Bruno Latour über CRITICAL ZONES

Eine Ausstellung des ZKM Karlsruhe 2020

Foto eines dunklen Ausstellungsraumes mit Lichtreflexionen.

Desorientierung

Wir alle haben es in der Schule gelernt: Auf jede Neupositionierung der Erde innerhalb der kosmischen Ordnung folgt eine Umwälzung der Gesellschaft. Man denke nur an Galileo Galilei. Als die Wissenschaft verkündete, dass sich die Erde um die Sonne dreht, wurde dies als Angriff auf das gesamte Gesellschaftsgefüge erlebt. Heute, vier Jahrhunderte später, stellt die Wissenschaft die Rolle und die Position der Erde erneut auf den Kopf: Es sieht ganz so aus, als zwinge das Verhalten der Menschheit den Planeten zu unvorhergesehenen Reaktionen. Und wieder wird das gesellschaftliche Gefüge als Ganzes erschüttert. Mit der kosmischen Ordnung gerät auch die politische Ordnung ins Wanken.

Diese Krise der kosmischen und gesellschaftlichen Zusammenhänge bewirkt eine Desorientierung des Menschen. Wer sich kürzlich noch auf die Versprechen der Globalisierung und des unbegrenzten Wachstums verließ, erkennt nun plötzlich, dass es keine Erde gibt, die sich mit den Versprechen der Globalisierung vereinbaren lässt. Jetzt tritt die krasse Diskrepanz zwischen dem Horizont des Globus und der Realität  des Planeten Erde zutage. Viele von uns sind verwirrt, fühlen sich abgehängt, gefangen, betrogen.

Es scheint, als wüssten wir nicht mehr, an welchem Ort und in welchem Zeitalter wir eigentlich leben und welche Rolle wir als Menschen wahrnehmen sollten.

Was hat uns in diese Sackgasse geführt? Wer ist schuld an diesem Betrug? Wohin wird uns dieser Weg führen? Wie sollten wir uns als BürgerInnen verhalten?

So erklärt sich auch die eigenartige Wiederkehr der Frage, die sich zurzeit überall stellt: Welchen Menschen gehört welches Land? Obwohl gerade klar wird, dass einzelne Nationalstaaten die Krise nicht bewältigen können, verlangen viele Menschen nach der Sicherheit und dem Schutz nationalstaatlicher Grenzen und riskieren damit, dass das feine Netz aus liberalen Institutionen durch eine konservative Kehrtwende zerstört wird. Manche warten noch immer darauf, dass die Globalisierung wieder Fahrt aufnimmt. Einige wollen die Modernisierung noch schneller vorantreiben. Viele andere haben bereits unterschiedliche Wege gefunden, um die Erde als Lebensraum zu nutzen. So, als hätten sie die Wendung: »Wir beide leben offenbar nicht in der gleichen Welt.« wörtlich genommen. In der Tat leben wir nicht in der gleichen Welt!

Weltumspannende Streitigkeiten haben sich zu einem neuen, universellen Problem entwickelt. Allerorten flackern Landkonflikte auf. Aber unsere kampfbereite Sorge ist eine gefährliche Form der Universalität, denn wir alle sind verloren im Universum! 

Landnahme

Ist es inmitten dieser allgemeinen Krise überhaupt möglich, Alternativen für die Art und Weise zu finden, in der ein Volk ein Land bewohnt? Ja, sofern wir beide Begriffe anders definieren: Land und Volk.

Zunächst überrascht die Erkenntnis, dass unsere Vorstellung von dem Land, das wir bewohnen, bisher nur sehr schemenhaft ist. Satellitenaufnahmen von der Erde haben uns weisgemacht, dass wir Menschen auf der Oberfläche einer Weltkugel leben. In Wirklichkeit bevölkern wir offenbar einen Ort, den manche Wissenschaftler als kritische Zone bezeichnen.

