Der Tahrir-Platz ist kein Viereck
VON SARAH RIFKY
Wer in der Nähe des Tahrir-Platzes lebt, dessen Vorstellungskraft wird beflügelt. Doch alles, was sich zu weit vom Boden löst, ist flüchtig und entschwindet – wie ein Vogel oder im Sinne eines spirituellen oder geistigen Entgleitens, psychotisch oder „ver-rückt“. Der Tahrir ist keine Droge. Befreiung ist nicht Ecstasy. Obwohl Ekstase bisweilen durchaus mit einer Psychose zu verwechseln ist, mit Wahnsinn oder Un-Zurechnungsfähigkeit. In diesem Fall mit gesteigerter Zurechnungsfähigkeit. Das „Un-“ steht hier für mehr. Auf dem Tahrir. Wir standen im Mittelpunkt, auch wenn wir nun nicht mehr dort stehen, sondern am Rand. Wie sind die Ränder eines Vierecks zu beschreiben? Als vier gerade Linien. Nicht vier Finger, denn die Zahl der Finger an einer Hand ist fünf. Gib mir fünf. Leben heißt „hayy“[1] sein. Was sofort an „Hi“ im Sinne von „Hallo“ und „Willkommen“ erinnert, aber aufgrund des phonetischen Gleichklangs auch an „high“. Wir sind high. Wir bilden uns ein zu fliegen. Der Absturz ist unvermeidlich, denn auf jedes Auf folgt ein Ab. Und wir sind nicht niedergeschlagen, wir treten einfach beiseite, während die Heimtücke der Ereignisse neue Anliegen aufgreift, neue Ziele, redigiert und jeglicher Einbildungskraft beraubt. Es bleibt keine Zeit. Für Fantasie.
Konformismus ist einfacher, als mit der „anderen“ Hand zu zeichnen oder zu schreiben, denn dazu bedürfte es zuallererst Fantasie. Weil die Kontrolle über die ungeschulte Hand geringer ist, und sich die Dinge daher schwieriger gestalten. Was tun wir angesichts einer solchen Krise der Einbildungskraft? Wir grüßen die Sonne und wärmen uns in ihr. Wir ersinnen Strukturen, die uns die Freuden von Freiheit und Gerechtigkeit vorgaukeln. Auch wir haben ein Recht auf Brot. Wir backen, wir kochen. Wir leben. Wer in der Nähe eines viereckigen Platzes lebt, bildet Kreise. Deren Tangentenberühren die Ränder der Begrenztheit des zweidimensionalen Raums. Du drehst dich um dich selbst und erzeugst eine Sphäre. Der Platz ist kein Viereck. Er ist ein Kreis, ein Kreisverkehr. Doch er verhält sich wie ein Viereck, ein viereckiger Platz, auf dem Dinge Kreise ziehen und Kreise zu Sphären werden. Sie sind wie Seife, glitschig, Seifenblasen, die in den Himmel aufsteigen und der Schwerkraft trotzen. Der Tahrir wird missverstanden und über Gebühr gefeiert. In Wahrheit ist er rund – weit davon entfernt, ein Viereck zu sein.
Weitere Informationen unter: www.global-activism.de
Über die Autorin
Sarah Rifky ist Autorin und lebt in Kairo. Sie ist Gründungsdirektorin des CIRCA (Cairo International Resource Center for Art) sowie Kodirektorin der neuen Kunstinitiative Beirut, die den Aufbau von Institutionen als kuratorisches Handeln begreift, sowie des gleichnamigen Ausstellungsraums in Kairo. www.beirutbeirut.org
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Anmerkungen Übersetzung aus dem Englischen von Christiansen & Plischke
[1] Das arabische Wort Hayy beschreibt im Koran das Gegenteil von „tot“ und ist demnach als „lebendig“ oder als „das Lebendigsein“ zu übersetzen. Zudem steht es auch für einen der insgesamt 99 Namen Allahs. In diesem Sinne kann der Begriff auch „das Unsterblichsein“ bedeuten.