Portrait von Bruno Latour

11.10.2022

Bruno Latour – Our Matter of Concern. Ein Nachruf

22. Juni 1947 – 09. Oktober 2022

Bruno Latour starb am Sonntag, den 9. Oktober 2022, in Paris mit 75 Jahren. Die Welt verlor einen großen Denker, das ZKM einen großen Freund und Förderer.

Das ZKM und Bruno Latour verband eine über zwei Jahrzehnte andauernde, außergewöhnlich erfolgreiche und produktive Partnerschaft. Sie manifestierte sich in Großausstellungen und umfangreichen Publikationen und führte renommierte Künstler:innen und Wissenschaftler:innen aus allen Disziplinen um ein gemeinsames Anliegen – »a common matter of concern« – zusammen. Der von Bruno Latour einberufene Exzellenzcluster zeigte, welche Allianzen möglich, aber vor allem auch nötig sind, um die Welt zu verändern.

Als Latour im September 2008 den Siegfried-Unseld-Preis erhielt, brachte er seine Bewunderung für die deutsche Philosophie und Wissenschaft zum Ausdruck. Doch es war nicht nur der Austausch mit Denkern wie Ulrich Beck und Peter Sloterdijk, der Latour begeisterte. »Doch ich begann noch mehr zu bewundern, was in diesem Land alles auf die Beine gestellt werden konnte, nachdem ich Peter Weibel 1998 in Graz getroffen hatte; denn er (und die Bürger Baden-Württembergs) bot mir zweimal die Gelegenheit, eine große Ausstellung in Karlsruhe auszurichten, zuerst Iconoclash‘ (2002) und dann ‚Making Things Public‘ (2005), zwei Großprojekte, die an jedem anderen Ort unvorstellbar gewesen wären.« Auf »Iconoclash« und »Making Things Public« folgten weitere Ausstellungen – »Reset Modernity« (2016) und »Critical Zones« (2020).

Als Peter Weibel Bruno Latour 1999 erstmals ans ZKM einlud, war er ein nur in Fachkreisen bekannter Wissenschaftssoziologe. Beide ahnten nicht, wie stark sich der Philosoph und das ZKM über die Jahre beeinflussen und welche Wirkung die Schriften Latours in den kommenden Jahren ausüben würden, die ihn zum meist zitierten lebenden französischen Philosophen machten. Als solcher erhielt er auch zahlreiche Preise: Den Nam June Paik Art Center Prize (2010), den Holberg Prize (2013) und den Kyoto-Preis (2021). 1999 war Latour noch Professor am Centre de Sociologie de l‘Innovation an der École nationale supérieure des mines de Paris, 2006 wechselte er an die Elite-Universität Science Po.

Ans ZKM kam Latour nicht allein, vielmehr stellte er dem ZKM großzügig sein immenses internationales Netzwerk aus Wissenschaftler:innen aller Disziplinen zur Verfügung. Viele Jahre seines Lebens hat Bruno Latour mit Enthusiasmus und Energie dem ZKM gewidmet, um zentrale Themen der Gegenwart in den Gedankenausstellungen aufzuarbeiten.

Die Ausstellung »Iconoclash« (2002) fragte nach der Rolle der Bilder in Kunst, Religion und Wissenschaft. »Making Things Public« (2005) stellte neue Bedingungen der Demokratie vor, einen erweiterten Kreis von Aktanten, ein »Parlament der Dinge«, in dem alle Wesen und Dinge repräsentiert sind und eine Stimme erhalten. Eine der zentralen Thesen von Bruno Latour war: »Wir sind nie modern gewesen« (französische Ausgabe 1991). Daher versuchte er mit der Ausstellung »Reset Modernity« (2016), neue Grundlagen für die Moderne zu erschaffen. Vor allem ein Ergebnis der Moderne – die Bifurkation von Natur und Kultur – wollte er überwinden. Mit der Ausstellung »Critical Zones« (2020), die auf sein »terrestrisches Manifest« (2017) folgte, richtete Latour die Aufmerksamkeit auf die fragile, dünne Schicht der Erde, die wenige Kilometer reichende Biosphäre, die das Leben auf der Erde überhaupt ermöglicht.

Warum waren die Ausstellungsprojekte für Bruno Latour von so großer Bedeutung? Er sah die Notwendigkeit einer »neuen Eloquenz« der Wissenschaften, denn er haderte mit dem Umstand, dass viele wissenschaftliche Fakten bekannt sind und auch kommuniziert werden, sie jedoch nicht zu einer Veränderung der Wahrnehmung und des Handelns führen, da die wissenschaftlichen Artikel und Vorträge die Menschen nicht erreichen, geschweige denn berühren. Aus diesen Überlegungen heraus verfasste Bruno Latour in Kooperation mit weiteren Autor:innen auch selbst Theaterstücke, wie etwa »Cosmocolosse«, das der Bayerische Rundfunk und das ZKM 2013 in einer Bearbeitung als preisgekröntes Hörspiel –  »Kosmokoloss. Eine Tragikomödie über das Klima und den Erdball« – produzierten.

Die von Bruno Latour und Peter Weibel realisierten Ausstellungen waren Belege für die Kraft, die Wissenschaft und Kunst gemeinsam entfalten können. Die weltweite Wirkung dieser Projekte war jedoch den umfangreichen Publikationen zu verdanken, die Bruno Latour und Peter Weibel anlässlich dieser Ausstellungen herausgaben, und die durch den Verlag MIT Press, mit dem das ZKM seit vielen Jahren kooperiert, eine weltweite Verbreitung fanden.

Wir im ZKM kannten Bruno Latour nicht nur aus Büchern. Wir haben ihn nicht nur gelesen, sondern durften mit ihm diskutieren, reisen und arbeiten. Er war über alle Maße inspirierend, humorvoll und großzügig. Ihn interessierten Menschen und Inhalte, dabei ignorierte er die harten Hierarchien der akademischen Welt und der Kunstszene. Im Prozess der aufwändigen Produktion der komplexen Ausstellungen und Publikationen galt seine Wertschätzung allen, die daran mitgewirkt hatten.

Wir sind Bruno Latour unendlich dankbar für das, was er dem ZKM geschenkt hat und wir können uns kaum vorstellen, wie es ist, ohne ihn zu sein. Anlässlich der Finissage von »Critical Zones« am 9. Januar 2022 eröffnete Bruno Latour noch einen Hoffnungshorizont: »Ja, wir wünschen uns, dass der eher traurige Moment der Finissage der Ausstellung in eine Verteilung ihrer Intuitionen, Ideen und Äußerungen an viele andere Menschen umgewandelt wird. Eine Streuung, ein Scattering!« Wir werden Bruno Latours Intuitionen und Ideen immer weiter streuen.

Unsere Gedanken sind bei seiner Frau Chantal, seinen Kindern Chloé und Robinson sowie seinen drei Enkelkindern.

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