Die buchstäbliche People Power der Syrer
Sie heißen Sada al-Sham [Echo Syriens], Enab Baladi [Trauben meines Landes] oder Souriatna [Unser Syrien].
VON MONA SARKIS
Die Titel der neuen Bürgermedien signalisieren unmissverständlich, wofür unzählige Syrer seit drei Jahren kämpfen: Für das Land, das sie nicht haben. Insofern sind die „Bürger-Journalisten“ in diesem Orwell-Reich gerade erst dabei, jenen Bürgerstatus zu erringen, den laut Aristoteles die „Teilnahme an dem Gerichte und der Regierung“[1] prägt.
Demgegenüber ist ihnen das Publizieren weder fremd noch neu, schon gar nicht seit Einführung des anonymen Internets im Jahr 2000. Dennoch blieb die Angst – von der zynische Zungen behaupten, die Syrer hätten sie regelrecht erfunden – im Vordergrund und die Artikulationsfreude entsprechend gebremst.
Seit dem 15. März 2011 hat sich dies geändert. Nahezu jede Rebellenhochburg veröffentlicht heute, mit lokalem oder überregionalem Anspruch, ihr Medium, und überall ist jene Hürde niedergerissen, die die Menschen über zwei Generationen davon abhielt, die Namen ihrer Führer explizit zu nennen. (Welche perfiden Unterdrückungsmechanismen am Werk sind, wenn das bloße Aussprechen eines Namens Panik bewirkt, vermag sich hierzulande, da die Politikerwitze einander jagen, wirklich niemand auszumalen.)
Mittlerweile aber zeigen die Syrer mit dem Finger auf Verbrecher und Verbrechen und halten nimmermüde das Ursprungsziel der Revolte, die Menschenrechte, hoch. Vor allem mit ihren Warnungen vor konfessioneller Hetze ecken sie an, und das nicht allein beim Regime, sondern auch bei jenen Terrorgebilden, deren ganze Raison d’Être im konfessionellen Extremismus liegt. So heißt ihr aktuell neuester Feind „Islamischer Staat in Irak und Syrien“ (ISIS) – eine Gruppierung, die mit 20.000 Mann zwar eine Minderheit stellt, aber nichtsdestotrotz die breiteste Blutspur nach sich zieht.
Binnen weniger Monate verschleppte ISIS im Jahr 2013 zwischen 60 und 200 Bürger-Journalisten – darunter auch einen Mitarbeiter von Radio Ana [Radio Ich]. Dessen Redaktion forderte daraufhin in einer Petition ein Ende der Gewalt an syrischen Medienschaffenden. 21 syrische Medienorganisationen unterzeichneten das Gesuch.
Angesichts des Schlachtens in Syrien mag man diesen Schritt für ebenso lächerlich befinden, wie man die Bemühungen dieser Jugend unter der Rubrik „ehrenwert, aber völlig sinnlos“ abhaken mag. Doch abgesehen davon, dass Petitionen anerkannter Bestandteil demokratischer Grundrechte sind und diese Jugend somit ihr Ideal vom künftigen Syrien unter extremsten Bedingungen vorlebt, blendet derjenige, der auf schnelle Lösungen in diesem Krieg erpicht ist, die historische Dimension des gesamten Geschehens aus.
Denn das eigentlich Sensationelle am syrischen, ägyptischen, jemenitischen oder libyschen Bürger-Journalismus ist, dass ihn nicht die altbekannten Dissidenten bestreiten (die sich nicht selten als wohlerzogene Sprösslinge ihrer Diktatur erweisen, indem sie nahtlos die Rollen neuer Lenker und Leiter beanspruchen). Vielmehr sind die Antreiber diesmal unbekannte junge Menschen, die sich vor der Revolte mitunter nicht einmal als Aktivisten hervortaten. In der arabischsprachigen Welt ist dies ein völliges Novum.
Tatsächlich formulierten die Massen nicht einmal zu Zeiten der Nahda – jener kulturellen Aufbruchsphase ab 1850, mit der die „Arabellions“ völlig zu Unrecht verglichen wurden – ihre Vorstellung von Moderne. Stattdessen übernahmen diesen Part stets die Eliten. Seit dem Winter 2010 wankt diese Kompetenzverteilung gewaltig. Und so ist es bezeichnend, dass sich Yassin el-Haj Saleh, einer der bekanntesten Vertreter der syrischen Intelligenzija, anlässlich eines Vortrags in Paris unlängst von einer Syrerin fragen lassen musste, weshalb er und seinesgleichen es nicht geschafft hätten, einen Austausch auf Augenhöhe mit dieser Jugend herzustellen? Weshalb stattdessen das, was er sage, „so von oben herab“ klinge?
Viele der aktuellen Bewegungen werden sich in den kommenden Jahren oder Jahrzehnten verändern. Denn solange wird der Krieg in Syrien andauern. Aber jenes Körnchen an „People Power“, das jetzt gesät wurde, wird Wurzeln schlagen. Dafür werden die Berichte sorgen, die die heutigen Akteure den folgenden Generationen hinterlassen werden.
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Anmerkung
[1] Aristoteles, Politik, Felix Meiner Verlag, Hamburg, 1981, S. 77.
Über die Autorin
Mona Sarkis ist in Deutschland geboren und in Syrien aufgewachsen. Als freie Journalistin mit Fokus auf kulturellen und gesellschaftspolitischen Themen im Mittleren Osten arbeitet sie vorwiegend für den Deutschlandfunk und die Neue Zürcher Zeitung. www.monasarkis.de
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