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Vilém Flusser: Ein philosophisches Selbstportrait (1997)

© ZKM | Zentrum für Kunst und Medien Karlsruhe
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Auszug aus dem in »Medienkunstpreis 1997« veröffentlichen Aufsatz von Vilém Flusser "Ein philosophisches Selbstportrait"
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"Von einem jungendlichen Marxismus ausgehend, (der seinen ersten Schock mit den Moskauer Prozessen erlitt), versuchte ich, in der europäischen Phase meiner Entwicklung die dialektische Methode auf einer eher formalen Methode aufzubauen. Mein Vater war Mathematikprofessor auf der Karlsuniversität in Prag und meine Tendenz zur Formalisierung ist daher verständlich.

Der »Tractatus« von Wittgenstein hatte in diesem Sinne einen großen Einfluß auf mich. Die Erschütterungen des Krieges, die Zerstörung meiner Welt, die Emigration nach Brasilien und die daraus folgernde Anforderung, Werte und fremde Konzepte zu assimilieren, zerrissen meine ursprüngliche Tendenz zum Formalismus. Ich geriet unter den Einfluß der Existentialphilosophie, besonders in der Form Heideggers. Meine Situtation war diesbezüglich ambivalent. Ich war von der Existentialanalyse Heideggers stark bewegt, doch spürte ich den Geschmack des Nazismus. Als Erleichterung dieser Spannung las ich Jaspers.

Später (1943 oder 44) nahm ich Kontakt mit Buber auf, und das führte mich dazu, protestantische Existentialtheologie zu lesen. Den Krieg und die Konzentrationslager im Hintergrund, bin ich immer mehr in den Bereich der mystischen Spekulationen abgewichen (das war schon am Ende des Tractatus vorauszusehen), ich interessierte mich für das orientalische Denken, für San Juan de la Cruz, Ekkehart, Angelus Silesius, ich entdeckte erneut die deutsche Romantik und Dostojewski. Ich wußte zugleich, daß dieser Weg ein gefährlicher war im Sinne des Verrats des Intellekts und im Sinne einer Flucht.

Mit dem Ende des Krieges und mit der Ankunft des Kommunismus in Prag (Unmöglichkeit der Rückkehr) öffnete ich mich immer mehr dem brasilianischen Milieu. In diesem Milieu verstärkten sich meine Ängste gegenüber der Anziehungskraft des Mystizismus (Macumba, Spiritismus und anderes Geschwätz), doch wurde mir auch die Sterilität des rationalen Formalismus klar (Positivismus, Marxismus à la brasileira, Scholastik, Akademismus). Zwischen der Skylla des Geschwätzes und der Charybdis der falschen Gelehrtheit geriet ich in eine Krise. Während einiger Jahre erwägte ich den Selbstmord, nur mit dieser immer gegenwärtigen Möglichkeit gelang es mir zu leben, ich habe Kafka, Camus und die absurde Kunst verschlungen. Zu dieser Zeit erlernte ich, daß man den Glauben nicht erzwingen kann und daß, wenn Gott gestorben war, er endgültig gestorben ist.

Ich lief in meiner Verzweiflung zu Nietzsche, zu den Vorsokratikern, und ich begann den späten Husserl zu verstehen, kehrte auch zu Frege zurück und entdeckte von neuem Leibniz. Das war die Zeit, in der ich "Die Geschichte des Teufels" in Deutschland schrieb, da ich noch kein Vertrauen in mein Portugiesisch hatte. Meine Katharsis war Kant. Ich habe nicht nur ihn, auch Cassirer, Cohen, die ganze Marburger Schule verschlungen.

Der Umkreis meines Denkens begann sich abzuzeichnen: eine Brücke zu schlagen zwischen unbefriedigender Religiosität und sterilem Formalismus, das heißt, zwischen Existential- und logischer Analyse. Mein Forschungsgebiet, so schien es mir damals, war die die Sprache. Die Sprache als symbolische Form, als Wohnort des Seins, als Enthüllung und Verhüllung, als Kommunikationsmittel, als Feld der Unsterblichkeit, als Eroberung des Chaos. Aber auch als Repertoire, als Struktur, als Spiel, als offenes System, als Modell und Meta-Modell, als Prozeß der Information, negativ entropisch, als Überholung der Redundanz und als Einführung von Geräuschen. Schließlich die Sprache als Engagement am Intellekt, als Basis und als Horizont, die Stille des nicht Artikulierbaren. [...]"

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