300 Jahre Karlsruhe – 300 Tage GLOBALE

Die GLOBALE, Labor und Akademie zugleich, zeigt mit Ausstellungen, Konzerten, Performances und Symposien die entscheidenden künstlerischen, sozialen und wissenschaftlichen Tendenzen des 21. Jahrhunderts.
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Die Globalisierung und die digitale Revolution verändern die Welt.

VON PETER WEIBEL

Die polyphone, multipolare Manifestation GLOBALE, Labor und Akademie zugleich, zeigt mit Ausstellungen, Konzerten, Performances und Symposien die entscheidenden künstlerischen, sozialen und wissenschaftlichen Tendenzen des 21. Jahrhunderts.

Augen und Hände sind von der Natur hervorgebrachte Organe des Menschen. Seit Jahrtausenden haben Menschen mit ihren Händen und Augen, ihren natürlichen Werkzeugen, Kunst hergestellt. Von Leonardo da Vinci über Joseph Wright of Derby bis zu den Impressionisten haben die Maler das natürliche Licht der Sonne mit Farbe dargestellt. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts begannen die Maler, ihre Staffelei unter freiem Himmel  – en plein air – aufzustellen, um die Landschaft in natürlichem Licht abzubilden. Die Freilichtmalerei war einerseits der Triumph des natürlichen Tripels Licht, Luft und Farbe, andererseits benötigte der Künstler aber auch fertige künstliche Farben in transportablen Tuben und eine tragbare Staffelei, das heißt technische Fabrikate.

Kunst und Evolution

Luft ist wie die Hand ein Produkt der Evolution. Das luftverarbeitende Organ Lunge ist die evolutionäre Antwort auf die luftgesättigte Atmosphäre, die das Ergebnis eines Millionen von Jahren währenden Prozesses der Photosynthese ist. Die auf der Erdoberfläche lebenden Wesen haben eine Lunge, die vom Sauerstoff lebt, der die Erde umgibt.

Das Auge, das lichtverarbeitende Sinnesorgan, ist die beschränkte Antwort der Evolution auf die lichtausstrahlende Sonne. Die nukleare Fusion in der Sonne erzeugt eine massive Strahlungsenergie, die sich als Wellen in einem elektromagnetischen Feld ausbreitet und gleichzeitig aus winzig kleinen Teilchen von Energie (Photonen, von griech. phon ›Licht‹) bestehen kann. Doch diese Sonnenstrahlung ist nur partiell sichtbar – Mikrowellen, Röntgenstrahlung und lange Radiowellen sind unsichtbar. Das menschliche Auge ist nur für einen begrenzten Wellenbereich empfindlich: für das Spektrum zwischen 380 nm (violett) und 780 nm (rot) Wellenlänge, das wir Licht nennen. Heinrich Hertz hat zwischen 1886 und 1887 durch Experimente mit Funkenentladung nachgewiesen, dass Licht aus elektromagnetischen Wellen besteht.

Wellen mit Frequenzen zwischen 20 Hz (Hertz) und 30.000 Hz heißen Schallwellen. Das Ohr ist die evolutionäre Antwort auf die Existenz von Schallwellen so wie das Auge auf die Existenz von Licht. Mit seinen natürlichen Sinnesorganen wie Auge, Ohr, Hand und Lunge operiert der Mensch in einem beschränkten Frequenzbereich und in einer begrenzten Sphäre. In seiner Sphären-Trilogie (1998–2004) beschreibt Peter Sloterdijk diese differenzierten Sphären der Lebewesen und Lebensweisen. Der Mensch lebt in der Klammer von zwei »kritischen Zonen« (E. Codman, 1934): unten die terrestrische Zone vom Baumkronenraum zum Grundwasserkörper, wo die meisten gefährlichen und degenerativen Veränderungen von Stoffumsetzungsprozessen stattfinden (Anthropozän), und oben die aerologische Zone, die Stratosphäre jenseits des normalen Signalraums, die eine heimliche Domäne des Militärs ist.

Kunst und Infosphäre

Obwohl die Erde seit ihrer Entstehung von einem elektromagnetischen Feld umgeben ist und die Sonne elektromagnetische Wellen ausstrahlt, wurde die Entdeckung der Magneteigenschaften der Erdkugel (W. Gilbert, 1600) erst vor circa 130 Jahren durch die Experimente von Heinrich Hertz und anderen nutzbar gemacht, deren Produkt die telematische Kultur (tele, griech. ›Ferne‹) von Telegrafie, Telefonie, Television, Radio und Internet ist.

