Auf der Suche nach einem schmutzigen Komplizen für ein nachhaltiges Zusammenleben
Ein Beitrag von Francesca Romana Audretsch
Es gibt eine Sache, die alle Menschen miteinander verbindet, egal in welcher Kultur sie sich bewegen: das Essen. Die Kultur des Essens bietet ein breites Spektrum wie wir unsere Nahrung zubereiten und konservieren. Auch die Nahrungsaufnahme selbst wird durch die Tischkultur mit Besteck, Geschirr und Dekorationen regelrecht inszeniert und so eine gemeinschaftliche Atmosphäre geschaffen.
Die Kultur steckt im Essen, und das Essen — zumindest temporär — in uns. Das Essen wird Teil des Menschen selbst, weil wir es im Körper aufnehmen, verarbeiten und verdauen. Zum Zyklus der Nahrungsaufnahme gehört auch die Ausscheidung unserer Exkremente. Es ist also nicht nur die Nahrungsaufnahme, die alle Wesen miteinander verbindet, sondern auch die Ausscheidung unverdaulicher Speisereste. Zeitgenössische Vorstellungen von Hygiene und Sauberkeit bestimmen unser Leben — ob zuhause, auf der Arbeit oder auf Reisen. Der tägliche Gang auf die Toilette ist ein Erzeugnis, welches der Mensch ungefiltert in den irdischen Zyklus abgibt. Mit einem ›Flush!‹ ist das Tabuthema der Gesellschaft entsorgt. Dass Hände mit warmem Wasser gewaschen und gegebenenfalls desinfiziert werden müssen, wird auch von der Architektur unserer Wohnräume seit dem 20. Jahrhunderts abgebildet. Pionier im XIX. Jahrhundert war Louis Pasteur.¹ Ein französischer Chemiker, Biologe, Mediziner und Bakteriologe. Er erfand zusammen mit anderen Wissenschaftlern seiner Zeit, das was wir heute unter Hygiene verstehen. Unsere Ausscheidungen verschwinden aber nicht so schnell, wie das Betätigen der Toilettenspülung es uns scheinbar demonstriert, sondern sie bleiben in mehreren organischen Schichten der Erde erhalten: in uns selbst und dem uns umgebenden Lebensraum, der »Critical Zone«. Einmal aus dem eigenen Haushalt gespült, landen die Ausscheidungen in den Kanalisationen und werden so mit dem Abwasser zu kommunalen Klärwerken transportiert.
Was aber passiert genau in den kommunalen Kläranlagen?
1.200 km lange Kanalrohre führen zur Karlsruher Kläranlage im Stadtteil Ettlingen. Pro Sekunde kommen 5.800 Liter Abwasser durch U-Bahntunnel große Rohrleitungen im Klärwerk an. Das Abwasser ist eine aus 99 Prozent Wasser bestehende toxische Brühe. Sie enthält nicht nur Toilettenpapier und Kosmetiktücher, sondern auch Medikamentenrückstände, Mikroplastik, Schwermetalle und Bodensedimente. Bei Starkregen kann auch Fremdwasser von Baustellen mitgeführt werden. Was genau im Abwasser landet und wann dies geschieht, ist von verschiedenen Faktoren abhängig: Tages- und Jahreszeit und der damit verbundenen Schneeschmelze oder dem Platzregen sowie den Dürreperioden. Kulturereignisse wie »Das Fest«, die »KAMUNA« oder Messen sind Großveranstaltungen, die man im Abwasser nachweisen kann. Ist das Abwasser im Klärwerk angekommen, durchläuft es mehrere Reinigungsstufen und Filtrationen. Der daraus resultierende Klärschlamm besteht aus 27 Prozent Trockensubstanz und 73 Prozent Wasser. Klärschlamm ist ein Mikrokosmos, der von und für Menschen angelegt wurde. Seine Hauptaufgabe ist es, die menschliche Verschmutzung zu ›reinigen‹. Er bildet daher eine wichtige Verbindung zwischen Mensch, Technologie und Natur. Klärschlamm hat es sogar bis in die Sphären künstlerischer Positionen geschafft, wie Yvonne Volkart in ihrem Aufsatz »Kunst und Ökologie im Zeitalter der Technosphere« beschreibt: »Anlässlich der Manifesta 11 in Zürich zum Thema Arbeit platzierte der US-amerikanische Künstler Mike Bouchet 80 Tonnen Klärschlamm im White Cube des Migros Museums. ›The Zurich Load‹, so der Titel dieser Arbeit, ist jene Ladung an Fäkalien, die die Einwohnerinnen und Einwohner der Stadt Zürich jeden Tag produzieren und die Kanalisation hinunterspülen. (…) Ausgestellt war allerdings nicht, wie zu erwarten gewesen wäre, eine weiche, formlose Masse, sondern sauber gestapelte, im Stil der Minimal Art zu einem Rechteck gereihte und geordnete Würfel.«²
