Die Kunst – Vektor einer Wiederaneignung des öffentlichen Raums in Tunesien?

Die Rolle der Kunst beim Wiederaufbau der tunesischen Gesellschaft nach der Revolution – Aurélie Machghoul über die Annäherungsversuche der Gesellschaft an eine bislang fremde Disziplin.
© Foto: Ambre Ludwiczak
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Heute, da sich Tunesien infolge der Revolution vom 14. Januar 2011 im Wiederaufbau befindet, bedeutet das Reden über Kunst im öffentlichen Raum zugleich die Annäherung an eine aufkeimende Disziplin, die wie das Bild des Landes selbst im Entstehen begriffen ist. Das künstlerische Schaffen in Tunesien hat sich im Zuge der historisch bedeutsamen Ereignisse ein für alle Mal gewandelt. Der öffentliche Raum, der in enger Verbindung mit dem Bürger steht, avanciert zu einem bislang nicht bekannten Medium für die Künstler, die darin neue Ausdrucksmöglichkeiten erproben.

VON AURÉLIE MACHGHOUL

Seit Ende der 1970er-Jahre und bis zur Revolution wurde der öffentliche Raum in Tunesien von der Polizei kontrolliert. Eine rebellische Äußerung, wie sie eine subversive künstlerische Präsenz darstellt, war nicht vorstellbar. Das erklärt zumindest teilweise, warum sich trotz des für die volkstümlichen Straßenkünste (Wanderbühnen, Märchen etc.) fruchtbaren Bodens im öffentlichen Raum keine spezifische zeitgenössische Kunst entwickeln konnte. Bis auf wenige Ausnahmen wie etwa das Festival Dream City [1] übten die tunesischen Künstler ihre Kunst im Wesentlichen an den hierfür ausdrücklich vorgesehenen Orten – in Galerien oder an Theatern – aus.

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Nun jedoch beseitigt die Revolution in diesem Umfeld die vorher festgelegten Grenzen. Die Straße empfängt das befreite Wort der Bürger und der Künstler, die sich dort als solche ausdrücken. Seit den ersten Monaten des Jahres 2011 wohnt man also In-situ-Performances [2] bei. Diese neuen Ansätze überraschen, machen neugierig und begeistern, doch zugleich stoßen sie mitunter auch auf heftige Ablehnung der Passanten. Man stellt nun fest, dass auf diese Anfangsphase der Wiederaneignung des öffentlichen Raums durch den Bürger-Künstler eine heiklere Phase folgt, in der neue Formen der Zensur auftauchen – initiiert von Bürgern, die wenig für die neu gewonnene Ausdrucksfreiheit übrig haben. Künstler werden bedroht, manche sogar körperlich angegriffen. Die Stellung des Künstlers wird kontrovers diskutiert, und die tunesische Gesellschaft entdeckt die subversive Funktion der Kunst.

Auch aus dem künstlerischen Milieu selbst werden vermehrt Stimmen laut, die fordern, in einem Land, in dem es praktisch keine Kunsterziehung gibt, müsse die Öffentlichkeit auf das Feld der Kunst begleitet werden. Es gehe nicht darum, ausgesuchte Kunst für ein auf wenige Initiierte beschränktes Publikum zu machen, sondern darum, ein nicht-initiiertes Publikum dort abzuholen, wo es sich befinde. So treten seit 2012 neue künstlerische Akteure in Erscheinung. Diese, die nicht aus offiziellen Kreisen der Kunst hervorgegangen sind und die diese im Übrigen entschieden ablehnen, greifen ohne Genehmigung in den öffentlichen Raum ein, dessen Prinzip sie verwerfen.

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Sie haben das Bedürfnis, den Passanten zu überraschen, um ihm ein Erlebnis zu bieten.[3] Der Künstler ist ein Bürger unter anderen, er reaktiviert das soziale Band, das ihn mit seinen Mitbürgern verbindet und veranschaulicht so die Rolle, die er in der Gesellschaft spielen muss. In dieser Phase finden auch Aktionen im öffentlichen Raum außerhalb der Hauptstadt statt. Das Feld wird bestellt. Diese Schritte werden von Bürgervereinigungen durchgeführt, die einem partizipativen künstlerischen Ansatz folgen.[4]

Schließlich hat die Kunst im öffentlichen Raum beim Wiederaufbau der tunesischen Gesellschaft eine wichtige Rolle zu spielen. Allerdings muss der Künstler erst noch seinen Platz in der Gesellschaft finden und aktiv an der kollektiven Einsicht in die Veränderungen derselben teilhaben. Eine neue Identität entsteht, neue Realitäten zeichnen sich ab. Es ist nun an den Künstlern, sich dieser zu bemächtigen, um neue Möglichkeiten zu eröffnen und den öffentlichen Raum zu einem gemeinsamen Raum der Auseinandersetzung zu machen.

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Weitere Informationen unter: www.global-activism.de  

Über die Autorin

Aurélie Machghoul ist freiberufliche Journalistin und Chefredakteurin der Zeitschrift Z.A.T. – Zone Artistique Temporaire. Sie hat in Lyon Kunstgeschichte und Anthropologie studiert und dort im Verlagshaus Éditions du Moutard, am Institut Lyonnais, dem Ministerium für Kultur und Kommunikation und im Théâtre des Asphodèles gearbeitet. In Tunesien war sie von 2009 bis 2010 Chefredakteurin der Zeitschrift ID déco sowie im Anschluss der Zeitschrift Mille & 1 Tunisie, deren Website sie auch betreute.

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© Moufida Fedhila
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Anmerkungen

Übersetzung aus dem Französischen: Nikolaus G. Schneider 

[1] Dream City ist eine Ansammlung künstlerischer Wegstrecken der zeitgenössischen Kunst im öffentlichen Raum und wurde 2007 in Tunis von den Tänzerinnen und Choreografinnen Selma und Soane Ouissi ins Leben gerufen.

[2] Wir beziehen uns hier insbesondere auf Art for Tunisia von Selim Tlili, Art dans la rue-Art dans le quartier von Faten Rouissi, Horr 1 von Sonia Kallel und Sana Tamzini, St’art von Moufida Fedhila, Zoo Project, Sabrina in the Street von Patricia K. Triki usw.

[3] Es handelt sich um die Events und Performances Klem Chera3 (Parole de rue), organisiert von Amine Gharbi, Je danserai malgré tout von Art Solution, die Performances von Ahl el Kahf usw.

[4] Siehe die Aktion Laaroussa von l’Art Rue in Sejnane, Land’Art von der Vereinigung Hippocampe in Tozeur, De colline en colline mit Sidi Bou Saïd, Takrouna und Chenini.  

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