Augen, Ohren, Hände, Lunge sind Antworten der Evolution auf natürliche Bedingungen wie Sonnenlicht, Schallwellen, Atmosphäre. Malerei und Musik, die Kunstformen der Hand und des Mundes für das Auge und das Ohr, sind erste Antworten des Menschen auf die Evolution mit den von der Evolution hervorgebrachten natürlichen Organen und den von Menschen hergestellten Instrumenten innerhalb der historischen beschränkten Frequenzen bzw. Wellenlängen. Seit der Mitte des 20. Jahrhunderts gibt es nun neue elektronische und digitale Kunstformen wie Film, Video, Computer, die das vom Menschen seit 130 Jahren eroberte erweiterte Spektrum der elektromagnetischen Wellen benutzen. Warum auch sollte dieses neue Feld allein den Wissenschaften überlassen bleiben?

Zu den Rätseln der Evolution gehört, warum uns die Natur nicht mit natürlichen Organen ausgestattet hat, um ein größeres Spektrum der elektromagnetischen Wellen wahrzunehmen, z.B. ist die Terahertz-Strahlung (zwischen Infrarot-Strahlung und Mikrowellen) für das menschliche Auge unsichtbar, aber sie dient der Sichtbarmachung durch maschinelles Körperscannen bei der Sicherheitskontrolle am Flughafen. Der Mensch musste sich daher selbst künstliche, technische Organe wie Radio, Telefon, Fernseher, Radar, Satelliten, Global Positioning Systems und Smartphones bauen, um das Spektrum der für den Menschen zugänglichen elektromagnetischen Wellen zu erweitern.

So entstand nach der Atmosphäre eine immer größer und dichter werdende Infosphäre, eine die Erde umspannende Hülle aus Funk- bzw. Radiowellen für die leitungslose Übertragung von Sprache, Bildern und anderen Daten. Dieses weltweite, den Erdball umspannende Netzwerk von drahtlosen Funkverbindungen garantiert den globalen Datenaustausch, von der Börse bis zum Flugverkehr, und die Organisation des Verkehrs von Waren und Menschen. Wir leben somit in einer neuen Sphäre, der Infosphäre, die für das Leben von 7 Milliarden Menschen auf dieser Erde ebenso notwendig geworden ist wie die Atmosphäre.

Kunst und Exo-Evolution

Mit der wissenschaftlichen Revolution der Neuzeit und der folgenden industriellen Revolution, für welche die Gleichung »Machinery, Materials, and Men« (F. L. Wright, 1930) gilt, hat der Mensch vom Mikroskop bis zur Eisenbahn Werkzeuge geschaffen, die es ihm erlaubten, die Grenzen seiner natürlichen Organe zu überschreiten, seine Wahrnehmung der Welt zu verändern und in bisher unsichtbare Zonen zu erweitern.

Indem der Mensch sich aufrichtete, wurden die Hände zum ersten Werkzeug des Menschen. Mit den Händen schuf der Mensch neue Werkzeuge, Metawerkzeuge, mit denen er wiederum neue Werkzeuge schaffen konnte. Mit den Werkzeugen trat der Mensch aus der natürlichen Evolution heraus und wurde zum ersten »Freigelassenen der Schöpfung« (J. G. Herder, 1791). So entstand aus der Hand das Handwerk und aus dem Handwerk die technische Kultur. Seit der maschinellen Revolution wurden immer mehr natürliche Funktionen und Organe in technische Werkzeuge ausgelagert: die Hand in den Hammer, der Fuß in das Rad, das Auge in das Mikroskop oder Teleskop, die Stimme in das Mikrofon, usw.. Seit der digitalen Revolution werden immer mehr mentale Prozesse exteriorisiert: neuronale Netze in Rechenmaschinen, Denkvorgänge in Algorithmen, usw..

Der Mensch schafft mit den Maschinen und Medien künstliche Organe, mit denen er die Defizite der natürlichen Organe kompensiert: Von der Brille als Exo-Auge über das Hörgerät als Exo-Ohr bis zum Exo-Skelett, das Gelähmten hilft, sich zu bewegen, beobachten wir eine Vermehrung von Exo-Organen, Exteriorisierungen natürlicher Organe. Der Mensch schafft aber auch neue technische Organe bzw. Werkzeuge. Die Exteriorisierung geht so weit, dass sogar nach Leben außerhalb der Erde gesucht wird (Exobiologie, Exoplaneten). Schließlich soll das Leben selbst, z.B. die Fortpflanzung des Lebens, vom Menschen externalisiert und im Labor künstlich, technisch, hergestellt werden können (Exo-Schwangerschaft). Die Summe aller Werkzeuge, Maschinen und Medien bildet die Exo-Evolution – eine von Menschen gemachte und gesteuerte Exo-Evolution künstlicher Organe bzw. Werkzeuge, deren Konturen wir erst zu erahnen beginnen, weil ihre Zeitspanne gemessen an den Milliarden Jahren natürlicher Evolution nur ein Bruchteil ist.

