Nils Röller: Towards Cuzco 05

Ein E-Mail-Wechsel zwischen Kalk und Cuzco

Blick auf eine Hauswand und eine Mauer: Darauf das Gemälde eines grünen Blatts und des Wortes "Coca"
Mein l. K.,

Du gehst ganz schön blauäugig mit dem Internet um. Pornobilder und Kreditangebote werden Dich bei Hotmail zumüllen, mach das beste draus, nimms achterlich und benutze die Schwemme, um Dich antreiben zu lassen, mal Dir zum Beispiel folgende Geschichte aus: Ein gescheiterter Medienbaron, ein ostdeutscher Dotcommier, der für kurze Zeit selbst Westler in seiner Thüringer Digitalklitsche beschäftigt. Er muss nun Konkurs anmelden, aber er möchte im Rückzug siegen und sagen, dass in seiner Ägide wenigstens gut kommuniziert worden ist. Leider muss er dann feststellen, dass seine Mitarbeiter Mailmaschinen eingesetzt haben, die billige Angebote ins Netz speisten, sich für eine Arbeit von ihm bezahlen lassen, die von Maschinen ausgeführt wurde. Er hat den Anschluss an die Technologie verpasst. Was wird so ein Mann machen? Er wird an die geperlten ausgestreckten Arme einer Verkäuferin denken, die ihm im Weimar Konsum Bildungsgüter entgegenstreckte und mit wohlgeformten übermütterlichen Leib auf den Wert der klassischen Bildung hingewiesen hat. Diese Verbindung von Leiblichkeit und Humanität, die hat ihn mit siebzehn zum illegalen Handel mit westlichen Pornos in einem kleinen Kiosk veranlasst. Dabei achtetet er strikt darauf, dass wenigstens eine der Figuren auf den Covern einen Namen bekannt aus der Pflichtlektüre humaner Bildung trägt. In der Wendezeit war er Texter für das lokale Anzeigenblatt. Kleingärtner erinnern sich noch gerne an seine Titelfrage: Jagen Blitze Tiere? Siehst Du wie schnell eine Geschichte entsteht? Schreib doch auch einmal eine, verwende in dem Text alle Header aus den Emails, die Du an einem Tag erhältst.

Hitler, Hitler, Ficken, Ficken, Mails mit solchen Sprüchen liefen eine Zeitlang auf meinem Account ein, ich habe dann den Provider gewechselt. Mittlerweile wechsel ich ihn alle drei Wochen. Wunder Dich also nicht, wenn ich Dir demnächst unter einer anderen Adresse meine Aufzeichnungen aus Peru sende. Hier geht es gerade sehr bewegt zu. Ich schreibe Dir übrigens jetzt aus dem Hotel. Es sind neue Gäste da, die mir mit der Connection helfen. Mir scheint, dass sie alle auf Einladung von José-Carlos in das Kernland der Inkas gekommen sind. Wenn das so weiter geht, bin ich bei meiner Rückkehr ein anderer Mensch. Weißt Du was eine Tobymankala ist? Kannst Du das mal für mich nachsehen oder den Zeichenfischer fragen, ob ihm solch ein Wort schon einmal bei seiner journalistischen Tätigkeit begegnet ist... Heute ist meine sprachliche Stammzellenforschung erschüttert worden. Ich werde mein SMS-Vorhaben vielleicht ändern. Blamage, blamage, die Gespräche mit den Physikern, denen ich auf der Bahnfahrt begegnet bin, nähren Zweifel an meiner Biologie der Worte. Sie sind eigentlich nett und offen, ihr sprachlicher Melos ist mir noch sehr fremd, manchmal meine ich, Fische schnappen zu hören, wenn ich ihnen zuhöre, so zischlautig sprechen sie von Differentialen, Parametern, Chaos, Reaktionen. Ich werde diese Worte später einmal nachsehen, damit ich weiss, wovon sie reden. Wenn ich das jetzt schreibe, frage ich mich, ob mikroelektronische Schaltungen ihre Worte takten, ob Mechanismen ihre Redeweise lenken, die mir nie einsichtig sein werden.

