Female Perspectives
Mehr Sichtbarkeit für weibliche Kunst
Als Videokunst Ende der 1960er- und Anfang der 1970er-Jahre ihren Ursprung findet, nehmen Frauen und Männer gleichermaßen die Rolle von Pionier:innen ein. Zahlreiche Künstlerinnen wandten sich in dieser Zeit bewusst den neuen, historisch unbelasteten Medien Fotografie, Film und Video zu und nutzten insbesondere auch Performances als künstlerisches Ausdrucksmittel. Gemeinsam mit ihren männlichen Kollegen besetzten Frauen damit eine Nische des Neuen.
Im Rückblick jedoch sind es überwiegend die männlichen Namen wie Nam June Paik, die für die Medienkunst stehen. Das ZKM | Karlsruhe zeigt nun vier Einzelausstellungen von herausragenden Medienkünstlerinnen und fasst diese für mehr kommunikative Sichtbarkeit unter dem Titel »Female Perspectives« zusammen. Die Idee, weiblichen Positionen mehr Raum zu verleihen, hat das ZKM | Karlsruhe nicht zuletzt im Frühjahr 2020 mit dem Digitalfestival »FEMINALE DER MUSIK«, die sich dem Werk internationaler Komponistinnen widmete, umgesetzt. Unter dem Titel »Femmes4Music« werden seit November und Dezember 2022 weitere vier herausragende Musikerinnen im Digitalfeature vorgestellt.
»Female Perspectives« lenkt die Aufmerksamkeit auf Künstlerinnen, die fast ausnahmslos zur ersten Generation der elektronischen Kunst zählen. Geboren in den 1940ern und 1950ern sind sie gemeinsam mit ihren männlichen Kollegen Pionierinnen in der Video- und Klangkunst. Möglich ist dies, weil die Medienkunst in den 1970ern noch so marginalisiert ist, dass sie bedenkenlos auch den Frauen überlassen werden kann. Während die Malerei und klassische Musik als die einzigen wahren Künste gelten und bis heute von patriarchalischen Strukturen geprägt sind, ist die Videoszene schon in den 1970er-Jahren kollaborativ ausgerichtet, ganz ohne Geschlechterkampf. Gemeinsam produzieren sie gewissermaßen „Outsider Art“ in einer Nische, in der auch Frauen sich künstlerisch betätigen können.
Bis heute sind die elektronischen Künste kein Terrain für eine gender-spezifische Hierarchisierung, vielleicht auch, weil ihre verschiedenen Formen noch immer nicht marktfähig sind. Auch ist das Klischee, dass die männliche Affinität zu den technischen Künsten größer sei, hier offensichtlich nicht zutreffend. Offenbar ist es für Frauen sogar manchmal leichter, sich neue mediale Möglichkeiten zu erschließen, als sich im männlich dominierten Diskurs der klassischen Künste zu verorten und durchzusetzen.
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Die Einzelausstellungen in der Übersicht
»Soun-Gui Kim: Lazy Clouds« 10. September 2022 – 5. Februar 2023 29. Oktober 2022 – 5. Februar 2023 »Analivia Cordeiro. From Body to Code« 28. Januar – 7. Mai 2023 3. Juni 2023 – 7. Januar 2024
Als die zeitgenössische Medienkunst zunächst in der Erfindung der modernen Videotechnologie ihre maßgebliche Ausdrucksweise fand, waren es im Kern drei Aspekte, die aus heutiger Sicht als spezifische künstlerische Herausforderungen verstanden werden können.
Die technischen Parameter: Die Mobilität der leicht zu handhabenden Videokamera und die mögliche Simultanität von Aufnahme und Sendung eröffneten ein neues Spektrum an erweiterter Bilderfahrung und visueller Kultur. Die Eroberung der Dimension Zeit: Die Möglichkeit, Kunst-Erfahrung in der zeitlichen Dimension zu erfassen und auch zu vermitteln, setzte nicht nur künstlerische Kreativität frei, sondern „erzwang“ auch ein anderes Rezeptionsverhalten, das die Reflektion von Zeiterfahrung nahelegte, wenn nicht einforderte. Das erweiterte Sendungsbewusstsein: Inspiriert vom breiten Wirkungsradius des Mediums Fernsehen wurde Videokunst von Anfang an auch als politisches Medium erfahren, genutzt und geschätzt, das eine andere Art von Fernsehen ermöglichen sollte. Dabei suchten die Künstlerinnen immer auch die Verbindung zu Performance und Konzeptkunst.
