Atlas oder Orakel?

Die elliptische Form steht exemplarisch für Warburgs dialektisches Denken: Zwischen Antike und Gegenwart, zwischen Ritus und Kultur, zwischen Mythos und Rationalität bewegt sich sein Denken wie die Ellipse zwischen ihren beiden Brennpunkten.
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Das Konzept des Archivs zwischen Warburg und Online-Datenbank. Aby Warburgs Bilderatlas »Mnemosyne« war lange vergessen, erfährt aber in jüngerer Zeit erneut mehr Beachtung.

VON DANIEL BECKER

Ist das Denken von Aby Warburg vielleicht auch als ein Vorläufer für künstlerische Positionen zu verstehen, die sich mit der digitalen Informationsflut auseinandersetzen? Eine Begegnung von Warburgs Atlas mit der Medienkunst von Monika Fleischmann und Wolfgang Strauß.

Der Titel von Warburgs Bilderatlas »Mnemosyne« ist kein Zierrat, sondern entspricht der Inschrift »ΜΝΗΜΟΣΥΝΗ« (Mnemosyne), die über dem Eingang zur historischen »K.B.W.«, der Kulturwissenschaftliche Bibliothek Warburg in Hamburg, geschrieben stand. Die BesucherInnen betraten die im Herbst 2016 gezeigte ZKM-Ausstellung »Aby Warburg. Mnemosyne Bilderatlas«  ebenfalls durch einen Türsturz mit der Inschrift »Mnemosyne«. Zurecht wird »Mnemosyne«, die personifizierte Erinnerung, daher als ein Leitbild des Warburg‘schen Denkens gesehen: Er selbst betont immer wieder die Rolle des Gedächtnisses. [1]

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Doch die Entsprechung von der Inschrift am Gebäudeeingang und dem Titel des Bilderatlas ist mehr als nur eine Insigne dieser Denkordnung, sie verweist auf die architektonischen und räumlichen Elemente des Bilderatlas: Die Zusammenstellung von unterschiedlichen Bildern aus unterschiedlichen Medien – von Skulpturen über Malerei, bis zu Zeichnungen und Briefmarken – schafft für Warburg sogenannte »Denkräume«.

Im Kosmos der Bilder – Die Anfänge des Bilderaltas

Auf dem berühmten Foto, das eine frühe Präsentation der Tafeln des Bilderatlas in der K.B.W. zeigt, verdoppeln sich diese »Denkräume«. Nicht nur die sechs nebeneinander angeordneten Tafeln eröffnen einen solchen Raum, sondern auch der ellipsoide Vortrags- und Lesesaal ist keineswegs rein zufällig gewählt, sondern Programm.

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© The Warburg Institute
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Die von Johannes Kepler 1605 entdeckte elliptische Form der Planetenumlaufbahnen wurde in der Renaissance als Symbol der Ungezwungenheit des Kosmos verstanden und steht exemplarisch für Warburgs dialektisches Denken: Zwischen Antike und Gegenwart, zwischen Ritus und Kultur, zwischen Mythos und Rationalität bewegt sich sein Denken wie die Ellipse zwischen ihren beiden Brennpunkten. Seine Denkräume entspringen der Spannung der beiden Pole. Diese kosmische Vorstellung findet sich auch auf den Tafeln A bis C des Bildatlas wieder.

Zugänglichkeit von Informationen

In einem ähnlichen »Denkraum« bewegt sich auch die Arbeit »netzspannung.org« der beiden KünstlerInnen Monika Fleischmann und Wolfgang Strauß. In dieser Arbeit (und in vielen weiteren) setzen sich Fleischmann und Strauss intensiv mit Archivierung und der Zugänglichkeit von Informationen auseinander.

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© Monika Fleischmann und Wolfgang Strauss
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»netzspannung.org« versteht sich als eine Art »Bildungsplattform« für Medienkunst, die versucht, zwischen KünstlerInnen und WissenschaftlerInnen, zwischen Werken und Lectures Netze der Erkenntnis zu spannen. In dieser Hinsicht ähnelt die Arbeit dem Bilderatlas, indem Verbindungen und Verlinkungen zu einem genealogischen Prozess der Wissensbildung führen. Dem User wird dabei eine entscheidende Position zugesprochen:  Er kann eigene neue Beziehungen knüpfen.

Von der Tafel zum Display

Warburg, der häufig als Medienwissenschaftler »avant la lettre« gesehen wird, stand jedoch dem, was heute die Massenmedien auszeichnet, geradezu skeptisch gegenüber: »Telegramm und Telephon zerstören den Kosmos. Das mythische und das symbolische Denken schaffen im Kampf um die vergeistigte Anknüpfung zwischen Mensch und Umwelt den Raum als Andachtsraum oder Denkraum, den die elektrische Augenblicksverknüpfung mordet.« [2]

In der vernetzenden Technologie sieht Warburg das Ende einer Kultur, die aus der Wechselwirkung von Gegensätzen »Denkräume« schafft. Man könnte ihm in Hinblick auf heutige Suchmaschinen oder Datenbanken rechtgeben, da die Daten hier zumeist nach Schlagworten, linearer Ordnung oder einfach Aktualität sortiert werden. Informationen werden nur mehr ad hoc konsumiert und nicht mehr reflektiert. Doch mit gerade dieser Problematik setzen sich Fleischmann und Strauß in den Arbeiten »Semantic Map« (2002-2004), »Digital Sparks Matrix« (2006) sowie »Medienfluss« (2006) (Browser-Version 2008) auseinander.

