Person, die unbestimmt ist und auch bleiben kann: „Je est un autre“, wie es Arthur Rimbaud so viel zitiert schon 1871 formuliert hat.[12] Werke wie die beiden genannten, die stellvertretend für andere, zeitgleich entstandene Arbeiten von Lynn Hershman Leeson betrachtet werden können, weisen über den eskapistischen Aspekt einen engen biografischen Bezug auf, der aus ihrem Video »Re Covered Diary« hervorgeht, in dem sie aus ihrer Kindheit berichtet:

 
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When I was small and after a particularly bad experience I remember trying to dig my way into freedom. And I would make holes in the plaster next to my bed as if to find an escape. [...] But I would spend my nights as a child, maybe two, three, four or five years old, digging out, digging away.
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Die schlechte Erfahrung, die Lynn Hershman Leeson anspricht, bestand in der Misshandlung, als ihr als kleines Mädchen die Haare am elterlichen Gasherd abgebrannt wurden, was aus einer nachgestellten Szene in dem 1994 entstandenen Video hervorgeht. Den Geruch von verbranntem Haar stellt Lynn Hershman Leeson als Autorin des Videos wiederum in Beziehung zum Geruch der Krematorien, in denen ein Teil ihrer während des Holocausts ermordeten Verwandten verbrannt worden ist.[13] Über den erschütternden biografischen Bezug hinaus geht es Lynn Hershman Leeson im Zusammenhang mit dem Motiv des Eskapismus aber auch um einen allgemeinen gesellschaftlichen Kontext, bei dem es ihr im Besonderen um die für Frauen allgemein sehr restriktive Situation der Zeit geht, aus der es sich zu befreien galt: „I think I was confined from early on by constructions of what society asked of women, but I could not abide by those prisons, although leaving them was a great personal risk, one that took courage and that I paid for through the conditions of living. But in the end it were worth it.“[14] (...)
 

Roberta Breitmore

Auf einen weiteren Umstand soll schließlich hingewiesen werden, der einen anderen, bereits angesprochenen Aspekt im Werk von Lynn Hershman Leeson berührt, da Braun zufolge die „Geschichte der Körperwahrnehmung“ eng verbunden ist mit dem Blick des Betrachtenden auf den „individuellen menschlichen Körper [...], mit seiner ganzen Anfälligkeit und Verwandlungsfähigkeit. Letztere Qualitäten wurden vor allem dem weiblichen Körper zugeschrieben: In der Geschichte der ‚Frauenkrankheiten’ Hysterie, Magersucht und MPS tritt sowohl das Motiv des Schwindels (im Sinne von Simulation) wie auch das des ‚verschwindens, abmagerns und unsichtbar werdens’ in geradezu paradigmatischer Weise zutage.“[15]

Mit den Aspekten von Simulation und Eskapismus schließt sich aus dieser Perspektive ein weiterer Kreis zum Werk von Lynn Hershman Leeson, das sich in einer Zeit der beginnenden Gender-Diskurse formiert und teilweise deren Fragestellungen auf künstlerischer Ebene vorweggenommen hat. Eine der wichtigsten Protagonistinnen der Debatten um die Konstruktion von Geschlechtlichkeit und das Verhältnis von Körper und Identität ist in den USA Judith Butler, die sich dezidiert gegen eine Gleichsetzung von biologischem und sozial festgelegtem Geschlecht gewendet hat. Das Festlegen auf bestimmte biologisch determinierte Geschlechtsidentitäten kann in gewisser Weise als eine aufgezwungene Maske interpretiert werden, die auch durch den Akt des Sprechens zur Schau getragen wird: „Wir werden zeigen, daß das Geschlecht nicht länger als ‚innere Wahrheit’ der Anlagen und der Identität gelten kann, sondern eine performativ inszenierte Bedeutung ist (und also nicht ‚ist’)...“, so Butler.[16] Viele Jahre bevor sich die Feministin mit der normativen Wirkmacht des performativen Sprechaktes als Voraussetzung für die Aufrechterhaltung der binären Festlegung der Geschlechterrollen auseinandergesetzt hat, haben KünstlerInnen sich auf ihre Weise mit dem Themenkomplex beschäftigt.