Stefan Knebel ist Betriebsleiter der Klärschlammverbrennung des Karlsruher Klärwerkes. Er ist nicht nur stolz auf seine rund 70 MitarbeiterInnen, die einen vergleichsweise kleinen Betrieb für das große Einzugsgebiet des Abwassers bilden, sondern auch auf seine nichtmenschlichen Akteure, auf die Kleinstlebewesen, die in verschiedenen Reinigungsstufen große Arbeitsprozesse leisten. Kläranlagen sind hochtechnische Einrichtungen, die aber nichts anderes ausführen, als den natürlichen Prozess der ›Selbstreinigungskraft des Wassers‹ zu beschleunigen und zu verdichten. Wieso ist Klärschlamm systemrelevant? Wie so viele Systeme wird auch das Abwassersystem so lange nicht hinterfragt, wie es funktioniert. Dieses System ist für die Wirtschaft wichtig, denn es birgt einen Rohstoff, den das Bundesministerium für Umwelt seit Mai 2014 als »kritischen Rohstoff« eingestuft hat: Phosphor. Durch unsere Nahrung nehmen wir Phosphate auf. Es ist eine oxidierte Version von Phosphor, dem größten Mineral in unserem Körper und ein lebensnotwendiger Nährstoff für alle Lebewesen. Phosphor ist das Element des Lebens – nichts gedeiht oder lebt ohne dieses Mineral, nichts kann ohne es sein und werden. Die oxidierte Form von Phosphor, auch Phosphat genannt, ist in unseren Knochen, unserer DNA und unseren Zellmembranen fest verankert. Diese verbundenen Elemente halten unseren Energiehaushalt zusammen, generieren und regulieren unseren Körper.
Die Industrie setzt industriell fabrizierte Phosphate als Wasserbindemittel in Fleischwaren, als Treibmittel in Backwaren, als Geschmacksverstärker in Softdrinks oder als Wasserenthärter in Wasch- und Geschirrspülmittel ein. Eine aktuell relevante Verwendung von Phosphaten ist eng an die CO²-emissionsfreie Elektromobilität verknüpft. Beispielsweise wird Phosphat in Batterien für Elektroautos eingesetzt. Je mehr Menschen sich nun vom Erdöl abwenden und sich ein Elektroauto kaufen und je mehr Phosphor für die Produktion dieser Gefährte verwendet wird, desto früher geht uns dieser wichtige Rohstoff aus. Wir sollten den Gedanken verinnerlichen, dass Tiere und Menschen Phosphor ausscheiden und es unsere Klärwerke sind, die dessen Rückgewinnung möglich machen. Deutschland und Frankreich verfügen über keine natürlichen Phosphatquellen. Neben dem beschriebenen Klärwerkprozess ist Phosphor nur in Ländern abbaubar, die überhaupt über solche Gesteinsmienen verfügen. Somit ist die Lebensmittelindustrie beider Länder abhängig vom Phosphatimport aus Afrika, denn China und die USA benötigen ihren Vorrat für die eigene Produktion. Ein weiteres Indiz also, wie der Mensch im Anthropozän, diesem menschengemachten Zeitalter, zum Raubbau an der Natur – und noch dazu in Territorien anderer Staaten, oftmals denen der sogenannten Dritten Welt – und damit zur Beraubung der eigenen Lebensgrundlage beiträgt. Phosphor ist lebensnotwendig, aber auch irdisch begrenzt verfügbar. Uns muss klar werden, dass wir in der Zukunft unserer Vergangenheit leben. Wie wollen wir also unsere Zukunft gestalten? Wir sind als endliche Lebewesen mit dem Faktor Erdzeit konfrontiert und wir durchleben und nehmen viele unterschiedliche Prozesse gleichzeitig wahr, auch wenn wir sie nur begrenzt verstehen. So sind wir zwar von Licht-, Radio- oder Wifi-Strahlen umgeben, aber diese Prozesse spielen sich auf einer (mit dem geläufigen Verständnis von Wahrnehmung) nur schwer greifbaren Ebene ab. Ludwig Klage richtete 1913 auf dem Hohen Meißner in seiner Rede »Mensch und Erde« einen Appell zur Ökologie des Denkens an die Freie Deutsche Jugend. Man könnte es das erste ökologische Manifest nennen, denn es geht hier um einen Gemeinschaft bildenden Akt, um einen Aufruf, der nach Donna Haraways öko-feministischen Thesen eine Öko-Logik der Fürsorge fordert. Wir müssen für uns einstehen und für alles Leben auf dieser Erde, nicht nur für das Menschliche, sondern ebenso für das Planetarische.