Wie autonom die Pionierinnen mit den neuen zeitbasierten Künsten arbeiten, zeigt sich in jeder der vier Einzelausstellungen der Künstlerinnen Soun-Gui Kim (*1946 in Buyeo, Korea), Marijke van Warmerdam (*1959 in Nieuwer-Amstel, Niederlande), Analivia Cordeiro (*1954 in Sao Paulo, Brasilien), Ulrike Rosenbach (*1943 in Bad Salzdetfurth bei Hildesheim). Geprägt durch ihre kulturellen Umfelder entwickelte jede Künstlerin ein eigenes Werk. Die Koreanerin Kim, die schon früh nach Frankreich ging und in den 1970ern in den USA arbeitete, versteht die Videotechnik als kosmisches Medium, als Medium der bewusstseinserweiternden Bilder. Ulrike Rosenbach, fast gleich alt wie Kim, ist hingegen mehr dem Feminismus, der politischen Agitation verpflichtet. Sie tritt als Kritikerin der Gesellschaft auf und ist in den 1980er-Jahren aufgrund ihres Feminismus vom Kunstmarkt verschwunden. Die etwa zehn Jahre jüngere Marijke van Warmerdam folgt der Wiederholung als Motiv. Sie sucht aus der Kritik gegenüber den Medienwissenschaften in ihrer Kunst nach der Differenz in der Wiederholung. Analivia Cordeiro prägt seit den frühen 1970er-Jahren als erste Videokünstlerin die gesamte Medienkunst Südamerikas. Auch ihr widmet das ZKM | Karlsruhe eine große Einzelausstellung.
»Femmes4Music«
Digitalfeature zu herausragenden Komponistinnen
Auch in der Musik sind Frauen bei Weitem noch nicht ausreichend sichtbar. Wie die Videokunst bietet in der Musik die elektronische Klangkunst, deren Grenze zu Performance und Konzeptkunst fließend ist, Künstlerinnen eine Nische. Mit »Femmes4Music« stellt das ZKM die Komponistinnen vor, die zwischen den 1940er und 1960ern geboren wurden und deren Werke international großes Renommee erfahren haben. Die Edition »Masters of Music« präsentiert ausschließlich Männer, auch wenn die vier Komponistinnen hier schon lange vertreten sein müssten. Selbstverständlich hat das ZKM | Karlsruhe sich vereinzelt schon immer wieder mit diesen Komponistinnen befasst.
Die Reihe »Femmes4Music« in der Übersicht
Hier online
Komponistinnen
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Meredith Monk (*1942 in New York City, USA)
Meredith Monk zählt zu den weltweit einflussreichsten und bedeutendsten Künstler:innen der Gegenwart. Sie gilt als Begründerin der sogenannten »extended vocal technique«, die sich durch wortlose Lautgesten wie Summen, Krächzen, Keuchen, Lachen, Stöhnen sowie Kehlkopflauten, die prähistorisch und gleichzeitig futuristisch anmuten, auszeichnet.
Monks Repertoire umfasst Solostücke für Stimme mit und ohne Begleitung, Instrumentalarbeiten, Ensemblearbeiten, Bühnenwerke, filmische Arbeiten und Performances. Ihre Arbeit beeinflusst beispielsweise Björk, weswegen sie sich auch als »ästhetische Mutter von Björk« sieht, die wiederum Monks Song »Gotham Lullaby« aus deren 1981er Soloalbum »Dolmen Music« in Zusammenarbeit mit dem Brodsky Ensemble interpretierte.
Monk ist Trägerin der »Nation Medal of Arts«, der höchsten Auszeichnung für künstlerische Leistungen der USA, die ihr 2014 von Barack Obama verliehen wurde. Neben unzähligen weiteren Auszeichnungen erhielt sie zehn Mal die Ehrendoktorwürde. Zu Ehren ihres 80. Geburtstags erschien Ende 2022 eine CD-Box, die alle ihre Vokalstücke beinhaltet.
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Kaija Saariaho (*1952 in Helsinki, Finnland)
Kaija Saariaho studierte unter anderem am IRCAM im Centre Pompidou in Paris und beschäftigt sich dort mit algorithmischer Komposition und elektronischer Klangsynthese sowie mit Akustik und Psychoakustik und der Arbeit mit Tonband und Live-Elektronik.