Auch bei Lynn Hershman Leeson lässt sich vor diesem Hintergrund eine Auseinandersetzung mit der Konstruiertheit von geschlechtsspezifischen Identitäten finden und mithin eine Kritik an der konventionellen Verteilung der Geschlechterrollen. Dementsprechend tauchen in einigen ihrer frühen Videos auch immer wieder Transvestiten oder Transsexuelle auf, wie etwa bei »Double Click Face« (1995). Lynn Hershman Leeson selbst schrieb ihre Rezensionen ausschließlich unter den Pseudonymen von Männern (da zu der Zeit weltweit überwiegend Männer das Ausstellungsgeschehen bestimmten und ebenso auch die Kritiken darüber schrieben, und sie als Künstlerin von der Kunstkritik ignoriert worden ist), sie agierte gegen männlich dominierte Institutionen, indem sie sich alternative Ausstellungsorte suchte, und verlieh ihrer bekanntesten Kunstfigur, »Roberta Breitmore«, einen in gewisser Weise androgynen Vornamen.[17] In besonderer Weise geht Lynn Hershman Leesons affirmative Haltung – und damit ihre kritische Einstellung – gegenüber der Konstruktion von Geschlechtern aus den Construction Charts zu Roberta Breitmore hervor, mit denen sie im wahrsten Sinn des Wortes demonstriert, wie Weiblichkeit künstlich, mit den Mitteln der Maske konstruiert wird. Auch wenn es Lynn Hershman Leeson in den Werken der 1960er- und 1970er-Jahre nicht direkt um einen dekonstruktivistisch determinierten Diskurs von männlich/weiblich ging, so lieferte sie mit ihren Arbeiten doch wesentliche Beiträge, was die Konstruktion von weiblicher Identität ausmacht, was sich in besonderem Maße bei der Real-Performance der Roberta Breitmore manifestiert. Wie sehr es Lynn Hershman Leeson um die Stärkung der Rolle der Frauen sowohl in der Gesellschaft als auch in der Kunst ging, verdeutlicht sich nicht nur durch die Tatsache, dass alle ihre Protagonisten weiblich sind, sondern vor allem auch durch das Film-Projekt »!WAR – Woman Art Revolution«, für das sie über zwanzig Jahre lang verschiedene Künstlerinnen und Feministinnen interviewte, die sich für die Gleichberechtigung von Frauen und Männern eingesetzt haben.

Roberta Breitmore soll abschließend noch unter dem Aspekt des Performativen in den Blick genommen werden. 1971 schrieb McLuhan: „When Sputnik went around the planet in 1957 the earth became enclosed in a man-made environment and became thereby an ‘art’ form. The globe became a theatre enclosed in a proscenium arch of satellites. From that time the ‘audience’ or the population of the planet became actors in a new sort of theatre. […] Since Sputnik the entire world has become a single sound-light show.”[18] Das möglicherweise nicht ganz ernst gemeinte Statement, wonach die ganze Welt seit dem Beginn der Raumfahrt zu einer Bühne, zu einer einzigen Performance geworden ist, mag im Nachhinein als ironische Legitimation der Performancekunst gemeint sein, die aufgrund ihrer oftmals kritischen Haltung gegenüber Institutionen in weiten Teilen außerhalb der Museen oder Theater stattfand. Ganz in diesem Sinn hat Lynn Hershman Leeson auch viele Arbeiten und Performances nicht im Museum »aufgeführt«, sondern an anderen öffentlich zugänglichen Orten, wie beispielsweise im Spielcasino (»Lady Luck«, 2. März 1975) oder ­– als Konzept des 1975 von ihr gegründeten Floating Museum – an Orten, die nicht ausgewiesene Orte für Kunst waren, was im übrigen auch wiederum charakteristisch für viele andere feministische Aktionen und Performances gewesen ist.[19]