Sie sind hier, um an einer zwölften Stadt zu bauen. Mit diesem Wort hat sie José-Carlos hier navigiert. Sie warten noch auf ihre Chefs, nutzen aber die Zeit, um zu diskutieren und zu programmieren. Ich habe heute, kurz bevor ich mit dem Laptop nach draussen in die Sonne gehen wollte, mit einen von ihnen wieder gesprochen und gefragt, was das eigentlich ist, eine Differentialgleichung. Wir standen im Flur, es roch nach Kantine und da sagte er, dass sei ganz einfach und nahm einen Notizblock aus der Tasche und zeichnete ein Dreieck ein. Das ist soundsoundund, das die Bewegung, das die Geschwindigkeit, sagte er. Mir ist es sehr peinlich, sehr sehr peinlich, aber ich bin schon beim ersten Satz ausgestiegen aus Respekt oder aus Unerfahrenheit, ich hatte Angst, dass meine Aufmerksamkeit von zwei widerstreitenden Parteien zugleich in Haftpflicht genommen: von der Partei der visuellen Argumentation und dann von der sprachlichen Partei des Ernst des Begriffs. Er war dabei gar nicht so ernst, sondern fragte, als ich ihn stutzig ansah „Na sie kennen sich doch mit Kunst etwas aus, oder?“ Ich dachte dann panisch, von Kunst verstehe ich gar nichts mehr, ich will nur noch weg. Mich mit dem Schnitzel meines beschränkten Wissens beschäftigen und hoffen, dass Beuys Intelligenz der Schwäne mich schützt. Ich bin dann gegangen, mein Fehler. Ich habe zu schnell aufgegeben. Jetzt sitze ich hier in der Höhe und merke, dass ich den Anschluss verpasse, noch nicht einmal physikalische Grundbegriffe erfassen kann. Ich lenke mich mit einer Notiz aus der netzzeitung ab. Flugzeuge bombardierten Höhlen, war da zu lesen. Es bezog sich auf Afghanistan. Findet in unserer Kultur nicht auch eine Afghanisierung statt, auf der einen Seite die technisch-westliche-naturwissenschaftliche Intelligenz, auf der anderen Seite die Fans der Dichterinnen und Denkerinnen, die wie ich vor exakten Grundbegriffen flüchten?

Diamanten wandern übers Wasser! Solche Worte strahlen in bestimmten Momenten und werfen Licht fein zurück. Zum Beispiel, wenn man verliebt in der U-Bahn sitzt, morgens mit einem zugeworfenen Lächeln zu leben beginnt, das Leben sich um einen zum Leben erwachten Nameserver schwebt... Jetzt zum Beispiel nicht, gerade ziehen Regenwolken auf, es schüttet gleich und ich muss an die Pestbetriebe des westlichen Kapitalismus denken, die an der Klimakatastrophe beteiligt sind. Westlicher Kapitalismus, wenn er denn wenigstens überall gleich funktionieren würde. Aber am Horn von Afrika gelten andere Gesetze als im Imperium von Digitürk und dort wieder andere als im Bushland. Würde es helfen, genauer zwischen den verschiedenen Formen des Kapitalismus zu unterscheiden? Gestern in einer Ausgabe der Zeit, die einer der Physiker mir gegeben hat, schrieb Koch, dass eine neue Ökonomie auf uns zu kommt, sie wird biologischer sein, eine die ohne den Lockvogel der Unendlichkeit auskommen muss. Wir werden alle Datschniki, Kleingärtner, die ihre Wirtschaft aus den Resten des Systems bilden, Hybride werden entstehen. Du, lieber Kerzenhändler wirst dann zu einem Symbol, denn du bist ja schon Meister in der Kunst des Schmalhans. Jetzt sind übrigens Sonnenkringel vor mir zu sehen. Sie entstehen durch die rhythmische Bewegung der Blätter im Licht. Vielleicht regnet es doch nicht.

Die Edelsitze der Inkas, Städte wie Machu Pichu, das wenige tausend Meter über mir liegt, aber nur auf einem steilen Serpentinenweg erreicht werden kann, waren wie Kompasse ausgelegt, Navigationshilfen der Menschen in der Unendlichkeit. Hatten die Inkas einen Begriff von Unendlichkeit? Das werde ich einen der Physiker fragen, die hier mit mir sind, ich hoffe von der Thermik ihrer Gespräche zu profitieren. Leider fehlt mir das Wu(n)schgen der Begabung zu den exakten Wissenschaften. Aber dafür möchte ich mich nicht schämen. Ich werde andere Dinge in die Diskussion führen, zum Beispiel, ob in der Armut der Schlammenschen hier, die im Tal leben und nicht einmal Schuhwerk besitzen, im Regen sich Gummistiefel aus Autoreifen basteln, ob unter diesen Menschen auch Geschichten entstehen, die uns Europäern, die anderen Zeiten entgegen gehen, eine Hilfe sein können. Unsere Kultur besingt die bleiche Ophelia, züchtet in grossflächigen Werbeanzeigen Traummenschen, magersüchtige transsexuellen Wesen, Idealen, denen hinterherzuleben wir angehalten sind. Ich werde die Fremdenführer aus der Umgebung aufsuchen und nach lokalen Geschichten und Märchen fragen. Gleichen sie unseren? Oder können sie gerade auf Leitbilder und Ikonen verzichten? Wir erholen uns vom Stress der steten Aufforderung zum anderen, höheren Leben, indem wir in ihre Landschaften einfallen. Sie, und dieses sie, das ich ständig setze, nervt mich, die Menschen hier, die ich nicht kenne und auch nicht kennenlernen werde, sie streben nach der Markenbar, sitzen unter den Sonnenschirmen mit den Logos transnationaler Bierkonzerne und halten nach den Zigarettenstummeln Ausschau, die vorrüberziehende Touristentrosse fallen lassen. Ich werde nachher meine Frau anpingen, bin gespannt, ob ihr Server reagiert. Habe ich Dir nicht erzählt, dass Du Dich an sie wenden kannst, wenn Du nicht mehr in das Internetcafe gehen möchtest? Sie hat Zugriffsrechte auf einen Server und kann für Dich nach einem Computerarbeitsplatz Ausschau halten.