»Kritisch« deshalb, weil dieser Ort weit entfernt ist von einem Gleichgewicht. Weil er zerbrechlich und umkämpft ist. Weil er die Schnittstelle zwischen der Erde unter uns und den unendlichen Weiten des Universums über uns bildet. Die Wissenschaft spricht von einer »Zone«, weil es sich um weitgehend unbekanntes Territorium handelt, das sich von dem unterscheidet, was einst die »Natur« genannt wurde, weil sich die Geologie dieser Zone stark von dem aus dem All sichtbaren Planeten unterscheidet und vor allem, weil ihr gesamtes, vielfältiges Gefüge im Laufe von Jahrmillionen durch verschiedenste Lebensformen verändert wurde. Wie komplex die ursprüngliche Geochemie dieses Lebensraums auch gewesen sein mag: Sie ist durch diese Lebensformen noch vielschichtiger geworden. Das Ergebnis ist ein von manchen WissenschaftlerInnen als »Gaia« bezeichnetes, enigmatisches und idiosynkratisches Gebilde, in dem alle Lebewesen untereinander vernetzt sind.

Abstrahierte Karte in schwarz-weiß zur Ausstellung »Critical Zones« von Bruno Latour
Die Vorstellung der Erde als Netz aus Kritischen Zonen

Von außen, aus dem All betrachtet, ist die zerbrechliche, nur wenige Kilometer dünne Oberfläche der kritischen Zone kaum sichtbar. Sie ist nicht mehr als ein Firnis, eine dünne Schicht, ein Film, ein Biofilm. Und dennoch: Solange wir noch keine anderen Welten entdeckt und Kontakt zu ihnen aufgenommen haben, ist sie für uns der einzige Ort, auf dem es jemals Leben gab. Sie bildet die Gesamtheit unserer begrenzten Welt, die wir uns als Haut vorstellen müssen: die Haut der Erde – verletzlich, komplex, kitzlig, reaktiv. Sie ist unser aller Lebensraum – für Einzeller, Pflanzen, Insekten, Tiere oder Menschen.

Zahlreiche vernetzte Observatorien kritischer Zonen ermöglichen Wissenschaftlern unterschiedlicher Disziplinen, gemeinsam die Einzigartigkeit dieser Haut und ihre Reaktionen auf menschliches Handeln zu erforschen. Dank dieser vernetzten instrumentierten Orte können die verschiedensten Disziplinen zusätzlich zu den von Staaten, BürgerInnen, AktivistInnen, LandwirtInnen, Industriellen geschaffenen eine weitere, reflexive Schicht hinzufügen und dabei die Sensibilität für die Gestalt und die regionalen Ausprägungen dieser kritischen Zone erhöhen. Mit dieser Reflexion gehen allerdings auch Kontroversen über die Möglichkeiten und Grenzen der Nutzung unseres dünnen, winzigen und fragilen Lebensraums einher. Offenbar ist man sich nicht einig,  wie die einzelnen Elemente dieses Terroirs zusammenzufügen sind. 

Sicher ist jedoch, dass diese kritische Zone sich in Bezug auf Gestalt, Aussehen, Haptik und Bestimmung so sehr von dem im 16. Jahrhundert entdeckten Planeten Erde unterscheidet wie das heliozentrische Weltbild vom geozentrischen Kosmos des Altertums. Was gerade geschieht, ist so verstörend wie die Entdeckung eines neuen Terroirs – nur dass wir gerade kein Neuland entdecken, sondern unsere alte Erde in einer vollkommen neuen Form. Zu unserer großen Überraschung erscheint sie uns dabei wieder als »terra incognita«. 

Bevölkerung

Angesichts dieser erstaunlichen Entdeckung erkennt der moderne Mensch plötzlich, dass die Menschheit sich über ihren Lebensraum und dessen Bevölkerung niemals sicher und im Klaren war.

Das ist nicht erstaunlich, denn der moderne Mensch hat neben dem Territorium, das er unmittelbar kontrollieren, verwalten, in Besitz nehmen und durch klar umrissene Grenzen schützen konnte, immer auch ein riesiges Hinterland besetzt, das die eigentliche Quelle seines Wohlstands darstellte: Kolonien, Kohle-, Öl-, Gas- und Bergbaugebiete mit einer enormen Vielfalt an Lebensformen, die erbarmungslos ausgebeutet wurden. Wenn die Moderne schon immer aus dem Lot war, dann aufgrund dieser radikalen Trennung zwischen einem Land, in dem es Recht und Freiheit gab, und einem anderen Land, für das sich niemand verantwortlich fühlte, obwohl das eigene Wohlergehen davon abhing. Neben dem Rechtsraum gab es noch einen weiteren, realen Raum in Form eines Phantomgebiets, in dem die Quellen des Reichtums sprudelten.