An der Schnittstelle von (öffentlicher) Performance-Kunst, Identitätswechsel und der Verwendung von Masken fand also die mehrjährige Real-Performance »Roberta Breitmore« (1973-1978) statt, die wohl die bekannteste Arbeit von Lynn Hershman Leeson ist. Nachdem die Künstlerin zuvor schon in zahlreichen Werken einen (indirekten) Rollenwechsel vorgenommen hat, wagte Lynn Hershman Leeson mit der Kunstfigur der Roberta Breitmore den Schritt, für fünf Jahre unter einer anderen Identität zu leben. Roberta verfügte über eine eigene Wohnung, ein eigenes Bankkonto, war ausgestattet mit einer Kreditkarte, sie konsultierte einen Psychologen und begann Männerbekanntschaften per Zeitungsannonce zu suchen. Nicht nur Lynn Hershman Leeson selbst »lebte« Roberta Breitmore, sondern die Kunstfigur wurde teilweise simultan auch von anderen Frauen performt – wodurch das Motiv der Identitäts-Verdopplung beziehungsweise hier der Identitäts-Vervielfachung von Lynn Hershman Leeson in der Kunst etabliert worden ist.[20] Neben dem von Roberta über Jahre getragenen Kleid sind vor allem die »Construction Charts« bekannt, in denen Lynn Hershman Leeson wie in einer Gebrauchsanleitung nachvollziehbar macht, wie sie sich in Roberta Breitmore verwandelt. Exakt an dieser Stelle springen die Motive der Maske und des Rollenwechsels als unlösbare Einheit offen hervor: „Die für viele Frauen alltägliche Handlung des Schminkens wird in der Konstruktion Robertas zur Maske – zur zweiten Existenz. Das Auftragen des Make-ups markiert eine Transformation zwischen zwei Persönlichkeiten.“[21] Die Maske der Schminke wird zum Interface zwischen der Identität der Künstlerin und der Identität der Kunstfigur, die über den »screen« des Gesichts ihre neue Identität ausstrahlt und der zugleich als Projektionsfläche für die Wünsche und Erwartungen ihrer (männlichen) Interaktionspartner dient. Betrachtet man die zahlreichen Dokumentarfotografien von Breitmores Aktivitäten, so wird sehr schnell deutlich, dass es sich um eine unsichere, von Komplexen und Phobien geplagte Frau handelt, die über die aufgeschminkte Maske des Make-ups hinaus offenbar am liebsten auch ihre Haare als weitere (Schutz-)Maske verwenden möchte, um sich vor der Umwelt zu verbergen. 1978 wurde die Real-Performance in Ferrara im Rahmen eines »Exorzismus« schließlich beendet und Lynn Herschman Leeson von ihrem alter ego, das zunehmend bestimmend wurde, erlöst:

 

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Roberta’s traumas became my own haunting memories. They would surface with no warning, with no relief. She began to control me. I was never free of her.
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Breitmore scheint offenbar für Hershman im Laufe der Langzeit-Performance geradezu zu einer sich verselbständigten »masque d’horreur« geworden zu sein, die es loszuwerden galt. Auch wenn in Italien lediglich die Kunstfigur der Roberta Breitmore (von Kristine Stiles performt) geopfert worden ist, so ist in dieser Handlung auf zweifache Weise ein suizidales Motiv enthalten: Zum einen durch das »(Selbst-)Töten« der Figur nach der fünfjährigen Identifikationsübernahme durch Lynn Hershman Leeson. Dieses Ende entspricht nicht zuletzt auch dem ursprünglichen Konzept, das vorsah, dass sich Roberta Breitmore durch einen Sprung von der Golden Gate Bridge das Leben nehmen sollte.[22] Zum anderen wird durch das Anzünden und Verbrennen eines fotografischen »Construction Charts« durch (die performte) Breitmore selbst eine indirekte Selbsttötung evoziert.[23] So wie bereits in früheren Werken von Lynn Hershman Leeson suizidale Elemente enthalten sind, so setzen sie sich über Roberta Breitmore fort und sind auch in späteren Werken immer wieder zu finden, wie etwa bei Lynn Hershman Leesons erster interaktiver Videodisk-Arbeit »Lorna« (1984), wo das Ende der Titelfigur auch die Option der Selbsttötung vorsieht. [...]

