Ohne Titel (Editorial)

Radical Software, Vol. 1, Nr. 1 (1970)

Blick in die Ausstellung »Radical Software«.

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Scan des Einführungstextes zur Zeitschrift »Radical Software«, Vol. 1, Nr. 1.
Ohne Titel, »Radical Software«, Vol. 1, Nr. 1, 1970
© Raindance

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Als Problemlöser sind wir eine Nation von Hardware-Freaks. Einige von uns begeistern sich dafür, Eigentum zu beschlagnahmen bzw. es zu zerstören. Andere glauben daran, Eigentum um jeden Preis – inklusive des eigenen Lebens –  beschützen zu müssen oder zumindest daran, es vor spontanem Gebrauch zu bewahren. Währenddessen formen unsichtbare Systeme unser Leben.

Macht wird nicht länger nach Land, Arbeit und Kapital bemessen, sondern nach dem Zugang zu Informationen und den Mitteln, diese zu verbreiten. Solange sich die mächtigsten Werkzeuge (keine Waffen) in der Händen derjenigen befinden, die sie für sich behalten, kann keine alternative kulturelle Vision erfolgreich werden. Sofern wir keine alternativen Informationsstrukturen entwerfen und durchsetzen, die über die existierende Ordnung hinausweisen und diese umgestalten, werden andere alternative Systeme und Lebensweisen nichts weiter sein als Produkte des existierenden Prozesses.

Glücklicherweise legen neue Werkzeuge neue Verwendungszwecke nahe, insbesondere für diejenigen, die mit der Art und Weise des Gebrauchs der alten Werkzeuge unzufrieden sind. Wir sind keine computerisierte Version irgendeiner korrupten idealen Kultur des frühen 20. Jahrhunderts, sondern eine völlig neue Gesellschaft, da wir computerisiert sind. Fernsehen ist nicht bloß eine bessere Art und Weise, die alte Kultur zu übermitteln, sondern ein Baustein für die Grundlegung einer neuen Kultur.

Unsere Spezies wird weder durch die totale Zurückweisung von Technologie, noch durch deren bedingungslose Umarmung überleben – sondern durch ihre Humanisierung; indem man Menschen Zugang zu den Informationswerkzeugen gewährt, die sie brauchen, um ihr Leben zu gestalten und die Kontrolle über ihr Leben wiederzuerlangen. Es gibt keinen Grund für die Annahme, Technologie sei im Vergleich zu anderen Bereichen der natürlichen Selektion unverhältnismäßig schlecht oder gut. So war z. B. das Automobil als Spezies einst eine gute Sache. Allerdings hat es mittlerweile seine ökologische Nische verlassen und stört unser Gleichgewicht  bzw. unsere optimale Lebensweise. Nur indem wir Technologie als Ökologie behandeln,  können wir die Kluft zwischen uns und unseren [technischen] Erweiterungen überbrücken. Wir müssen gute Werkzeuge in gute Hände legen – anstatt sämtliche Werkzeuge abzulehnen, nur weil sie zum Wohle einiger Weniger missbraucht wurden.

Sogar Lebensweisen, die so vielschichtig sind wie das urbane politische Leben und die ländliche Gemeinschaft erfordern komplexe technologische Unterstützungssysteme, die neue Wirklichkeiten schaffen, die entweder als Teil des Problems oder, besser noch, als Teil der Lösung betrachtet werden müssen, die aber nicht ignoriert werden können.

In Amerika erwachsen zu werden, bedeutet durch Elektronik eine Prägung zu erfahren, die bereits viele Millionen von uns zu einem Prozess, dem globalen Bewusstsein, konditioniert hat. Wir wissen intuitiv, dass die gegenwärtigen Systeme unserer Kultur zu stark auf Zentralisierung und zu wenig auf Feedback [Rückkopplung] ausgelegt sind.

So sind z. B. die einzigen Elemente öffentlicher Technologie, die auf eine menschliche Entscheidungen reagieren, Türen mit Lichtschranke und Selbstbedienungsaufzüge. Muster des Straßengebrauchs und Gebäudeentwürfe strukturieren unsere Erfahrung voll und ganz, statt andersherum.  (Die Menschen gehören den Straßen). Nicht nur die Kontrolle der Massenkommunikationssysteme – mit Ausnahme des Telefon – ist zentralisiert. Darüber hinaus ist auch Entscheidungsfindung eher ein Vorgang der Institutionen als einer des Volkes.

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Zum Glück geht jedoch der Trend jeder Technologie dank kleinerer Größen und geringerer Kosten hin zu besseren Zugangsmöglichkeiten. Billige, einfach zu bedienende, tragbare Videosysteme mögen von Technikperfektionisten, die Sitcoms und Talkshows produzieren,  als "Polaroid-Amateurfilme" betrachtet werden, aber für jene unter uns, die so wenig vorgefassten Meinungen wie möglich haben,  sind sie die Saat eines reaktionsfähigen, nützlichen Kommunikationssystems.

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Videotape kann für das Fernsehen das bedeuten, was das Schreiben für die Sprache bedeutet. Das Fernsehen wiederum hat die geschriebene Sprache als das vorherrschende globale Kommunikationsmedium abgelöst. Schon bald werden erschwingliche Videotape-Recorder-Systeme und Videokassetten (noch bevor das Kabelfernsehen an den Start geht) alternative Netzwerke Wirklichkeit werden lassen.

