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Peter Weibel: Einführung

Infosphäre: Die Verwandlung der Dinge in Daten

© Emma Charles
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In der alten Welt, der analogen Welt, gab es vor allem Dinge. Der Mensch gab den Dingen Namen und diese Beziehungen zwischen den Worten und Dingen haben für Jahrtausende die Kultur und die Zivilisation bestimmt. Deshalb heißen noch zeitgenössische philosophische Bücher »Word and Object« (Willard Van Orman Quine, 1960) oder »Les mots et les choses« (Michel Foucault, 1966). Die Menschen gaben aber den Dingen nicht nur Namen, sondern bereits vor Urzeiten machten sie sich Bilder von den Dingen. Die Welt der Worte und die Welt der Bilder haben sich im Laufe der Zeit verselbstständigt und wurden zu autonomen Welten. Die Beziehungen zwischen Worten und Objekten und zwischen Bildern und Objekten bilden die zwei wichtigsten evolutionären Stufen der Abstraktion. Die dritte Stufe ist die Abbildung der Objekte, Worte und Bilder aufzählen. Dadurch entstand die neue digitale Welt der Daten. Wie kommt es, dass aus Dingen, Bildern und Worten Daten wurden? Es bedurfte einer unendlichen Zahl von Theorien und Erfindungen, um diesen Wandel zu vollziehen. Nur einige möchte ich herausgreifen.

Die Zahlen schufen ein abstraktes Reich, das über die Existenz von Dingen, also über die Existenz von sensua (Sinnesdaten) hinausging. Man kann alle Zahlen der Welt mit zehn Ziffern (1 bis 0) formulieren. Die Erfindung des binären Zahlensystems durch Gottfried Wilhelm Leibniz (1697), also die Darstellung aller Zahlen nur durch zwei Ziffern, nämlich 0 und 1, bildet eines der entscheidenden Axiome für die Infosphäre. Um 1800 begannen die mentalen und maschinellen Anstrengungen, die Welt zu mathematisieren. Joseph-Louis de Lagrange hat bereits im Vorwort zu seinem Meisterwerk »Mechanique analitique« (1788) betont, dass er die Welt nur mittels algebraischer Operationen vollständig beschreiben kann. Dieses geniale Werk hat implizit das Universum als digitale Maschine entworfen. Sigfried Gideon beschreibt in »Mechanization Takes Command« (1948) die industriellen Folgen dieser Mathematisierung. George Boole hat in »An Investigation of the Laws of Thought« (1854) bewiesen, dass Logik und Algebra identisch sind.
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Daraus entstand mithilfe von Gottlob Frege (»Begriffsschrift. Eine der arithmetischen nachgebildete Formelsprache des reinen Denkens«, 1879), Bertrand Russell und Alfred North Whitehead (»Principia Mathematica«, 1910-1913) die mathematische Logik, deren Ideal es war, Denken auf Logik abzubilden und Logik auf Mathematik. Dadurch wurden die Voraussetzungen für die Programmiersprachen ab den 1950er-Jahren geschaffen.

Die Mutter der Programmiersprachen, die unter anderem von Peter Naur, Friedrich L. Bauer und John W. Backus (1958-1963) entwickelt wurde, heißt ALGOL 60, für „algorithmic language“. Alle Programmiersprachen sind sogenannte Semi-Thue-Systeme, die auf den Aufsatz »Probleme über Veränderungen von Zeichenreihen nach gegebenen Regeln« (1914) von Axel Thue zurückgehen. Auch die Modelle universaler Grammatiken von Noam Chomsky (ab 1956) sind Semi-Thue-Systeme.

Die Programmiersprachen von heute, der nummerische Code, welcher die Basis der Infosphäre bildet, haben philosophische Vorläufer in den Werken der Logiker und Philosophen des 20. Jahrhunderts aus Polen und Österreich. Stellvertretend seien die Titel zweier von Rudolf Carnap verfassten Bücher genannt: »Der logische Aufbau der Welt« (1928) und »Logische Syntax der Sprache« (1934). Sie zeigen deutlich die Absicht, nach der Analyse der logischen Struktur der Sprache auch das Universum selbst als eine mathematische Struktur darzustellen.  Exemplarisch für die Position der digitalen Philosophie wird in einer Panorama-Projektion die Entwicklung des Wiener Kreises gezeigt, eine Produktion des ZKM mit dem Institut Wiener Kreis. Diese Suche spiegelt sich heute im Buch von Max Tegmark (»Our Mathematical Universe«, 2014) wider.
 
