Der Rote Platz

Tatiana Volkova über die Ambivalenz des Roten Platzes – Symbolischer Ballungsraum der russischen Staatsmacht und stärkste Ressource für Aktivismus jeglicher Art.
© Pussy Riot
Admin Title
D7 Paragraph: mod_text / GPC_ID: 10840
Display
default
Layout
flex-row-9-3 reverse

»Befrei, befrei, befrei das Pflaster! / Ägyptische Luft ist gut für die Lunge / Mach den Roten Platz zum Tahrir! / Mach dir einen tollen Tag unter starken Frauen... / Tahrir, Tahrir, Tahrir, Tripoli!« – Pussy Riot, Освободи брусчатку! [Befrei das Pflaster!], 2011

VON TATIANA VOLKOVA

Der Text dieses ersten Liedes der Punkrock-Band Pussy Riot erklang auf den Straßen Moskaus bei ihrer Aktion Pussy Riot захватывает транспорт [Pussy Riot kapert den öffentlichen Verkehr] am 7. November 2011, dem Tag der Revolution, einen Monat vor Beginn der Massenproteste in Russland. Zwei Monate später schrien die radikalen Punk-Feministinnen vom Lobnoje mesto [Richtplatz] [1] herunter: „Geh auf die Straße, leb auf dem Roten Platz! Zeig die Freiheit der Bürgerwut...“. Wegen dieser Aktion auf dem Roten Platz Бунт в России – Путин зассал! [Aufstand in Russland – Putin hat Schiss!] wurden die Aktivistinnen festgenommen und erhielten eine Verwarnung wegen Rowdytums. Im März 2012, nach dem „Punk-Gebet“ Богородица, Путина прогони! [Mutter Gottes, verjage Putin!] in der Christ-Erlöser-Kathedrale, endete die Festnahme für zwei Mitglieder mit einer zweijährigen Haftstrafe.

Der an den Kreml als Zentrum des russischen Staates angrenzende Rote Platz fungierte im Unterschied zum Tahrir-Platz in Kairo oder dem Taksim-Platz in Istanbul niemals als Arena für Massenproteste. An das Zentrum der Macht kommt man nicht heran. Wie im russischen Märchen von Kostschej dem Unsterblichen, dessen Leben sich in einer Nadel befindet. Nur wenn man diese Nadel zerbricht, kann man den Märchentyrannen töten. Die Nadel aber steckt in einem Ei, das Ei in einer Ente, die Ente in einem Hasen und so weiter. Es ist kein Zufall, dass die größte Protestaktion in Putins Russland am 6. Mai 2011 nicht etwa auf dem Roten Platz stattfand, sondern auf dem Bolotnaja-Platz, nachdem der erlaubte Massendemonstrationszug durch die Jakimanka-Straße plötzlich auf die Absperrung an der Großen Steinbrücke über die Moskwa gestoßen war. Dort standen „Kosmonauten“ in Reihen – OMON-Beamte [2] in Helm und Schutzausrüstung –, die den „Weg zum Kreml“ sichern sollten.

Admin Title
D7 Paragraph: mod_image / GPC_ID: 54628
Display
image
Layout
flex-row-3-9
© Moskovskij Komsomolets
Admin Title
D7 Paragraph: mod_text / GPC_ID: 10841
Display
default
Layout
flex-row-9-3 reverse

Dennoch ist die Tradition, dem Roten Platz symbolische Bedeutung als Raum der Machtkonzentration zu geben, im sowjetischen und postsowjetischen Russland tief historisch verwurzelt.

Die sogenannte Демонстрация семерых [Demonstration der Sieben] im Jahr 1968 wurde von einer Gruppe aus sieben sowjetischen Dissidenten auf dem Roten Platz durchgeführt, die damit ihren Protest gegen den Einmarsch der sowjetischen Truppen in die Tschechoslowakei zum Ausdruck brachten. In wenigen Minuten wurden die Demonstranten von patrouillierenden Beamten der Miliz und des KGB in Zivil verhaftet, verprügelt und aufs Revier gebracht. Manche von ihnen wurden als unzurechnungsfähig erklärt und zur Zwangsbehandlung in die Psychiatrie eingewiesen, andere wurden zu unterschiedlich langen Gefängnisstrafen verurteilt. 1987 flog der deutsche Privatpilot Mathias Rust mit einem Sportflugzeug von Hamburg über Helsinki nach Moskau und landete auf dem Roten Platz. Er gab an, seinen Flug für den „Weltfrieden“ unternommen zu haben. Rust wurde der Verletzung internationaler Flugverkehrsvorschriften und der illegalen Einreise in die Sowjetunion angeklagt, zu vier Jahren Freiheitsentzug verurteilt, aber begnadigt.

