Ein neues Narrativ in zehn Phasen
Die Kunstentwicklung in Europa nach 1945
Eine der Hauptthesen der Ausstellung »Kunst in Europa 1945–1968« lässt sich vereinfacht in zehn Phasen beschreiben. Sie zeigt, wie sich die Kunst vom Zustand, Gefangene des Traumas zu sein, langsam befreit und zu neuen nicht-klassischen Ausdrucksmitteln findet. Auf die traumatischen Erfahrungen von Verfolgung, Vertreibung, Verstümmelung und Vernichtung antwortete die Kunst mit Absurdem Theater, Nonsens, Nihilismus und Neo-Dada etc., aber auch mit Wagnis, Widerstand und Wiederaufbau, mit Bruch und Aufbruch.
1. Phase: Trauma und Erinnerung
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs befand sich Europa am Nullpunkt des Sinns und des Seins. In mehreren Phasen versucht die europäische Kunst, sich vom Trauma der Destruktion (Weltkrieg, Genozide, Holocaust, Gulag, Atombombe) zu befreien. Die zerstörten Häuser und Menschenleiber werden zunächst vormodern, d.h. figurativ, repräsentiert: als Schmerzensbilder und Schmerzensskulpturen.
2. Phase: Abstraktion
Die Krise der Repräsentation und die Verunsicherung darüber, ob das Grauen der Barbarei überhaupt figurativ darstellbar sei, führen zu Abstraktionen in Malerei und Skulptur. Informel und Tachismus sind Belege für die Reduktion auf die Selbstdarstellung der Darstellungsmittel, welche verformt und verzerrt werden. Phasen 1 und 2 sind subjektzentrierte Ausdruckskunst.
3. Phase: Materialmalerei oder die Krise des Tafelbildes
Die Tabula rasa ergreift die Darstellungsmittel selbst. Die italienische Materialmalerei der 1950er-Jahre verwendet statt Leinwand und Ölfarbe Eisen, Zement, Sackleinen. Das Gemälde wird zum Gegenstand. Das Tafelbild ist an seinem Nullpunkt: Das Bild verschwindet, die Tafel bleibt. Die Repräsentation endet in realer Materialität. Die Arte Povera erweiterte in den 1960er-Jahren die »polimaterici« der Materialmalerei ins Räumliche und Installative.
4. Phase: Selbstzerstörung der Darstellungsmittel
Die Kultur hat angesichts der Barbarei versagt. Die erfahrene und beobachtete reale Zerstörung wird auf die Darstellungsmittel selbst übertragen. Pianos, Bücher, Leinwände werden zerschmettert, verbrannt und zerschlitzt. Als Gefangene des Traumas wird Kunst zur „Reaktionsbildung“ (Anna Freud). Die Autodestruktion der Darstellungsmittel wird als künstlerisches Verfahren für Skulptur und Malerei, Literatur, Musik und Film richtungsweisend.
5. Phase: Neuer Realismus oder von der Repräsentation zur Realität
Auf die Verweigerung und das Verbot der Repräsentation (T.W. Adorno) antwortet Raul Hilberg mit dem Bestehen auf objektzentrierte Realität. Die Phase des Ausstiegs aus dem Trauma beginnt mit dem Ausstieg aus dem Bild. Schritt für Schritt wird alles, was bisher Repräsentation war, in der Kunst durch Realität ersetzt. Der Dialog mit den realen Dingen bildet die Kunstrichtung des Neuen Realismus, die auch Alltagsgegenstände für kunstfähig erklärt. Massenmedien und Massenproduktion wurden daher zu Quellen der Pop Art.
6. Phase: Neue Visionen und Tendenzen
Auf die Brüche mit den historischen Darstellungs- und Ausdrucksmitteln folgten die Aufbrüche in Zonen neuer Methoden, Materialien, Maschinen und Medien – eine Expansion der Künste. Vom bewegten Objekt bis zum bewegten Betrachter, von Kinetik zu Kybernetik, von Op-Art zu Neo-Konstruktivismus und Arte programmata, liefert die Kunst als Forschung neue visuelle Erfahrungen, welche die Partizipation des Publikums voraussetzen.
7. Phase: Handlungsformen der Kunst
Die Elemente der Kunst werden zu Modulen von Variablen. Der Rezipient kann durch seine physischen Eingriffe Werke verändern. Das Kunstwerk und seine Gestaltung werden analog oder digital programmierbar. Das Bild wird zu einer Handlungsform ebenso wie die Skulptur. Statt Werken gibt es Anweisungen der KünstlerInnen, die das reale Publikum in den Mittelpunkt stellen.
8. Phase: Aktionskunst
In drei Stufen befreit sich die Kunst von der Repräsentation:
1. Action Painting, d.h. Aktion des Malers auf der horizontalen Leinwand.
2. Schaumalen, d.h. Aktion des Malers vor der Leinwand auf einer Bühne und vor Publikum.
3. Aktion des Malers ohne Leinwand vor Publikum.
In der Aktionskunst stehen die KünstlerInnen als PerformerInnen im Mittelpunkt. Mit den Aktionen, Demonstrationen, Happenings und Performances der KünstlerInnen und mit der Partizipation und Handlung des Publikums beginnt die Performative Wende.
9. Phase: Konzeptkunst
Auf die Materialphase der Kunst folgt die Tendenz der Immaterialisierung. Handlungsanweisungen an das Publikum ersetzen die Handlung. Die Beschreibung einer Ausstellung wird zur Ausstellung, der Kunstkommentar wird selbst zur Kunst, Sprachanalysen werden zu Bildformen. Von der visuellen Poesie bis zur Story Art entsteht eine textbasierte mediale Kunst aus Fotografien, Filmen und Neonröhren, versetzt mit Objekten, welche zwischen Kunst und Philosophie neue Beziehungen herstellt. Sprache wird zum Modell. Statt Bildern herrscht Begriffsschrift: Konzeptkunst. Sie ist Ausdruck der linguistischen Wende in der Kunst.
10. Phase: Medienkunst
Auf die Bewegungsmaschinen folgen die Bildmaschinen, d.h. das apparative bewegte Bild in den diversen Medien: Film, Video, Computer. Die Ära der Medienkunst beginnt. Sie bildet die Summe der vorangegangenen repräsentativen und realistischen Strategien, aber öffnet auch den Raum des Imaginären und Virtuellen – und damit den Raum des Künftigen. Partizipation wird zur Interaktivität.
Ein Beitrag von Peter Weibel
Der Theoretiker, Kurator und Künstler Peter Weibel (*1944, Odessa) ist seit 1999 Vorstand des ZKM | Zentrum für Kunst und Medien.