All diese Mathematiker, Logiker und analytischen Philosophen der letzten zweihundert Jahre standen im Dienste der Aufgabe, durch eine Mathematisierung der Welt, die Welt der Objekte in eine von Menschen kontrollierte Welt von Daten zu verwandeln. Warren S. McCulloch und Walter H. Pitts' »A Logical Calculus of the Ideas Immanent in Nervous Activity« (1943) haben die Nerventätigkeit als Basis des Denkens erfolgreich als logisches Kalkül formalisiert.
 
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Schließlich haben Kurt Gödel und Alan Turing am Ende der Überlegungen zur Mathematisierung der Welt über die Mathematisierung der Mathematik selbst nachgedacht. Turings Essay »On Computable Numbers« (1936/1937) stellt die Frage, wie Zahlen und Zahlenprozesse selbst berechnet werden können. Damit war klar, dass frühere Vorstellungen von Wahrheit, hergestellt und dargestellt durch verbale Sätze, logischen Operationen weichen mussten, wie auch Ludwig Wittgensteins Wahrheitstafeln verdeutlichen (»Tractatus Logico-Philosophicus«, 1922). Die Wahrheit von Aussagen stützt sich auf logische Beweisbarkeit und seit Turing und Alonzo Church gilt nur als beweisbar, was berechenbar ist. Zahlen operieren über Zahlen, aber Zahlen operieren auch über Bilder, Worte und Dinge. Zahlenoperationen haben Einfluss und Wirkung auf Bilder, Worte und Dinge. Dadurch entsteht eine neue Form der Ontologie, deren Konturen wir erst erahnen. Das Theorem von Parmenides, dass Denken und Sein eins seien, wird durch die digitale Technologie auf merkwürdige Weise bestätigt.
 
Normalerweise schreibt der Mensch Zahlen und Rechenvorschriften wie Addition als »+« auf ein Papier, rechnet aber selbst im Kopf und schreibt das Ergebnis der Rechenoperation wiederum auf Papier. Beim Taschenrechner sind die Zeichen und Rechenvorschriften Teil der Maschine, die der Mensch als Teil der Rechenoperation betätigt. Das Ergebnis liefert die Maschine. Die Maschine rechnet für den Menschen: Mentalismus und Mechanismus sind identisch. Wenn Rechnen zum Denken gehört, können also das Rechnen und somit das Denken mechanisiert werden. Die erweiterte Church-Turing-These besagt genau dies: alles was formalisiert werden kann, kann berechnet werden. Und alles was berechnet werden kann, kann mechanisiert werden. Im digitalen Universum nähern sich Denken und Sprache, Sprache und Sein, Denken und Sein in einem definierten Ereignishorizont einander an. Nicht alles, was existiert, kann gedacht werden und nicht alles, was gedacht werden kann, kann gesagt werden. Es gibt also mehr, als wir denken und sagen können. Aber der Teil des Seins, der gedacht werden kann und der Teil des Denkens, der gesagt werden kann, kann formalisiert und digitalisiert werden. In diesem Bereich gilt das Diktum von Parmenides, verifiziert am Beispiel von Boole und Shannon: Das Universum ist uns nur beschränkt zugänglich und offenbart uns nur seine formale, mechanische, digitale Seite. Unser Verstand und unsere Werkzeuge machen uns nur die digitale Seite des Universums zugänglich, aber die immer mehr. „Es ist entweder oder es ist nicht" (Parmenides). Solche Aussagen erweisen die Ontologie selbst als digitalen, binären Code: Sein oder nicht Sein, 1 oder 0. Zahlen operieren über dem Sein, durch das Sein, mit dem Sein. Man ist versucht, von einer operativen Ontologie zu sprechen. Was formalisiert werden kann, kann verwirklicht werden. Nach der Herrschaft der Maschinen beginnt daher die Herrschaft der Daten. Beides sind neue Formen der Wirklichkeitskonstruktion, beides sind neue Seinsweisen, welche die Ontologie erweitern.
 
