„Ich würde Musik nie emotionslos begreifen“ – Ludger Brümmer im Interview

Eine Landschaft, aufgebaut auf verschiedenen Kuben

Wie nah sind wir dem Amazonas? Was ist ein Klangdom? Und was leistet Musik, was Worte niemals leisten können? Ein Gespräch mit Ludger Brümmer, der am ZKM in Karlsruhe die Musik für den dritten, von Peter Weibel inszenierten Teil des Amazonas-Musiktheaters komponiert.

Das Interview führte Verena Hütter im Februar 2010 für das Online-Magazin des Goetheinstituts »Amazonas. Musiktheater in drei Teilen«.
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Herr Brümmer, für den dritten Teil des Amazonas-Musiktheaters komponieren Sie „molekulare Musik“. Was ist „molekulare Musik“ und wie klingt sie?

Ludger Brümmer: Peter Weibel verwendet diesen Begriff gerne. Ich würde die Musik anders umschreiben: Sie entsteht mittels eines mathematischen Verfahrens, das man „Game of Life“, also „Spiel des Lebens“, nennt. Solcherlei Verfahren fasst man in der Fachsprache unter dem Begriff „zelluläre Automaten“ zusammen. Es lässt sich damit die Wachstumsdynamik einer bestimmten Bevölkerung, einer Insektenpopulation etwa, darstellen. Man kann damit auch berechnen, wann eine Population ausgestorben sein wird. In der Oper wenden wir das Verfahren auf visueller wie auch auf klanglicher Ebene an. Die Sänger werden darüber gesteuert. Der Begriff „Game of Life“ ist eine schöne Metapher, denn in der Oper geht es ja tatsächlich um das Leben und um die Zukunft des Lebens im Angesicht von Klimawandel, Brandrodung und Völkermord.

Für Ihr Stück »Ruhrort« haben Sie 1991 Klänge aus den Industriehallen des Ruhrgebiets als Grundlage genommen und am Computer musikalisch bearbeitet. Greifen Sie auch für die Amazonas-Komposition auf bestehendes Material zurück?

Ich greife auf verschiedene Quellen zurück. Vor allem auf Quellen aus dem Amazonas. Zum Beispiel verwende ich Aufnahmen des Electric Fish, der einen sehr künstlichen Klang erzeugt und darüber kommuniziert. Die Klänge und Geräusche werden sich als „Klangdom“ über das Publikum spannen.

Was ist ein „Klangdom“?

Der „Klangdom“ ist eine Installation, die Musik räumlich macht. Dazu werden insgesamt 24 Lautsprecher in der Form eines Doms über dem Publikum angebracht. In dieser Klangglocke kommt die Musik nicht nur frontal von der Bühne, sondern auch von hinten, von oben und von den Seiten. Diese Technik hebt den Abstand zwischen Zuschauer und Bühne auf und setzt das Publikum den Klängen direkt aus. Stellen Sie sich vor, Sie haben einen Lautsprecher, der die Geräuschkulisse einer belebten Kreuzung wiedergibt. In dem Fall wissen Sie sofort: Da ist ein Lautsprecher, und aus ihm kommt dieses Geräusch. Das ist eine Art von Inszenierung. Wenn Sie aber direkt auf der Kreuzung stehen, sind Sie umgeben von Klängen. Das erzeugt eine ganz andere Wahrnehmung. In der Kunst nennt man das „immersive Installation“ oder „Environment“.

Peter Weibel sagt, was ihn interessiert, das sind mathematische Rechentechniken und wie daraus Musik entstehen kann. Ob diese Musik am Ende gut klingt oder schlecht, interessiere ihn nicht.

(lacht) Da bin ich ein bisschen anderer Meinung. In der Musik wendet man ja seit jeher mathematische Algorithmen und Regeln an. Das Wichtige ist nicht, dass man sie anwendet, sondern wozu wir sie verwenden. Im Idealfall ergänzt die Musik die eine Ebene der Oper, die aus Worten und der Inszenierung der Bühne besteht, um eine zweite Ebene, eine intensiv spürbare, emotionale Ebene. Mir ist es wichtig, durch die Musik Inhalte mit Emotionen zu verknüpfen. Denn bislang ist das Sterben des Regenwaldes für keinen von uns mit großen Emotionen verbunden. Wenige Menschen haben wirklich Angst davor. Doch Angst ist ein wichtiges Mittel, um eine Situation einzuschätzen und richtig reagieren zu können. Nur durch Angst komme ich etwa zu der Entscheidung: „Ich muss mich sofort umdrehen und fliehen“. Ohne Angst ändere ich nichts an meiner Situation.

Wollen Sie also mit Ihrer Musik Angst erzeugen?

Die Angst war nur ein Beispiel, um zu erklären, inwieweit uns Emotionen steuern und nötig sind für unser Leben, und dass Musik Emotionen ausdrücken kann. Darin liegt die Qualität von Musik. Ich würde Musik nie emotionslos begreifen. Auch wenn Neue Musik ihre Emotionen erst noch finden beziehungsweise in der Rezeption überhaupt erst eine Emotion entwickeln muss.

Sie arbeiten häufig interdisziplinär und bauen Tanz- und Videosequenzen in ihre Kompositionen ein. Wird in der Amazonas-Oper getanzt?

Getanzt wird nicht. Aber das Visuelle, die Inszenierung, spielt eine ganz wichtige Rolle. Diese Oper ist in ihrem Entstehen ungewöhnlich, weil die gewohnte Reihenfolge – erst entsteht das Libretto, dann die Musik, dann die Inszenierung – nicht eingehalten wird. Alle Elemente werden Hand in Hand entwickelt. Libretto, Inszenierung und Musik entstehen miteinander.

Wie ist die Besetzung? Gibt es wie in der klassischen Oper einen Chor und ein Orchester?

Es gibt einen achtköpfigen Chor. An einem Konferenztisch wird ein Disput geführt – zum Großteil allerdings in gesprochener Form. Instrumentalisten gibt es nicht, die Musik ist rein elektronisch.

Der Titel Ihres Teils der Oper ist: »In Erwartung der Tauglichkeit einer rationalen Methode zur Lösung des Klimaproblems«. Wird das Problem am Ende gelöst? Gibt es ein Happy-End?

(lacht) Ich weiß nicht, ob es gut ist, das Ende bereits im Voraus zu verraten. Weil das Thema Amazonas uns alle betrifft, müssen wir eine Haltung entwickeln. Dazu will die Oper beitragen. Das heißt nicht, dass die Oper politisch ist und etwas lehren will. Vielmehr fungiert sie als eine Art Spiegel. Sie greift Gedanken auf, die in der Gesellschaft virulent sind, fasst sie zusammen und macht sie spürbar. Für die meisten von uns ist der Amazonas unglaublich weit weg. Noch begreifen wir nicht, wie nah wir ihm eigentlich sind – wenn wir Fleisch kaufen, wenn wir Holz kaufen, wenn wir Reis kaufen, wenn wir Erdöl verbrauchen. Wir können gar nicht leben, ohne den Amazonas zu beeinflussen. Wenn uns das nicht bald bewusst wird, kann man sich leicht zusammenreimen, wie das Ganze enden wird.