Alle Arbeiten widmen sich der visuellen Vermittlung der Online-Plattform »netzspannung.org«. Statt einer statischen Präsentation, die augenblicklich alle möglichen Daten verlinkt, geht es in diesen Arbeiten gerade nicht um das Finden (von bekannten Informationen), sondern um das Suchen und Stöbern nach neuen Zusammenhängen. [3] Hier erhält der Warburg‘sche Andachts- oder Denkraum durch das Datenbank-Interface seine digitale Aktualisierung, da der Prozess der Verknüpfung bzw. des Surfens durch den User in einer Art digitaler Kontemplation relevant wird.

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Insbesondere in der Arbeit »Medienfluss« findet sich auch eine visuelle Ähnlichkeit zu Warburg wieder. Statt einer Reihe von Bildertafeln, sind es hier zwei Informationsströme – Bilder und Worte – die über das (Ausstellungs-)Display wandern. Der User kann per Touchscreen einzelne Begriffe auswählen und davon ausgehend immer neue Verknüpfungen erstellen. Dabei kommt der (Informations-) Fluss »beinah zum Stillstand, das Anhalten des Datenstroms ist mit dem Innehalten des Performers verbunden und mit dem Vertiefen seiner Wahrnehmung.« [4]

Mit diesem räumlichen Zugang zu einer Datenbank, bei dem der »Augenblicksverknüpfung« die Zähflüssigkeit des Datenstroms entgegengesetzt wird, reihen sich Fleischmann und Strauss nicht nur in die Tradition von Warburgs »Mnemosyne« ein, sondern sie greifen die Konzeption der räumlichen Inszenierung enzyklopädischen Wissens auf: Ihre wohl berühmtesten Vorläufer hat diese Konzeption in dem »Gedächtnispalast« der antiken Rhetorik und in Giulio Camillos »Gedächtnistheater«.

Mnemosyne im Fluss der Zeit

Die sechs erwähnten Tafeln in der K.B.W. zeigen indes nur eine Vorstufe zu dem enzyklopädischen, als Buch geplanten Bilderatlas. Ebenso stellt sich die Frage, inwiefern der Zustand von 1929 einen allumfassenden Anspruch haben kann, denn obwohl es immer wieder Versuche gab ihn zu vervollständigen, bleibt er von Warburg unvollendet. Gerade weil die Bilder durch Stecknadeln immer nur temporär fixiert waren, ist der Bilderaltas – im Unterschied zur geplanten Publikation der dokumentarischen Fotografien – immer nur eine Momentaufnahme der zeitgenössischen Perspektive auf die Kunst.

Sollte man, Warburg folgend, seinen Bilderatlas daher nicht selbst als »Bildfahrzeug« begreifen das »Denkräume« eröffnet? Kann man »Mnemosyne« dementsprechend nicht nur als personifizierte Erinnerung, sondern als Quelle und nur im Gegensatz zu Lethe begreifen, wie sie Pausanias in Bezug auf das Orakel des Trophonios beschreibt – als ein Vergessen auf das Wissen folgt? Denn ebenso wie der Bilderaltas in seiner heutigen Form nur framentarisch ist, sind die Verlinkungen, die bei einer interaktiven Datenbank entstehen, immer wieder überschreibbar.

Jede Interaktion ist damit eine Entscheidung zwischen Wissensbildung und Wissenslöschung, indem neue Netze gespannt und alte Fäden zerstört werden.  »Medienfluss« wie auch »Mnemosyne« sind dementsprechend, ob beabsichtigt oder nicht, framentarisch und damit nur Quelle oder Ursprung einer Wissenssammlung; die eigentliche Herausbildung des Wissen entsteht durch Entscheidungen in der Interaktion, Rezeption oder (Re-)Konfiguration des Bestands durch den User im Laufe, oder besser, im Fluss der Zeit.

Die Arbeiten von Fleischmann und Strauss bereichern somit den Diskurs um Wissenssammlungen, denn hier geht es eben nicht – wie bei einer klassischen Archivrecherche, die mit Vorwissen verbunden ist – um das gezielte Suchen, sondern um das Stöbern und Finden. Diese Affirmation des mediengenuinen »Surfens« im Datenmeer einer Online-Datenbank schreibt sich in eine lange Geschichte von Konzepten über Memorieren, Archivieren und Datensammeln ein. Sie lässt zugleich aber auch zu, den Warburg‘schen Bilderatlas auf seine medialen Bedingungen hin zu befragen.

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[1] Aby Warburg, Mnemosyne Einleitung, in: Ders.: Werke in einem Band, hrsg. v. Martin Treml u.a., Berlin 2010, S. 629.

[2] Aby Warburg: Schlangenritual. Ein Reisebericht, Berlin 1992, S. 59.

[3] Wolfgang Strauss, Das digitale Archiv als Findemaschine: Kuratorische Strategien für das Archiv von netzspannung.org, online abrufbar.

[4] Monika Fleischmann/Wolfgang Strauss, Das digitale Archiv und seine Inszenierung: Suchen und Finden im vernetzten Wissensraum, in: Kai-Uwe Hemken, Kritische Szenografie: Die Kunstausstellung im 21. Jahrhundert, Bielefeld 2015, S. 301-314, hier: S. 310.

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Über den Autor

Daniel Becker ist Kunsthistoriker mit den Schwerpunkten Zeitgenössische Kunst und Digitale Ästhetik. Seit 2014 ist er Doktorand im Graduiertenkolleg IDK MIMESIS an der Ludwigs-Maximilians-Universität München.

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