Giga-Hertz-Festival 2023: Jurybegründungen
Preisträger:innen Giga-Hertz-Preis 2023
-
Giga-Hertz-Hauptpreis 2023 – Laurie Spiegel
Im Verlauf ihrer langen und bemerkenswerten Karriere war Laurie Spiegels außergewöhnliches Schaffen als Komponistin, Performerin, Software-Designerin, Bild- und Videokünstlerin und Theoretikerin durch eine einzigartige Kombination aus Innovation und Humanismus gekennzeichnet. Als Pionierin der algorithmischen Musikkomposition umfasst Spiegels Karriere mehrere Epochen der digitalen Künste.
In den 1970er-Jahren arbeitete sie als Komponistin und Softwareentwicklerin an der Seite des Computermusik-Pioniers Max Mathews. Sie wirkte der Kritik der »Entmenschlichung der Künste« entgegen, indem sie mit »GROOVE«, dem legendären Echtzeit-Minicomputer-Performance-System von Mathews und F. Richard Moore, berührende, humanistische Musik schuf. Spiegel schrieb auch eines der ersten Zeichen-/Malprogramme in den Bell Labs, das sie später um interaktive Video- und synchrone Audioausgabefunktionen erweiterte.
Weitere wichtige Werke aus dieser Zeit sind ihre Komposition »Appalachian Grove I« aus dem Album »New Music for Electronic and Recorded Media: Women in Electronic Music« (1977). Zu ihren bedeutendsten Aufnahmen gehören »Obsolete Systems« (2001), »Unseen Worlds« (1991) und »The Expanding Universe« (1980/2012).
Spiegels Musik, ihre Schriften über die Gestaltung von Computermusik-Schnittstellen und ihr frühes Eintreten für die zentrale Stellung von Frauen in der Musiktechnologie umfassen gleichermaßen das Technische, das Soziale, das Ästhetische und das Menschliche. Ihr frühes Verständnis des Computers als eine neue Art von Volksinstrument hat sich inzwischen bewahrheitet, und ihr eigener einflussreicher Vorstoß auf diesem Gebiet war das berühmte Programm »Music Mouse« (1986), das heute als eines der ersten »intelligenten Instrumente« gilt.
Durch die Automatisierung einiger Aspekte des Aufführungsprozesses konnte das Programm "Nutzende" in Interpret:innen, Komponist:innen, Mitwirkende und Mitgestaltende verwandeln. Spiegel entwickelte auch das Musiksystem »alphaSyntauri« für den Mikrocomputer Apple II und gründete das Computer Music Center der New York University.
Spiegels Umsetzung von Johannes Keplers »Harmonices Mundi« wurde von dem Astronomen Carl Sagan als Eröffnungsstück der Goldenen Schallplatte ausgewählt, die sich an Bord der 1977 gestarteten NASA-Raumsonde Voyager 2 befand. Im Jahr 2018 wurde dieses Werk zusammen mit der Musik von Chuck Berry, Beethoven, senegalesischer Percussion-Musik und javanischem Gamelan zu einer der ersten und einzigen von Menschen geschaffenen Musikkompositionen, die in den interstellaren Raum gelangte.
In Anbetracht all dieser und vieler weiterer Leistungen freut sich die Jury, den Giga-Hertz-Hauptpreis für das Lebenswerk an Laurie Spiegel zu verleihen.
George Lewis, Juror
-
Giga-Hertz-Produktionspreis 2023 – Lea Bertucci
Für »Of Shadow and Substanc« ließ sich Lea Bertucci von der Umweltkatastrophe am Schuylkill River in Philadelphia 2019 inspirieren. Darauf aufbauend entwickelt sie eine Erzählung, die Live-Samples von Holzblasinstrumenten mit einer räumlichen Anordnung von Lautsprechern kombiniert und so eine echoartige Atmosphäre schafft, in der Klangfragmente auch dann noch nachhallen, wenn die Instrumente bereits verstummt sind. Das Ergebnis ist eine ergreifende Mahnung an den Nachhall der Geschichte, welche die Wahrnehmung von Zeit infrage stellt und die Zerbrechlichkeit der Menschheit erforscht.
Dieser Produktionspreis würdigt nicht nur Bertuccis außergewöhnliches Talent, sondern unterstreicht auch die Bedeutung von Kompositionen, die uns zum Denken, Fühlen und Reflektieren herausfordern. »Of Shadow and Substance« ist mehr als nur ein Stück Musik. Es ist ein Aufruf zur Kontemplation in einer Welt, die sich oft zu schnell bewegt und voller Ablenkungen ist. Das Werk ist ein Zeugnis für Lea Bertuccis Kunstfertigkeit, etwas zu schaffen, das sowohl den Intellekt als auch das Herz anspricht.