Ihr Gesamtwerk ist so umfassend wie vielseitig. Neben Orchesterwerken enthält es Kammermusikwerke, Solowerke für unterschiedliche Instrumente, elektroakustische Werke, Chorwerke und nicht zuletzt eine Anzahl an Opern. Ihre Kompositionsweise für Instrumente ist bestimmt von einer spezifischen Ästhetik, die sie aus der Konzeption ihrer Computermusikwerke gewinnt.
Saariaho komponierte unter anderem das Werk »Vent nocturne« (2006) für den Bratschisten Garth Knox. Zusammen mit dem Videokünstler Brian O'Reilly erstellte Garth Knox 2010 am ZKM eine audiovisuelle Version des Stücks, die gemeinsam mit anderen Kompositionen auf einer DVD (Spectral Strands, 2010, Wergo, Edition ZKM) veröffentlicht wurde.
2011 erhielt sie einen Grammy für ihre Oper »L’amour de loin« in der Kategorie Best Opera Recording. Saariahos Werk »Semafor«, ein Kompositionsauftrag der Carnegie Hall, feierte im April diesen Jahres Weltpremiere. Zu Ehren ihres 70. Geburtstages erstellen klassische Musiker:innen aus Finnland momentan eine historisch orientierte, von Saariahos Musik inspirierte Kollaborationsarbeit.
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Ellen Taaffe Zwilich (*1939 in Miami, Florida, USA)
Ellen Taaffe Zwilich setzt in mehrerlei Hinsicht prägende Akzente. Sie promovierte 1975 als erste Frau an der Juilliard School und erhielt 1983 als erste Frau den Pulitzer-Preis für Musik. Zudem ist sie die erste Komponistin, die 1995 eine Residenz an der Carnegie Hall zugesprochen bekommt und diese Position bis 1999 innehat.
Pierre Boulez, der 2011 mit dem ZKM Giga-Hertz-Hauptpreis für elektronische Musik ausgezeichnet wurde, führte ihr Werk »Symposium« mit dem Juilliard Symphony Orchestra 1975 auf und verhalf ihr somit zu internationaler Anerkennung.
Taaffe Zwilichs Repertoire beinhaltet Stücke für Kammerensembles, Vokalensembles, Chöre und Orchester, wobei ihr musikalisch-ästhetisches Werkzeug von zerklüfteten, atonalen Harmonien bis zu sanfteren Melodien mit einfacheren Strukturen reicht.
Das Gramophone Magazine listete sie im August 2022 in einem Artikel über die zehn Komponistinnen auf, die man unbedingt gehört haben muss. Im September 2022 erschien ihr »Cello Concerto« (2020), gespielt von Zuill Bailey und der Santa Rosa Symphony unter der Leitung des Musikdirektors Francesco Lecce-Chong, gemeinsam mit drei weiteren bekannten Werken bei Delos Records.
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Jennifer Higdon (*1962 in Brooklyn, New York, USA)
Jennifer Higdon genießt einen Ruf als technische Meisterin, deren Können beim Publikum große Wirkung hervorruft. Von der Washington Post wird sie als »versierte, sensible Komponistin mit einem scharfen Gehör, einem angeborenen Sinn für Form und einer großzügigen Prise reinem Esprit gepriesen«.
Ihr Werk deckt verschiedene Genres ab und reicht von orchestralen und kammermusikalischen Stücken über Bläserensembles bis hin zu vokalen, choralen Stücken und Opern. Ihre Werke sind rhythmisch anspruchsvoll. Immer wieder zeigen sich auch einzelne experimentelle, avantgardistische Akzente, die aber meist in traditionelle Strukturen und Klangwelten eingebunden sind.
Jennifer Higdon erhielt drei Grammys in der Kategorie Best Contemporary Classical Composition. Ende September 2022 feierte sie die Weltpremiere von »Cold Mountain Suite«, einem Kompositionsauftrag von New Music for America. Das Werk ist angelehnt an ihre Oper »Cold Mountain«. Hierfür wurde ein Konsortium aus mehr als 36 quer durch die USA verteilten Orchestern zusammengestellt. Die Delaware Symphony wird das Werk in Wilmington, Delaware uraufführen. Sie erhielt einen Kompositionsauftrag des American Brass Quintet und des Melbourne Conservatorium of Music für ein Blechbläserkonzert, das im Oktober 2022 uraufgeführt wurde.