Wie sehr das Motiv der Maske im gesamten Werk von Lynn Hershman Leeson verankert ist, wird auch durch zwei fotografische Werkserien deutlich: In allen Fotografien der »Phantom Limb«-Serie ist mindestens der Kopf, manchmal sogar der ganze Oberkörper durch einen technischen Bildapparat ersetzt. Die als Maske fungierenden Fernseher, Kameras oder Screens zeigen zwar in Ausschnitten Teile des Gesichts, sind jedoch nichts anderes als elektronische Prothesen, die die entsprechenden Körperteile maskieren. Dass Lynn Hershman Leeson konsequenterweise auch das Display des heute wohl am häufigsten verwendeten Smartphones benutzt, um sich dort im Selbstporträt zu präsentieren, so bei »I Phone Crack – Selfportrait 2« (2012), verweist sehr deutlich auf die mediale Transformation, die die Maske innerhalb der vergangenen Jahrzehnte erlebt hat. Auch bei vielen weiteren Medienkunst-Arbeiten verwendet Lynn Hershman Leeson das Motiv der Maske in Verbindung mit Bildschirmen oder Displays, wie etwa bei dem interaktiven Werk »DiNA – A. I. Bot« (2005), wo das Gesicht der virtuellen Person wie eine Maske auf dem Screen erscheint. Ebenso ist bei »Agent Ruby« (2002), bzw. bei den daraus entspringenden Arbeiten wie »Agent Ruby’s Mood Swing Diagramm« eine maskenhafte Präsentation ihrer Gemütszustände dargestellt.

Durch den eingangs getätigten Verweis auf die Verwendung von Masken in der Antike und die damalige »prosopische Einheit« von Gesicht und Maske scheint unter den gegebenen technologischen Möglichkeiten ein zeitüberschreitendes Bekenntnis zur Maske, zum Identitätswechsel als kreative – und man möchte hinzufügen: kreatürliche – Form der Auseinandersetzung mit dem eigenen Selbst und seinem Verhältnis zur sozialen Umwelt durch Lynn Hershman Leeson neu etabliert zu sein. Die Aktualität der »prosopischen Einheit« von Maske (Rolle) und Gesicht (Identität) besteht darin, dass heutige Individuen fast permanent die dislozierte Maske des Screens tragen – nicht auf dem Gesicht, sondern meist in großer Distanz vor dem Gesicht des oder der jeweils anderen; diese Maske ist zum Interface zwischen ihnen und anderen Individuen, mithin der Gesellschaft geworden. Lynn Hershman Leesons Verdienst ist es, für die zeitgenössische Kunst den Archetypus der Maske gesichert und ihn über ihre skulpturalen Werke und ihre Performances schließlich in der Medienkunst in eine zeitgemäße Form überführt zu haben, ohne dabei die kritischen Aspekte, die das Motiv der Maske mit sich bringen, außer Acht zu lassen und sie für bedeutende künstlerische wie gesellschaftliche Diskurse gewinnbringend genutzt zu haben. Dass Lynn Hershman Leeson im Zusammenhang mit dem Motiv der Maske politische, identitäts- und geschlechtskonstruierende sowie medientheoretische Themen in der Kunst entweder frühzeitig etabliert oder innovativ behandelt hat, trägt mit zu ihrer außergewöhnlichen Bedeutung bei.
 