Renaissance 2.0

Zu den klassischen Systemen der Welterklärung und -veränderung wie Religion, Politik, Philosophie, Kunst traten in der Neuzeit die Natur- und Technikwissenschaften hinzu. Die Wissenschaft kannte keine Inhibition, durch Experimentalsysteme und die noetische Wende von einer sprach- zu einer werkzeugbasierten Kultur das Spektrum ihrer Wahrnehmung von den Atomen bis zu den Molekülen zu erweitern und damit die Welt zu verändern. Die Kunst hat sich allzu lange auf die natürliche Wahrnehmung beschränkt. Während die Wissenschaft mit Hilfe von Apparaten in bisher unsichtbare Zonen vorgedrungen ist, blieb die Kunst an der Oberfläche des sichtbaren Spektrums.

Heute nähern sich Kunst und Wissenschaft durch gemeinsame neue Technologien einander an. Die Werkstätten der Künstler gleichen den Laboren der Naturwissenschaftler. Die Werkzeuge und Wissensformen von Wissenschaft und Kunst befinden sich von der visuellen Forschung der Op-Art bis zur Art-based Research in einem Dialog. Diese neue Verschränkung von Kunst und Wissenschaft erinnert an das 17. Jahrhundert, an das Siècle d’or, und an die Renaissance. Wir sprechen daher von einer um arabische und asiatische Quellen erweiterten Renaissance 2.0.

Die performative, mediale, digitale und handlungsorientierte Kunst der Gegenwart will von der Veränderung der Welt nicht ausgeschlossen bleiben, sondern will wie die Wissenschaft zu ihrer Erkenntnis und Konstruktion beitragen, und ersetzt daher Repräsentation durch Realität. Sie eröffnet neue Perspektiven und Optionen für die digitale Gesellschaft des 21. Jahrhunderts, für welche die Gleichung »Medien, Daten und Menschen« gilt. Die Museen, die Printmedien und der Kunstmarkt, wechselseitige Komplizen, verweigern diese Kunst dem Publikum, obwohl diese weltweit existiert. Deswegen wurde die GLOBALE ins Leben gerufen.

Kunst und digitale Revolution

Die Kunst reagierte im 20. Jahrhundert auf den Stress der massiven Reizüberflutung durch die Big Data Environments mit einem Reduktionsprogramm: Stille in der Musik, Monochromie in der Malerei. Im 21. Jahrhundert verabschieden sich die Künstler von der subjektiven Expression und verarbeiten auf wissenschaftlicher Basis das Rauschen der Daten und die Erzeugerprogramme der Algorithmen zu akustischen und visuellen Kunstwerken von überwältigender sublimer Ästhetik. Sie machen uns die Black Boxes der Infosphäre sichtbar, sie öffnen dort Türen, wo sie keiner sieht. Sie bauen die neuen Kathedralen des Klangs und des Lichts.

Die digitale Revolution verändert den Kunstbegriff, indem sie seine Komponenten freisetzt. Mit der Fotografie hat der Maler das Monopol des Bilderherstellens verloren, mit der digitalen Technik der Künstler sein Monopol auf Kreativität. Nicht nur ist jeder Mensch Künstler, sondern jeder Mensch wird durch die sozialen Medien zu Sender und Empfänger. Dadurch entstehen auch neue politische Aktionsformen, welche die Emanzipation des Individuums und die Partizipation der Bürger fördern. Sie warnen vor den negativen Effekten der Globalisierung und Digitalisierung wie z.B., dass der Freigelassene der Natur zum Gefangenen einer Sicherheits-Junta wird, denn die Gefahr der Verschmutzung gilt für die Info- wie für die Atmosphäre. Freiheit für die Infosphäre ist Gesetz und ein 11. biblisches Gebot ist notwendig: »Du sollst nicht begehren deines Nachbarn Daten.«

Deswegen beginnt die GLOBALE mit einem Tribunal: mit einem Prozess (F. Kafka, 1915) gegen die Verfehlungen des 20. Jahrhunderts und dessen Verbrechen gegen Mensch, Tier und Natur.

ZKM-Beilage in: KUNSTZEITUNG, hg. v. Lindinger + Schmid, Mai 2015, Nr. 255

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