Gosia Plysa, Jurorin
-
Giga-Hertz-Produktionspreis 2023 – Jessica Ekomane
»Manifolds« ist ein Beispiel für Jessica Ekomanes fortlaufende Untersuchung der Wahrnehmung rhythmischer Strukturen, des Austauschs von Geräusch und Melodie, der Beziehung zwischen individueller Wahrnehmung und kollektiver Dynamik sowie der gesellschaftlichen Wurzeln des Hörens. In dieser Werk verwendet Ekomane einen mit Max/MSP ausgestatteten Laptop für die Komposition und Ableton Live für die mehrkanalige Live-Diffusion unter Verwendung des GRM-Akusmoniums. Obwohl die Komponistin und Interpretin angibt, dass die Stimmung in diesem Werk auf nur vier Stimmen angewandt wird, weisen die klanglichen Ergebnisse eine weitaus größere Komplexität auf.
Der erste Teil des Werks mit seinem festlichen, feierlichen Charakter eines unvorhersehbaren Tanzes zeichnet sich durch sehr intensive Schichten gefalteter Konversationsklänge aus, die eine unerbittliche Wirkung haben. Diese Textur weicht allmählich einer bedächtigeren, stattlichen Polyphonie von orchestraler Intensität, die algorithmisch in und um ein malawisches equiheptatonisches Tonsystem herum erzeugt wird. Im dritten und vierten Teil des Stücks werden die malawischen Klangressourcen auf andere Weise genutzt.
In einem markanten Moment erinnert das Klangverhalten des Werks an frühe analoge Sample-and-Hold-Synthesizer-Module. Die Conclusio des Stücks stellt eher eine Einladung mit offenem Ende als ein Abschluss dar. Für dieses kühne und komplexe Werk verleiht die Jury des Giga-Hertz-Preises 2023 Jessica Ekomane einen Produktionspreis.
George Lewis, Juror
Preisträger:innen Förderpreis PopExperimental 2023
-
This Machine!
Die verdienten Gewinner:innen des Giga-Hertz-Förderpreises PopExperimental sind das finnisch-deutsche Trio This Machine! Und wie! Die Band steht für experimentelle Popkultur vom Feinsten: eingängig, aber mit starkem Unterton, gleichzeitig emotional aufwühlend und wunderbar komplex.
Jovanka von Wilsdorf, Jurorin
Dunkle, majestätische Nachtmusik von einem Ort, an dem die Nächte stets sehr lang sind. Bei dem finnisch-deutschen Familienprojekt This Machine! trifft das Massive auf das Zerbrechliche, kantige Elektronik auf menschliche Sensibilität und Klanglandschaften auf Gesang unter sinistrem Schein der Nordlichter.
Hans Nieswandt, Juror
Honorary Mentions Giga-Hertz-Preis 2023
-
Nyokabi Kariũki
Nyokabi Kariũkis »feeling body« (2022) ist eine bemerkenswerte elektroakustische persönliche Erzählung, in der aufgezeichnete und verarbeitete Stimmen (»echte« und automatisierte), Geige, Trompete und Feldaufnahmen eingesetzt werden, um eine berührende, einfühlsame Mediation über die Erfahrung der Künstlerin mit dem Long-COVID zu schaffen.
Das Werk hat eine entwaffnende, hausgemachte Qualität, die die Komplexität der zu seiner Herstellung verwendeten Technologie verdeckt. Eine elektronisch gebrochene Stimme, die das Innere, die Isolation und die Entfremdung widerspiegelt, taucht aus den Geräuschen von Schnupfen und Husten auf und wiederholt das ahnungsvolle Mantra »Come home to the body... But the home is not OK«, das neben anderen Stimmen in Englisch und Kisuaheli steht, welche die COVID-Kranke befragen. Die Geräusche des Wassers und seine Umwandlungen - Eis, Tropfen, Fließen - bilden die Bezüge des Werks zu homöopathischen Behandlungen der Kikuyu (Kariũkis kenianischen Gemeinschaft), insbesondere zur Flussklangtherapie, die Frauen verschrieben wird.
»feeling body« erinnert an Anton Wilhelm Amos philosophische Vorstellung von der Kraft (und Verletzlichkeit) des lebendigen und organischen Körpers. Das Stück entwickelt sich mit einer aus Unbestimmtheit, Resignation und stiller Entschlossenheit entstehenden Ambivalenz zu einem Lamento, angeführt von verarbeiteten, mehrstimmigen Chören und gedämpften Trompeten. Für diese sinnlich und intellektuell berührende Assemblage verleiht die Jury des Giga-Hertz-Preises 2023 Nyokabi Kariũki eine Lobende Erwähnung.