Literatur

[1] Jean-Jacques Rousseau, »Émile oder über die Erziehung« [frz. »Émile ou De l’éducation«, 1762], übersetzt von Eleonore Sckommodau, hg. v. Martin Rang, Stuttgart, 1998, S. 475.
[2] Arthur Schopenhauer, »Psychologische Bemerkungen« (Kap. 26, § 315), in: »Parerga und Paralipomena II« [1851], Sämtliche Werke, Bd. 5, hg. v. Wolfgang Freiherr von Löhneysen, Suhrkamp-Verlag, Frankfurt am Main, 1996, S. 689.
Die Vorstellung, dass im Prinzip jedes Individuum (in) der Gesellschaft eine Rolle spielt, war schon zu Schopenhauers Zeit nicht neu, da es bekannterweise bereits in William Shakespeares »Wie es euch gefällt« (1599) heißt: „All the world’s a stage“.
An dieser Vorstellung wurde aber durchaus auch noch im 20. Jahrhundert festgehalten, so beispielsweise bei Erving Goffman (ders., »The presentation of self in everyday life«, Doubleday, Garden City/NY, 1959; dt.: »Wir alle spielen Theater: die Selbstdarstellung im Alltag«, München, Piper-Verlag, 1969).
Diese These wurde aber u.a. 1977 von Richard Sennett zurückgewiesen als ein Konstrukt, das zwar für vorherige Jahrhunderte zutreffend sei, nicht aber mehr für das 20. Jahrhundert (Richard Sennett, »The fall of public man«, Cambridge, Cambrigde University Press, 1977; dt.: »Verfall und Ende des öffentlichen Lebens: die Tyrannei der Intimität«, S. Fischer-Verlag, Frankfurt am Main, 1983). Auch diese Einschätzung dürfte allerdings durch die Möglichkeiten der digitalen Medien heute als ebenso überholt gelten.
[3] Richard Weihe, »Die Paradoxie der Maske. Geschichte einer Form«, Wilhelm Fink Verlag, München, 2004, S. 25.
[4] „When [Ronald] Sokol refers to the trials of the McCarthy era, it is well to keep in mind that the public was putting on a totally new kind of mask, TV, just as the Elizabethan public began to look at the world through the mask of printed page. This latter mask provided a unique innovation of precision and power, with the promise of unlimited repetition and vast performance.” Marshall McLuhan, »Roles, Masks and Performances« [1971], Gingko Press, Corte Madera, 2005, S. 21.
[5] „In those days it had more to do with making another mask for myself. Although I was very critical, I didn’t have the courage to speak up using my own name.“ Lynn Hershman Leeson in: »Lynn Hershman«, Herimoncourt, Ed. Centre International du Création Vidéo Montbéliard, Belfort, 1992, S. 108.
[6] Lynn Hershman Leeson in einer E-Mail an den Autor vom 17.09.2014
[7] Jean Baudrillard, "Die Präzession der Simulakra", in: »Die Agonie des Realen«, Berlin 1978, S. 10.
[8] Ebd. 1978, S. 9.
[9] Ebd., S. 10.
[10] Ebd., S. 16.
[11] Lynn Hershman Leeson am 18.09.2014 in einer E-Mail an den Autor.
[12] Arthur Rimbaud 1871 in einem Brief an Georges Izambard, zitiert in: »Arthur Rimbaud. Briefe und Dokumente«, hg., übersetzt und erläutert von Curd Ochwadt, Schneider Verlag, Heidelberg, 1961.
[13] Lynn Hershman Leeson in: dies.: »Re Covered Diary«, Video, USA/Deutschland, 1994, 24:30-25:40.
[14] Lynn Hershman Leeson in einer E-Mail an den Autor am 13. August 2014.
[15] Christina von Braun, "Frauenkörper und medialer Leib", in: Wolfgang Müller-Funk, Hans Ulrich Reck (Hg.), »Inszenierte Imagination. Beiträge zu einer historischen Anthropologie der Medien«, Springer-Verlag Wien, New York, 1996, S. 125-146, hier S. S. 126f.
[16] Judith Butler, »Das Unbehagen der Geschlechter« [amerik. »Gender Trouble«, 1990), aus dem Amerikanischen von Katharina Menke, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, 1991, S. 61.
[17] „The name Roberta referred to the founder of Alchemy [Anm. d. V.: gemeint ist vermutlich Robert Fludd, der als einer der großen abendländischen Alchemisten gilt], and, indeed, her life has an alchemical quality. She was about process, change and transformation, and the androgynous double.“, in: »Hershman« 1992, S. 110.
[18] Marshall McLuhan, »Roles, Masks and Performances« [1971], Gingko Press, Corte Madera, 2005, S. 22.
[19] Einen guten Überblick über die performativen Arbeiten von einigen Künstlerinnen in den 1960er- und 1970er-Jahren bietet die Publikation »Moments. Eine Geschichte der Performance in 10 Akten«, hg. von Sigrid Gareis, Georg Schöllhammer, Peter Weibel, Verlag der Buchhandlung Walther König, Köln, 2013.
[20] Die Idee der Vervielfachung wurde von Lynn Hershman Leeson auf die Spitze getrieben, indem 1978 im De Young Museum, San Francisco, ein Roberta Look Alike Contest veranstaltet worden ist und dazu viele Frauen und auch ein Mann als Roberta Breitmore erschienen sind.
[21] Söke Dinkla, »Pioniere interaktiver Kunst von 1970 bis heute«, Hatje Cantz, Ostfildern, 1997, S. 177.
[23] Lynn Hershman Leeson in: Moira Roth, Diana Tani, "Interview with Lynn Hershman", in: »Lynn Hershman«, Herimoncourt, Ed. Centre International du Création Vidéo Montbéliard, Belfort, 1992, S. 68.
[24] „Roberta set fire to her self [sic!] – via photographs.“ Lynn Hershman Leeson in: Moira Roth, Diana Tani, "Interview with Lynn Hershman", in: »Lynn Hershman«, Herimoncourt, Ed. Centre International du Création Vidéo Montbéliard, Belfort, 1992, S. 114.

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