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Aufstand der Ungezählten oder Was haben Kinder und Korallenriffe gemeinsam?

Ein Beitrag von Jandra Böttger und Lena Reitschuster

© ZKM | Zentrum für Kunst und Medien Karlsruhe
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Es ist Freitagvormittag. Auf dem Theatervorplatz in Karlsruhe haben sich über 6500 junge Menschen, hauptsächlich Schülerinnen und Schüler, versammelt. Sie halten Plakate und Banner in die warme Märzluft. Nach einer kurzen Ansprache der OrganisatorInnen, ebenfalls SchülerInnen, zieht die Menge Parolen rufend durch die Straßen Richtung Schloss: »Wir sind hier, wir sind laut, weil ihr uns die Zukunft klaut!«

Ausgelöst durch Greta Thunbergs hartnäckigen Protest während der vorangegangenen Monate vor dem Parlamentsgebäude in Stockholm, haben sich ihr an diesem Tag, dem 15. März 2019, weltweit über 1,8 Millionen SchülerInnen angeschlossen, um für die Durchsetzung der ausgehandelten Vorgaben des Klimagipfels 2015 zu demonstrieren. Aber sie demonstrieren nicht nur, die SchülerInnen bestreiken den Unterricht. Mit provokantem Unterton stellen sie die Frage: Warum zur Schule gehen, wenn sie durch die Folgen des Klimawandels und der Tatenlosigkeit der Regierungen keine Zukunft mehr haben werden?

Die Wut der SchülerInnen ist verständlich, sind doch fast alle, die an diesem Tag demonstrieren, wesentlich jünger als der wissenschaftliche Nachweis über die Folgen des massiven CO2-Ausstoßes auf die Atmosphäre und die mit ihr unweigerlich verbundenen Ökosysteme – die Critical Zone. Sie sind diejenigen, die in ihrer eigenen Lebenszeit die Auswirkung dieser Unentschlossenheit im Handeln in großem Ausmaß spüren werden. Diese bittere Erkenntnis lässt einen neuen Raum der Argumentation entstehen, in dem die Protestierenden die ungenügende Reaktion auf den Klimawandel als Unrecht verstehen, das ihnen selbst angetan wird. 

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Ihr Protest bewegt sich in einem paradoxen Zwischenraum: Auf der einen Seite sind sie als Minderjährige noch nicht als WählerInnen aktiv in das demokratische System integriert, auf der anderen Seite sind sie bei weitem schon alt genug, um zu erkennen, dass ihre Zukunft zu wenig Gewicht hat für diejenigen, die heute in Entscheidungspositionen sind. Für sie bleibt nur der dringende Aufruf an diejenigen, deren Stimme repräsentiert wird.

Die EntscheidungsträgerInnen scheinen die SchülerInnen jedoch nicht verstehen zu wollen: In der öffentlichen Diskussion um den Schulstreik werden die Protestmittel kritisiert, anstatt sich auf die inhaltliche Ebene des Streiks einzulassen. Den Jugendlichen wird damit offen das demokratische Grundrecht auf den Ausdruck der eigenen Interessen aberkannt. Der eindeutig paternalistische Ton resultiert wohl aus der Irritation über die Tatsache, dass es SchülerInnen sind, die sich zusammenschließen: Eine Gruppe gesellschaftlicher AkteurInnen, über die man bislang hinweg entscheiden konnte. 

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Nicht nur müssen die Streikenden also für ihre Inhalte einstehen, sie müssen sich zuerst einmal selbst als politische Subjekte konstituieren. Sie müssen, um mit Rancière zu sprechen, zunächst Anspruch darauf erheben, ihrer paradoxen Zwischenposition zum Trotz, »als sprechende Wesen gezählt zu werden, sich dazuzählen und eine Gemeinschaft dadurch einrichten, dass sie das Unrecht vergemeinschaften«¹. 

Es handelt sich um einen besonderen Erscheinungsprozess, der sich dadurch auszeichnet, dass eine Gruppe, die außerhalb der demokratisch-parlamentarischen Repräsentation steht, ein Unrecht aufzeigt und sich Gehör verschafft. Sie tritt hervor, indem sie eine Beziehung zwischen zwei Domänen aufzeigt, die bislang nur getrennt wahrgenommen wurden: Ihre eigene Zukunft und die politische Reaktion auf die Klimakrise.