Gerade hat sich einer der Physiker zu mir gesetzt und ich habe meine Seekabelwerke weit geöffnet, damit mein Gehirn endlich das intelligente Haus kennenlernt, so nenne ich die Naturwissenschaft nun. Er heisst Hans und hat mir geduldig einiges erklärt. Ich werde jetzt für einen Augenblick die Sterne in Ruhe lassen, die in meinen Gedanken bisher den Kurs gewiesen haben, sondern vom Rössler-System schreiben. Es besteht aus drei Flüssigkeiten (zur Anschaulichkeit vergleiche ich sie mit Cafe, Milch und einem Spritzer Zitrone). Physiker, in diesem Fall geht es allerdings um Chemie, aber Physik bleibt der Oberbegriff für die Lehre von der Natur und dazu gehört auch die Chemie, sind Spielleute. Sie nehmen hier eine Substanz, da eine Flüssigkeit, setzen diese in souveräne Medien und sehen zu was passiert. Die Medien bleiben souverän oder nicht, man stellt Messungen an, man verändert einen Parameter, indem man zum Beispiel Druck ausübt, die Temperatur in dem jeweiligen Medium erhöht, in dem etwas stattfindet. Ich muss nachher noch einmal mit ihm sprechen. Er meint mit Medium etwas anderes als wir, ich glaube, dass er damit einen atmosphärischen Behälter meint, ein Gas in einem Versuchssystem, eine Flüssigkeit in einem Reagenzglas. Nun noch einmal: Er unterschied zwischen Variablen und Parametern. Ein Rösslersystem hat drei Variablen, das können drei Flüssigkeiten (Cafe, Milch und ein Spritzer Zitrone) sein. Beobachtet wird nun, wie sich die drei Flüssigkeiten mischen. Bei der Beobachtung kann man Parameter ändern, also die Temperatur erhöhen oder Druck ausüben. Ich habe während seiner Erklärungen an den Satz gedacht I ate the wind. Die Naturwissenschaftler machen im Kleinen oder auch im Grossen (Teilchenbeschleuniger) nach, was früher in der oralen Dichter Götter und Helden konnten: Wind essen und wiederkäuen, Lehm so drücken, dass er die Form von Menschen annimmt, Elemente und Kräfte zufügen, Parameter ändern und sehen, wie die Menschenmischung reagiert, wie dem auch sei.

Das besondere am Rösslersystem ist, dass die Flüssigkeiten sich nicht endgültig mischen. Es ist eben nicht so wie mit Cafe und Milch, dass irgendwann etwas Gleichgefärbtes in der Tasse ist, sondern die Mischung oszilliert und das ist ein ganz wichtiger Begriff bei ihnen, meinen neuen Freunden, den Naturwissenschaftlern. Und sie können mir sogar helfen, ich muss nicht mehr vegetativ mit meiner Biologie der Worte vor mich hin wurschteln, sondern habe jetzt Perspektiven. Hans hat mir nämlich noch eine Carrier-Shell zugesteckt, an die ich meine Absichten heften kann. Es ist ein Buch über Komplexität, Malaria und die ästhetische Komponente des Denkens an andere. Das hängt mit dem Rössler-System so zusammen: Stell Dir vor, dass Du nicht Cafe, Milch und Zitronensaft mischt, sondern eine kompetitive Umgebung analysiert, ein Nonnenreich, in das zuweilen der Abt den Thymianteppich der Lust ausbreitet, damit dann wieder demütige Andacht und Gottesliebe eintreten können. Ach hier verstehe ich etwas nicht. Ich muss springen. Statt drei Variablen ist nun nur noch von zweien die Rede, also nur noch Milch und Kaffee (keine Zitrone). Nimm nun anstelle der zwei Flüssigkeiten Lebewesen oder besser zwei Populationen von unterschiedlichen Lebewesen eine Herde Schafe (1. Population) und drei Wölfe (2.Population). Man kann nun feststellen, dass das System oszilliert. Die Wölfe fressen die Schafe, der Schafbestand reduziert sich, die Wölfe haben keine Nahrung mehr, also reduziert sich der Wolfbestand. Nach einer gewissen Zeit pendelt sich das Verhältnis von Wölfen und Schafen so ein, dass beide Populationen in der Nische leben können. Na, da habe ich erst einmal etwas gelernt, demnächst mehr.

Alles Gute aus den Anden
D.S.

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