Die aktuelle Krise hat ihren Ursprung in der allmählichen Erkenntnis des modernen Menschen, dass er sich nicht länger auf diese riesige, schier unerschöpfliche Reserve als Garantin seines zukünftigen Wohlstands verlassen kann. Modernisierung, Entwicklung, Globalisierung wirken wie ein glückliches und unverdientes Intermezzo, das nun zu Ende geht. Das ist der Grund für das allgegenwärtige Gefühl, dass das alte Regime durch ein neues Klimaregime abgelöst wurde.

Daher auch die eigenartige Erkenntnis, dass wir neu definieren sollten, was es heißt, ein Volk zu sein. Vielleicht geht es hier nicht länger um eine Gruppe von Menschen, die Bodenressourcen zu Produktionszwecken nutzt, sondern vielmehr um die Vielzahl verschiedenster Lebensformen, die untereinander vernetzt sind, aber auch in Konflikt zueinander stehen und sich jeweils in Zeit und Raum ausdehnen wollen. An die Stelle der alten Dichotomie von Gesellschaft und Natur tritt ein schmerzhafter Prozess, in dem menschliche und nicht-menschliche Akteure, die beide gleichermaßen nach Daseinsberechtigung streben, zueinander finden.

Die Politik hat die engen Grenzen der menschlichen Verfassungen weit hinter sich gelassen. Für die Menschen geht es nun nicht mehr darum, ihre Freiheit in einer Welt der Dinge auszuleben: Sie müssen vielmehr lernen, in einen Dialog mit den zahllosen Lebensformen zu treten, die alle eine eigene Vorstellung von Freiheit und dem Lebensraum, den sie einnehmen wollen, haben. Eine Geopolitik der Lebensformen hat sich all der Fragen – nach Recht, Freiheit, Eigentum, Verantwortung und Gerechtigkeit – angenommen, die bisher nur den Menschen vorbehalten waren.

Diese Metamorphose der Politik verpflichtet den modernen Menschen zu einem anderen Blick auf den Rest der Welt. Ganze Kosmologien, die als archaisch und eindeutig obsolet verworfen wurden, gewinnen plötzlich eine essenzielle Relevanz. Es scheint dringend geboten, Gemeinschaften, die nicht mehr als primitiv, sondern als eindeutig modern gelten, zu fragen: „Wie habt ihr die Zusammenhänge zwischen eurem Volk und eurem Land erkannt? Wie habt ihr überlebt? Wie können wir von euch lernen?“

Dazu gibt es Fragen, die den ehemals modernen Menschen zwingen, seine eigene Vergangenheit zu überdenken. Was genau hat einige industrielle Gesellschaften zu der Überzeugung verleitet, sie könnten sich über die Erdanziehungskraft hinwegsetzen? Wie ist die Rolle derer zu beurteilen, die schon immer den scheinbar unumkehrbaren Lauf der Geschichte, der jetzt zu einem abrupten Stillstand kommt, infrage gestellt haben? Warum wurden die alten Themen von Land und Volk als reaktionär abgetan, wenn man doch heute allgemein wieder ziemlich verzweifelt nach einer beständigen Basis, einer Art von Heimat suchen?

Ausstellung

All diese Fragen sind viel zu umfangreich, um hier direkt beantwortet werden zu können. Glücklicherweise haben wir die Möglichkeit, uns ihnen im kleinen Maßstab zu nähern – in einem fiktionalen Raum, in dem wir die oben beschriebenen Parameter simulieren können.

Ein Beitrag von Bruno Latour

Der begrenzte Raum einer Ausstellung ist ideal, um den BesucherInnen in wenigen Stunden einen Überblick über die kritischen Zonen zu liefern, in denen sie irgendwann  endgültig landen werden. In gewisser Weise ist diese Gedankenausstellung also ein fiktionales Observatorium der kritischen Zonen!