In den 1990er Jahren wurde der Rote Platz zur Arena von Kunstperformances, die meist abstrakt blieben und keine direkten politischen Forderungen stellten.

1991 fand die Aktion ЭТИ-текст [ETI-Text] der Bewegung E.T.I. (Bewegung Expropriation des Territoriums der Kunst) statt, besser bekannt als Хуй на Красной площади[Chui auf dem Roten Platz] [3]. Vierzehn Personen bildeten mit ihren Körpern das obszöne Wort auf dem Pflaster. Die Idee der Performance bestand darin, zwei Zeichen mit gegensätzlichem Status zur Deckung zu bringen: den Roten Platz als topografisches Zentrum der Macht auf dem Territorium der UdSSR und das mit dem stärksten Tabu belegte Wort. 1995 forderte der radikale Moskauer Aktionskünstler Alexander Brener auf dem Lobnoje mesto [Richtplatz] in Boxershorts und Boxhandschuhen Präsident Jelzin zum Kampf heraus. 1998 brachen die Mitglieder der von dem Künstler Anatoli Osmolovski organisierten Внеправительственной контрольной комиссии [Nichtregierungskontrollkommission] in das Mausoleum durch, mit der Parole „Gegen alle“, die im Wahlkampf der 1990er Jahre stark im Schwange war. Im Jahr 2000 fand die Aktion Мягкая тараканья зачистка [Weiche Schabensäuberung] statt: Eine Gruppe von Aktivisten eines antifaschistischen Kreises, die auch Mitglieder der Künstlergruppe PG und Sprayer umfasste, malte eine Kreidelinie um den Kreml, quasi als Versuch, das übrige Russland vor dem Schmutz der Staatsmacht zu schützen.

Admin Title
D7 Paragraph: mod_image / GPC_ID: 54629
Display
image
Layout
flex-row-3-9
© Pjotr Pavlenski
Admin Title
D7 Paragraph: mod_text / GPC_ID: 10842
Display
default
Layout
flex-row-9-3 reverse

Gegen Ende des ersten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts wurde der Rote Platz in Korrespondenz zur autoritärer werdenden Gesellschaftsordnung in Russland zum Forum für klarer strukturierte politische Meinungsäußerungen. 2008 fand die Aktion Свадьба нацболов [Hochzeit der Nationalbolschewiken] statt, bei der etwa fünfzig Personen zum Zeichen des Protestes gegen politische Repressionen den Lobnoje mesto [Richtplatz] besetzten und die Hochzeit zweier Mitglieder der Nationalbolschewistischen Partei zelebrierten. 2011 veranstalteten die Künstler Denis Mustafin, Georgi Dorochov und Vlad Tschischenkov die Performance Белый флаг [Weiße Flagge]. Dabei legten sie weiße Flaggen am Mausoleum nieder als Zeichen der „Kriegserklärung an den eigenen Konformismus mit der Staatsmacht“. Im gleichen Jahr war der Rote Platz Zielort des Autorennens Nowosibirsk–Moskau der Gruppe Бабушка после похорон [Oma nach dem Begräbnis] für die Legalisierung von Petersilie, mit dem die Absurdität der russischen Drogenpolitik entlarvt werden sollte. Und ebenfalls in 2011 befestigte die Bewegung der Stadtpartisanen in Gestalt des Künstlers Make an der Zufahrt zum Roten Platz ein Verkehrszeichen mit der Aufschrift „Осторожно! Впереди тандем!“ [„Vorsicht! Tandem!“], mit dem auf das gefährliche Doppel aus Präsident und Ministerpräsident an der Machtspitze Russlands hingewiesen werden sollte.

