Vorwort

Peter Weibel und Andreas Beitin

Blick auf den Marktplatz der Stadt Karlsruhe: An einem Kran hängt ein Haus, aus dessen Boden Wurzeln sprießen
Während des Festivalsommers befindet sich die Stadt Karlsruhe in einem Ausnahmezustand bzw. im Zustand der Belagerung: Baucontainer beherrschen das Stadtbild, Heere von Bauarbeiterinnen und schweres Baugerät graben Tunnel und reißen Straßen und Bürgersteige auf. Die Karlsruher Innenstadt ist eine monumentale Großbaustelle, die einem Schlachtfeld gleicht.
 
Als im Jahr 2002 der Gemeinderat der Stadt Karlsruhe nach einem Bürgerentscheid beschloss, die sogenannte Kombilösung umzusetzen, ging man davon aus, dass bis zum 300. Stadtgeburtstag die oberirdischen Baustellenflächen weitestgehend verschwunden sein würden, da für 2016 mit der Inbetriebnahme der neuen U-Bahn gerechnet wurde. Wie bei solchen Großprojekten häufig der Fall, kam es auch in Karlsruhe zu unvorhersehbaren Verzögerungen, wodurch die Innenstadt zum Festivalsommer immer noch von den Bauarbeiten beherrscht wird.

Anlässlich des runden Geburtstages der Stadt sind internationale Künstlerinnen und Künstler eingeladen worden, den dynamischen Prozess der umfangreichen verkehrstechnischen Baumaßnahmen ästhetisch zu begleiten und weiterzudenken. Statt Kunst am Bau entstand so Baustellenkunst, bei der nicht immer sofort deutlich ist, ob es sich um eine künstlerische Intervention oder um eine bautechnische Maßnahme handelt. Die Innovation der modernen Kunst, den ästhetischen Reiz „armer" Materialien (Arte Povera) und alltäglicher Situationen zu betonen, eine »Verklärung des Gewöhnlichen« (Arthur C. Danto, 1984), wird auf die Wahrnehmung der Baustellen ausgedehnt und deren Wahrnehmung somit verändert. Die Materialien und Maschinen der Bauarbeiten, wie Kräne oder Lastwagen, finden sich daher in den Kunstwerken wieder und angesichts mancher Situationen wird man für einen Moment zweifeln: Handelt es sich um einen artistischen Eingriff oder um eine Maßnahme des Tiefbaus -um Kunst oder eine bautechnische Katastrophe?

Mit der Mischung aus auffälligen Großinstallationen und unauffälligen Performances zu den Themen Migration, Entwurzelung, Überwachung, Verarmung, Überfremdung und Heimat bzw. Heimatlosigkeit soll die Kunst im öffentlichen Raum neu kontextualisiert werden. Die Ästhetik des Fehlerhaften, bizarre Objekte und absurde Aktionen verändern die urbane Wahrnehmung. Public Art ist heute mehr als eine Skulptur oder Plastik, nämlich eine kollektive Handlung im realen öffentlichen Raum wie im virtuellen der Social Media. Public Art heißt heute Performing Public Art.
 
Ein Haus an einem Kran
Leandro Erlich: »Pulled by the roots«, Karlsruhe 2015
© ZKM | Zentrum für Kunst und Medien, Foto: Fidelis
Ein Mann steht auf der Straße mit einem silbernen Megafon
Elmgreen & Dragset: »It's never too late to say sorry«, Karlsruhe 2015
© ZKM | Zentrum für Kunst und Medien, Foto: ONUK
Eine blonde Frau in rotem Kleid auf einer schwebenden Treppe
Chantal Michel, »Hybride Zonen«, Marktplatz Karlsruhe, 28. August 2015
© ZKM | Zentrum für Kunst und Medien, Foto: ONUK
Die faszinierenden Kunstwerke in der Karlsruher Innenstadt irritieren, beeindrucken, erstaunen, belustigen und begeistern die Bewohnerinnen und Besucherinnen. Die Kunstwerke werten die Rezeption der Baustellen dabei komplett um: Die bislang als lästig oder zumindest als notwendiges Übel betrachteten Baustellen sind zum Anziehungspunkt für Einwohner und Touristen geworden. Alle Kunstaktionen dieser Ausstellung sind ein Geschenk an die Stadt, die im Mittelpunkt steht: Mit ihren Bürgerinnen und Besucherinnen ist sie der Star!
 
Wir danken allen beteiligten Künstlerinnen, den involvierten Unternehmen, dem Stadtmarketing, dem Marketingrat, der KÄSIG und den kooperativen Behörden und Ämtern sowie allen beteiligten Mitarbeiterinnen für ihre wertvolle Unterstützung bei der Realisierung der verschiedenen Kunstprojekte sehr herzlich.