Die Hervorbringung dieses Verhältnisses, das sich nun nicht mehr länger der Wahrnehmung entziehen kann, zeigt nicht nur die Ignoranz der Regierungen, die Jugendlichen nicht mit in die Rechnung einzubeziehen, sondern legt ein Verhältnis offen, das den Protestierenden deutlich vor Augen steht: Sie sind untrennbar mit dem verbunden, was die ordnende »Politik« als »Standard, Kontrast, Reserve, Ressource und Deponie³« bezeichnet: die »Natur⁴«. Diese passivierende Kategorisierung der Natur wird durch die Folgen des globalen Klimawandels und durch Phänomene wie die Omnipräsenz von Mikroplastik gesprengt. Es wird offengelegt, dass die »Natur« nicht mehr als ein abgetrennter Bereich unserer Lebenswelt wahrgenommen werden kann⁵. Laut Bruno Latour nehmen WissenschaftlerInnen hierbei die Funktion der SprecherIn für das Nichtmenschliche ein, die – im besten Fall – den Zustand des Klimas an den sprachlich und symbolisch strukturierten Verhandlungstisch der »Politik« bringen könne. Dadurch eröffne sich die Möglichkeit eines neuen Parlaments, eines neuen Kollektivs, das die Unverzichtbarkeit der Repräsentation der Abhängigkeiten und Verwicklungen mit dem Nichtmenschlichen endlich anerkennt und in politische Entscheidungen mit Einbeziehen könnte⁶. Doch die Kenntnisse über die Erwärmung der Erdatmosphäre stehen der Politik schon seit Jahrzehnten durch die Messungen und Berechnungen der Klimawissenschaften zur Verfügung. Was also ist das Neue an den Forderungen von Fridays for Future? 

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Weil sie die Berichte der Klima-SprecherInnen mit sich selbst und ihrer eigenen Zukunft ins Verhältnis setzen, fällt den Jugendlichen in den gegenwärtigen Aushandlungen um eine gemeinsame Welt eine Sonderposition zu. Sie werden, gleichermaßen wie die nichtmenschlichen Akteure, als dem Raum des Politischen nicht zugehörig verstanden. Die Repräsentationslosigkeit innerhalb des politischen Systems, vor allem aber die herabspielende Haltung etablierter PolitikerInnen gegenüber der Bewegung ist ein Indikator dafür. Durch die Forderung »als ‚sprechende Wesen« anerkannt zu werden, repräsentieren und symbolisieren sie das Unrecht, das ihnen selbst von Seiten der Politik wiederfährt, und fordern gleichzeitig einen radikalen Einbezug des bislang Ungehörten in die politische Entscheidungsfindung. 

Nur so können wir den Protest der SchülerInnen in seiner vollen Tragweite verstehen und ernst nehmen: In der Artikulation der drohenden Gefahr, in der sie sich durch die Auswirkungen politischen und ökonomischen Handelns der letzten Jahrzehnte befinden, zeigen die Jugendlichen, dass ihr Schicksal untrennbar mit dem des Korallenriffs, des Gletschers oder der australischen Flora und Fauna verbunden ist. Jede politische Entscheidung wird diese Akteure betreffen, im Positiven wie im Negativen.

Ein Beitrag von Jandra Böttger und Lena Reitschuster.

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¹Jacques Rancière, Das Unvernehmen: Politik und Philosophie, übers. von Richard Steurer, Deutsche Erstausgabe (Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, 2002), 38.

²Politik wird hier verstanden als »der Kampf und die Kompromisse der menschlichen Interessen und Leidenschaften, ohne die Anliegen der nicht-menschlichen Wesen zu berücksichtigen.« Bruno Latour, Das Parlament der Dinge, 4. (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2018), 296. 

³Latour, Das Parlament der Dinge, 88.

⁴Durch die Anführungszeichen soll markiert werden, dass es sich hier um ein Konzept von »Natur« handelt, das in Abgrenzung zu der ebenfalls hier als Konzept verstandenen »Kultur« Bedeutung hat. Das ist der die Moderne kennzeichnenden ideologischen Annahme geschuldet, es gäbe eine Trennung zwischen einer objektiven geschichtslosen »Natur« und einer sich selbst durch Politik Struktur gebenden subjektiven »Kultur«.

⁵Vgl. Latour, Das Parlament der Dinge, 88.

⁶Vgl. Latour, 46.

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