Zu Beginn der 2010er-Jahre wurde der Rote Platz zum Ort für zahlreiche Aktionen engagierter Bürger, zum Beispiel gegen das Verbot, unter Minderjährigen Propaganda für Homosexualität zu machen. Es war die erste öffentliche Maßnahme der LGBT-Gemeinschaft [lesbian, gay, bisexual, transsexual] in der Geschichte Russlands. Oder die Aktion Идите на хуй со своей регистрацией! [Verpisst euch mit eurer Registrierung!] gegen das Meldegesetz. Eine der letzten spektakulären Aktionen auf dem Roten Platz war die Performance Фиксация [Fixierung] von Pjotr Pavlenski im November 2013, die als Metapher für die Apathie, Indifferenz und den Fatalismus der heutigen russischen Gesellschaft begriffen werden sollte: Der nackte Künstler nagelte sich mit einem langen Nagel durch den Hodensack ans Kremlpflaster.

Wir wissen, dass die Geschichte trotz dieser pessimistischen Erklärung nicht still steht und der Rote Platz der symbolische Raum für die Ballung der russischen Staatsmacht bleibt, von der alles prohibitive Böse ausgeht. Zugleich stellt er aber auch die stärkste Ressource für Aktivismus jeglicher Art dar, dem hier die größte Medienwirksamkeit garantiert ist.

Weitere Informationen unter: www.global-activism.de    

Über die Autorin Tatiana Volkova ist eine in Moskau, Russland, lebende Kuratorin. Sie ist Mitglied der Internationalen Vereinigung der Kunstkritiker (AICA), wurde 2010 für den Innovation Award nominiert und ist Preisträgerin des Kariatida-Awards (2012).

Tatiana Volkova schloss im Jahr 2000 ihr Studium an der Akademie für Volkswirtschaft in Moskau mit dem Master of Arts ab. 2004 nahm sie als Jubilee-Fellowship-Stipendiatin des CEC Arts Link am International Studio and Curatorial Program in New York teil. Tatiana war bereits als Kuratorin am Zarizyno-Museum, in der Staatlichen Tretjakow-Galerie, in der Reflex-Gallery, im Garage-Zentrum für Zeitgenössische Kultur und der ZHIR-Galerie in Moskau tätig. Sie gehörte den Kuratorenteams einer ganzen Reihe großer Ausstellungen an, einschließlich der 4. Cetinje-Biennale für Zeitgenössische Kunst in Montenegro (2002), Viewing Pad am Zentralen Künstlerhaus Moskau (2003), Russian Pop-art (2005) und Sots-Art. Political Art in Russia in der Staatlichen Tretjakow-Galerie Moskau (2007) sowie Russian Utopias im Garage-Zentrum, Moskau (2010).

Seit 2009 hat sich Tatiana der Erforschung und Förderung russischer Aktivistenkunst verschrieben. Sie fungierte als Kuratorin zahlreicher Ausstellungen junger russischer Aktivistenkünstler im Rahmen des ZHIR-Projekts (Winzavod-Kunstzentrum, Moskau, 2009–2010) sowie bei der Ausstellung Silence=Death [Stille=Tod] (Artplay-Zentrum, Moskau, 2012). Seit 2011 ist Tatiana Initiatorin und Moderatorin des MediaImpact Festivals für Aktivistenkunst, das seitdem in Nowosibirsk, in Murmansk und zweimal in Moskau stattfand. 2013 wurde Tatiana Mitglied des Kuratorenteams der Ausstellung global aCtIVISm am ZKM | Zentrum für Kunst und Medien Karlsruhe.

Tatiana verfasst Beiträge für Ausstellungskataloge und Webveröffentlichungen und hält Vorträge über russische Aktivistenkunst.

Admin Title
D7 Paragraph: mod_image / GPC_ID: 54630
Display
image
Layout
flex-row-3-9
© Foto: Konstantin Guz
Admin Title
D7 Paragraph: mod_text / GPC_ID: 10843
Display
default
Layout
flex-row-9-3 reverse

__________________________________________

Anmerkungen Aus dem Russischen von Annelore Nitschke

[1] Rundes Baudenkmal auf dem Roten Platz

[2] Spezialeinheit der russischen Polizei

[3] Der Begriff Chui gilt in Russland als Tabuwort und kann mit "Schwanz" übersetzt werden.

Kategorie

News Category

  • tracks & records

Footer

ZKM | Zentrum für Kunst und Medien

Lorenzstraße 19
76135 Karlsruhe

+49 (0) 721 - 8100 - 1200
info@zkm.de

Organization

Dialog