Diese merkwürdige ontologische Wende statuierte Claude E. Shannon mit seiner Masterarbeit »A Symbolic Analysis of Relay and Switching Circuits«. In dieser Arbeit bewies er, dass Boole'sche Algebra dazu verwendet werden kann, um die Anordnung von Relais zu vereinfachen und, in Umkehrung, durch den gezielten Einsatz von elektronischen Schaltungen Boole'sche Gleichungen gelöst werden können. Die von Shannon vorgeschlagene Verknüpfung beider Systeme und der Gebrauch der binären Eigenschaften elektrischer Schaltkreise (on – off, 1 – 0, Strom – kein Strom) zur Ausführung logischer Funktionen bestimmten fortan den Aufbau aller elektronischer digitaler Computer. Shannon zeigte, dass die mentalen Formeln der Boole'schen Algebra in materielle Schaltalgebra übertragen werden konnten.
 
Elektronische Schaltkreise – also Materie – verhalten sich nach der Boole'schen Algebra, nach den Regeln des Geistes. Mind over Matter? Aufgrund der Kopplung von Leibniz' Erfindung des binären Codes mit elektronischen Schaltkreisen konnten Maschinen mit lediglich zwei Ziffern nun alle Zahlen berechnen und somit die Frage von Turing beantworten. Das Computerzeitalter begann, das sich dadurch auszeichnet, die Dinge in Daten zu verwandeln und über diese Daten selbst wie existenzielle Dinge zu operieren. Das erklärt, warum die Mathematik auf scheinbar unerklärliche Art und Weise so wirkungsvoll in der Physik ist (Eugene Wigner, »The Unreasonable Effectiveness of Mathematics in the Natural Sciences«, 1960).
 
Digitale Philosophie behauptet nicht, dass alles formalisierbar ist, ganz im Gegenteil (Kurt Gödel, »Über formal unentscheidbare Sätze der Principia Mathematica und verwandter Systeme I«, 1931). Sie weiß, es existiert mehr als wir sprachlich ausdrücken können, das heißt formalisieren können. Und auch nicht alles, was wir denken, kann formalisiert werden. Die Menschen versuchen allerdings immer mehr, das was ist oder sein könnte, mit ihrem Denken zu erfassen, und zweitens, ihr Denken selbst immer mehr zu erfassen, also zu formalisieren. Die Welt der Daten schließt also die Welt der Dinge, Worte und Bilder nicht ab, sondern, im Gegenteil, sie verwandelt sie in ein offenes System.
 
Neben der mathematischen Informationstheorie der Kommunikation bedurfte es aber noch einer Vielzahl anderer Erfindungen der Telekommunikation, von Heinrich Hertz' Funkenexperimenten (1886–1888) bis zu den Transistoren von John Bardeen, Walter Brattain und William Shockley (um 1946), um die Infosphäre, das ist die technische Infrastruktur der Datenwelt, zu erzeugen. Die telematischen Medien –Telegrafie, Telefonie, Television, Radar, Rundfunk, Satellit, Internet – bilden seit circa einhundertfünfzig Jahren ein technisches Netzwerk, das den Globus umspannt und den globalen Datenaustausch sowie die Organisation des Transports von Menschen und Gütern ermöglicht. Heinrich Hertz hat durch seine Funkenexperimente den empirischen Nachweis für die Existenz der elektromagnetischen Wellen erbracht. Damit begann das Zeitalter der drahtlosen Funktechnologie, welche die Separation von Bote und Botschaft ermöglichte, sodass Daten ohne den Körper des Boten den Raum durchqueren können.

Im 20. Jahrhundert entstand auf der Grundlage der technischen Innovationen der Funktechnologie und der auf der mathematischen und logischen Grundlagenforschung gestützten Computertechnologie ein dicht verknüpftes Kommunikations- und Informationsnetzwerk von mobilen Medien: die Infosphäre - eine die Erde umspannende Hülle aus Funk- bzw. Radiowellen. Durch künstliche, technische Organe kann der Mensch erstmals die elektromagnetischen Wellen, für die er bisher kein Sensorium besaß, zur leitungslosen Übertragung von Worten, Bildern und anderen Daten nutzen. Die sozialen Medien, welche unseren Alltag verändert haben, sind Teil dieser technischen Netzwerke. Daher muss die Gleichung „Machinery, Materials, and Men" (Frank Lloyd Wright, 1930), die für das 19. und 20. Jahrhundert gültig war, für das 21. Jahrhundert um die Gleichung „Medien, Daten und Menschen" (Peter Weibel, 2011) erweitert werden. Seitdem der alphabetische Code durch den numerischen Code ergänzt wurde, stellen Algorithmen – von der Börse bis zum Flughafen – ein fundamentales Element unserer sozialen Ordnung dar. Die Menschen leben heute in einer global vernetzten Gesellschaft, in der Biosphäre und Infosphäre einander durchdringen und bedingen.

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