-
Piotr Kurek
»Breathing« zeugt von Piotr Kureks Innovation, Konzentration und Leidenschaft. Das Stück ist ein komplizierter Klangteppich, der nahtlos Jazzinstrumente mit mehrstimmiger Chormusik verwebt und dabei gleichermaßen überrascht wie erfreut. Die Stärke von »Breathing« liegt in der Art und Weise, wie Kurek die von Komi Togbonou und Martin Weigel gesungenen ätherischen Harmonien mit den eindrucksvollen gesprochenen Worten des chinesischen Künstlers Xiangjie in Einklang bringt. Diese Verschmelzung schafft eine Klanglandschaft, die Grenzen überschreitet und konventionelle musikalische Normen infrage stellt.
Kureks Erforschung der menschlichen Stimme fördert einzigartige Texturen und Töne zutage, die er meisterhaft mit Instrumenten wie Marimbas, Flöten und Schilfrohr verwebt. Die Gegenüberstellung dieser Instrumente vor dem Hintergrund modernster digitaler Audiobearbeitung unterstreicht Kureks Talent, das Klassische mit dem Zeitgenössischen zu verbinden. Was dem Stück zusätzliche Tiefe verleiht, ist sein Ursprung als Bestandteil der Theateraufführung »Heart Chamber Fragments«, die Kureks Vielseitigkeit bei der Gestaltung von Musik zeigt, die sowohl unabhängig als auch innerhalb einer theatralischen Erzählung existieren kann. Deshalb verdient Piotr Kureks »Breathing« eine Lobende Erwähnung im Rahmen des Giga-Hertz-Preises.
-
Manuel Rocha Iturbiudes
Manuel Rocha Iturbides »Urform Piano« (2020) für Fixed Media ist eine geniale Erkundung des Urform-Konzepts. Indem er die Schaeffersche Phänomenologie der Klangwahrnehmung nahtlos mit der vielfältigen Klanglandschaft des Hammerklaviers verbindet, erforscht Rocha Iturbide die archetypischen Formen einzelner Klänge und des Instruments als Ganzes und entfaltet eine ganzheitliche Reise, die das Wesen und das Potenzial des Hammerklaviers erfasst. Die virtuose Darbietung des Komponisten verleiht dem Werk eine besondere Note, da sie die klanglichen Möglichkeiten des Instruments meisterhaft auslotet. Für diese Leistung verleiht die Jury Manuel Rocha Iturbide eine lobende Erwähnung.
Gosia Plysa, Jurorin
PopExperimental Honorary Mentions
-
bela
Ein Klangexperiment zwischen Klaustrophobie und Befreiung, vor dem man am liebsten weglaufen und noch mehr dazu tanzen möchte.
Jovanka von Wilsdorf, Jurorin
Korea hat eine lange und tiefe Tradition polyrhythmischer, perkussiver Volksmusik, die reich an Klangsensationen ist. In den Maschinen von belawerden diese Elemente zu harten und kraftvollen Beats, kombiniert mit ohrenbetäubenden Schreien und Geräuschen, die ins Extreme übergehen. So aktualisiert man alte Stile für das 21. Jahrhundert.
Hans Nieswandt, Juror
-
Sophia Mitiku
Sophia Mitikus Musik ist ein großartiges Beispiel dafür, dass wahre Intensität weder Brutalität noch Lautstärke braucht und uns dennoch auf eine verstörende Sightseeing-Tour durch unsere eigenen Abgründe mitnehmen kann. So sehr, dass es sich lohnt, sich in ihre Klangwelten zu verlieben.
Jovanka von Wilsdorf, Jurorin
Verträumter Future-R&B mit eleganten Glitches und Pink Noises von einer in Helsinki lebenden, in Kalifornien geborenen Künstlerin mit Wurzeln in vielen Kulturen und dem Potenzial, in allen ein großer Popstar zu werden!
Hans Nieswandt, Juror
-
Rashaad Newsome
Rashaad Newsomes kreativer Output atmet Lust, Queerness und vitales Empowerment und verwandelt den weißen, männlichen virtuellen Raum in eine brennende multidimensionale Bühne. Brutal gut.
Jovanka von Wilsdorf, Jurorin
Rashaad Newsome kocht eine atemberaubende multimediale Mischung aus Voguing-Kultur (Tanz, Musik, Attitüde), Cyber-Visualisierung und kritischer Theorie, die Herkunft, Geschlecht und andere Beschränkungen der menschlichen Art überwindet. Diese Mischung bringt einen dazu, sich hinzusetzen und nachzudenken und gleichzeitig aufzustehen und zu tanzen - das gelingt nur wenigen.
Hans Nieswandt, Juror