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Floris M. Neusüss. Die Kunst, den Schatten zu bannen

Ein Nachruf von Herbert Molderings

© ZKM | Zentrum für Kunst und Medien, Foto: Floris Neusüss
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Der klassischen Funktion der Fotografie, zu dokumentieren, was ist, und in Bildern mitzuteilen, was geschieht, stand Floris M. Neusüss immer skeptisch gegenüber. Und nicht zuletzt deshalb war er einer der innovativsten Fotografen der vergangenen sechs Jahrzehnte. Seitdem er 1960 seine Ausbildung an der Bayerischen Staatslehranstalt für Fotografie abgeschlossen hatte, war er von der Idee fasziniert, die Fotografie gegen den Strich zu bürsten und sie zur Erfindung neuer Bildwelten einzusetzen. Deshalb schrieb er sich für zwei Jahre an der Universität der Künste in Berlin bei Heinz Hajek-Halke, einem Pionier experimenteller Fotografie der zwanziger Jahre, ein.

Inspiriert von den »Anthropometrien« Yves Kleins, den Körperabdrücken von nackten, mit blauer Farbe bemalten Aktmodellen auf die Leinwand, schuf Neusüss von 1960 an seine ersten »Nudogramme«, Ganzkörperfotogramme, die ohne Einsatz der Kamera, durch die direkte Belichtung des Fotopapiers zustande kommen. Zu einer raumfüllenden Installation vereinigt, waren sie die Sensation der Photokina-Bilderschauen von 1963. Von da an war die kameralose Fotografie, das Fotogramm, Neusüss’ Markenzeichen und ureigene Domäne. Ein halbes Jahrhundert lang hat er dessen Ausdrucksmöglichkeiten in einem solchen Maße erweitert, dass es zu einem Medium sui generis innerhalb der fotografischen Verfahren wurde.

Sein bedeutendster Beitrag dazu waren seine seit 1984 realisierten »Nachtbilder«. Einem Fischer gleich, der nachts auf das Meer hinausfährt, um seine Netze auszulegen, platzierte Floris Neusüss im Dunkel der Nacht Fotopapierbahnen mit der lichtempfindlichen Schicht nach unten auf einer Wiese und belichtet sie mit mehreren simultanen min oder sukzessiven Blitzen. Die unterschiedlich hohen und starken Gräser, Farnkräuter und Pflanzen, die auf dem Boden verstreuten Hölzer und Steine und die zwischen diesen kriechenden Insekten werfen das intensive Blitzlicht zurück auf die lichtempfindliche Schicht und malen so Feuerwerke aus Hell und Dunkel, Schwarz und Weiß und einer unendlichen Vielzahl von Grautönen. Wie in der Natur die Pflanzen vom Licht leben, sind diese spontanen Gebilde direkte Geschöpfe einer singulären künstlerischen Form von „Fotosynthese“. In keiner anderen Werkgruppe ist Neusüss dem romantischen Ursprung der Fotografie, dieser „art of fixing a shadow“, wie Henry Fox Talbot, der Erfinder des Negativ-Positiv-Verfahrens, die neue Bildtechnik genannt hat, so nahe gekommen wie in den »Nachtbildern«.

Nachdem er 1972 zum Professor für künstlerische Fotografie an die Kunsthochschule Kassel berufen wurde, gründete er das Fotoforum Kassel, das mit seinen der experimentellen, insbesondere der konzeptuellen Fotografie gewidmeten Symposien, Ausstellungen und Publikationen neben Düsseldorf zum wichtigsten Ort der neuen Fotografie in Deutschland wurde. Dessen Archiv befindet sich seit 2005 in der fotografischen Sammlung der Stiftung Moritzburg in Halle.

Wie breit gefächert und einfallsreich Neusüss bis zuletzt als Fotogramm-Künstler tätig war, zeigte 2017 die gemeinsam mit Renate Heyne erstellte Ausstellung »Leibniz’ Lager« im ZKM in Karlsruhe. Es handelte sich um ein ganz persönliches, imaginäres Museum von Objekten aus naturhistorischen, technischen und wissen- schal! liehen Sammlungen in Form von Fotogrammen, die dadurch überraschten, dass sie den entmaterialisierenden Zauber der kameralosen Fotografie mit durchaus dokumentarischen Qualitäten verbanden.

Neusüss war nicht nur auf bildnerischem Terrain ein unermüdlicher Erforscher der kameralosen Fotografie. Er war zugleich ihr bedeutendster Historiker. Mit seiner Ehefrau, der Konzeptfotografin Renate Heyne, hat er 1990 mit dem Band »Das Fotogramm in der  Geschichte des 20. Jahrhunderts« ein internationales Standardwerk vorgelegt. Der Höhepunkt ihrer gemeinsamen Recherchen war Ende der achtziger Jahre die Entdeckung der als verschollen gegoltenen, privaten Fotogrammsammlung László Moholy-Nagys in einer amerikanischen Provinzstadt und die Überführung dieser Sammlung, die die Hälfte des gesamten Fotogramm-Oeuvres Moholy-Nagys umfasste, in den Besitz der Fotografischen Sammlungen Im Museum Folkwang und im Museo National d’Art Moderne im Centre Georges Pompidou in Paris im Jahr 1994. Dies war nicht nur das erste bedeutende Fotokonvolut eines großen europäischen Fotopioniers, das aus Amerika nach Europa zurückgeholt wurde, es war auch das erste Mal, dass ein französisches und ein deutsches Museum sich zu einer gemeinsamen Ankaufaktion zusammenschlossen. Floris Neusüss ist am 1. April 2020 im Alter von dreiundachtzig Jahren gestorben.

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