Jene unter uns, die ihr eigenes Fernsehen produzieren wissen, dass das Medium mehr sein kann als nur "Radio mit einem Bildschirm". Genau so verwenden es jedoch nach wie vor die Fernsehsender: indem sie produktorientierte und überholte Vorstellungen von festen Themenschwerpunkten, Sichtweisen, Inhalten und Thematiken durchsetzen und dabei ihre eigene – und unsere – Passivität verstärken; indem sie uns das Feedback vom Feedback von Informationen liefern, anstatt die implizite Unmittelbarkeit von Video zur Geltung bringen; indem sie uns gegen die Auswirkungen von Informationen immunisieren, indem sie uns auffordern, das zu erwarten, was bereits erwartet werden kann – von den täglichen Vietnam-Berichten zum Abendessen bis hin zu einheitlichen Fortsetzungs-Showformaten. Wenn Informationen unsere Lebensumwelt sind, warum wird unsere Lebenswelt dann nicht als etwas betrachtet, das aus Informationen besteht?

Aus diesem Grund hatten einige von uns, die schon mit Videotape gearbeitet haben, vor sechs Monaten die Idee zu einer Informationsquelle, die Menschen zusammenbringt, die bereits ihr eigenes Fernsehen produzieren. Es ist ein Versuch, andere für die Idee des gesellschaftlichen Wandels und Austausches zu begeistern und ist als Anfang für ein zu entwickelndes Technologie-Handbuch gedacht.

Unser Arbeitstitel lautete »The Video Newsletter«. Die darin enthaltenen Informationen wurden vor allem von Leuten zusammengetragen, die auf den Fragebogen (siehe unten) geantwortet haben. Auch wenn manche der daraus entstehenden Inhalte unnötig hardwareorientiert oder sogar esoterisch erscheinen mögen, hatten wir dennoch das Gefühl, dass wir nicht länger warten können, mit dem Konzept eines praktischem Software-Designs verstanden als gesellschaftliches Werkzeug in den öffentlichen Raum vorzustoßen.

In den kommenden Ausgaben planen wir, weiterhin auch das Feedback von Lesern zu berücksichtigen, damit dies hier ein Prozess und nicht ein Publikationsprodukt wird. Wir hoffen insbesondere, dass wir das Interesse und die Bemühungen der zweiten und dritten Generation an den Universitäten – deren enorme Energie oftmals durch die traditionellen universitären Verfahren, Wissen zu strukturieren vergeudet wird – auf die Gründung eigener alternativer Informationszentren lenken können (wir selber gehören der ersten Fernsehgeneration an).

Um zur Verbreitung der Informationen in »Radical Software« zu ermutigen, haben wir unser eigenes Symbol, eine X in einem Kreis, entwickelt: (x). Dies ist ein Xerox-Zeichen [ein Kopierzeichen], also das Gegenteil von Copyright. Es bedeutet: KOPIERE alle Inhalte. (Die einzigen Inhalte mit Copyright in dieser Ausgabe sind Exzerpte von bereits veröffentlichten oder bald erscheinenden Büchern und Artikeln, die bereits urheberrechtlich geschützt sind).

Die hier aufgeführten Einzelpersonen und Gruppen engagieren sich für den Prozess der Erweiterung des Fernsehens. Wir hoffen, dass das, was hier abgedruckt ist, dabei helfen wird, den Austausch und die Vernetzung zu initiieren, die nötig ist, diesen Prozess voranzutreiben.

 

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Bitte ergänzen Sie folgende Informationen:

1. Persönliche Biografie (zur Veröffentlichung geeignet und für unsere eigenen Unterlagen; d.h. Informationen über den Lebenslauf, über vergangene Aktivitäten vor der Arbeit mit Video bzw. währenddessen, etc.)

2. Experimentieren mit Video

a) Warum verwenden Sie Video? Wie lange haben Sie es schon verwendet?

b) Welche Experimente haben Sie bereits unternommen, welche führen sie augenblicklich durch und welche planen Sie mit diesem Medium zu realisieren?

c) Welche Richtung schlagen Sie mit Video ein (sowohl was Hardware- als auch zu Software-Aspekte angeht)? An der Entwicklung von welchen von beiden sind Sie persönlich mehr interessiert? Was sind Ihre Gesamtkonzepte?

d) Was sind Ihre Vorhersagen hinsichtlich der Zukunft von Video und TV?

e) Wie arbeiten Sie (individuell, gemeinschaftlich oder beides)?

f) Welches Equipment verwenden Sie? Gehört es Ihnen? Planen Sie, es auch weiterhin zu nutzen oder haben Sie vor, auf ein anderes Equipment umzusteigen? Erläutern Sie bitte die Beschaffenheit und die Leistungsfähigkeit des Equipments, das Ihnen im Moment zu Verfügung steht.

g) Welches Equipment sollte Ihrer Meinung nach hergestellt werden?

h) Welche Informationen würden Sie gerne von anderen Menschen erhalten, die mit Videotape in diesem Land bzw. in anderen Ländern experimentieren? (Haben Sie irgendwelche Lösungen, Fragen oder Informationen hinsichtlich der Kompatibilität?)

i) Auf welche Weise kann Video Ihrer Meinung nach am besten öffentlich gezeigt werden?

j) Wie kann Video Ihrer Meinung nach am besten auf nichtkommerzielle Weise gewinnorientiert verwendet werden?

k) Welche Art von Informationen sollte dieser Newsletter Ihrer Meinung nach enthalten?

»Radical Software. The Alternate Television Movement«, Vol. 1, Nr. 1 (1970)

Redaktion: Beryl Korot, Phyllis Gershuny
Verleger: Michael Shamberg
Mitgründer:  Ira Schneider
Produktion: Phyllis Gershuny, Beryl Korot, Linda Nusser, Ira Schneider, Michael Shamberg