Was macht den Klärschlamm also zu einem notwendigen Akteur dieses Zusammenlebens?
Klärschlamm ermöglicht die Überbrückung von gewohnten Dualismen, von räumlichen und zeitlichen Grenzen: er ist lebendig und tot zugleich, organisch und technisch, aktiv und passiv. Er ist unordentlich und grenzübergreifend. Er wird von sehr unterschiedlichen Lebewesen bevölkert. Er riecht unangenehm und wir Menschen ekeln uns vor seiner tief braunen, schlammigen Beschaffenheit. Der Klärschlamm ist ein Komplize beim Versuch, auf die doch so lebensnotwendigen Kollaborationen mit nicht-menschlichen Lebensformen aufmerksam zu machen. Im Klärschlamm ist nicht klar, wie die Handlungsmacht auf menschliche und nichtmenschliche AkteurInnen verteilt ist. Eine Gegenposition zur männlichen Abwehr und Ausmerzung des Nichtmenschlichen, wie in der Tradition des Hygienikers Pasteur, nimmt Donna Haraway ein. Sie postuliert: die Menschen sollten eine nicht-überhebliche Zusammenarbeit mit all denjenigen praktizieren, die in demselben irdischen Schlamassel stecken. Denn Zusammenarbeit und Leben bedeuten für Haraway, sich zu verstricken, zu verzahnen und zu vernetzen. In ihren Untersuchungen bildet sie Schnittstellen zwischen feministischer und politischer Erkenntnistheorie und den Lebenswissenschaften, und versucht das menschliche Bewusstsein für eine »non arrogant collaboration with all those in the muddle«³ zu weiten. Der Mensch soll spielerisch die Grenzlinien des Alltags neu denken und die Verantwortung für Wissenschafts- und Technologieverhältnisse übernehmen. Auch andere AkteurInnen und Gruppen, wie etwa die seit zwanzig Jahren aktive spanische feministische Initiative »Precarias a la Deriva«, betonen nicht nur wie wichtig es ist, Körper an sich als Akteure zu verstehen. Sie haben auch die Ökologie der Fürsorge auf den Punkt gebracht: »Die Verneinung der Fürsorge ist nicht weit entfernt von der Abwertung der Umwelt, von einer Gesellschaft, die die Umwelt zerstört, von einer Negation der Körper«⁴.
Die Ökologie der Fürsorge ist damit ein Appell an die Gesellschaft, für die Rechte des Nichtmenschlichen einzutreten. Wir müssen für alles einstehen, mit dem wir in Verbindung stehen. Unser Netzwerk aus nichtmenschlichen und menschlichen AkteurInnen ist eng verflochten. Der Klärschlamm-Prozess ist ein Phänomen für das Denken in Zyklen und ein mögliches Mittel um diesen Zustand zu erreichen. Es besteht damit gegenwärtig eine äußerste Dringlichkeit, die Knotenpunkte dieser Verflechtungen aufzusuchen und zu verstehen. Zu diesen Knotenpunkten gehören das menschliche Mikrobiom genauso wie etwa maritime und terrestrische Habitate unterschiedlichster Art. Sie alle garantieren das Überleben des Lebens. »Critical Zones« steht nicht nur für unseren Lebensraum oder unsere Erdkruste aus geographischer und kartografischer Betrachtungsweise, sondern auch für die »Contact Zones«. Welche »Contact Zones« lassen wir für ein besseres Zusammenleben zu? Wen schließen wir ein? Oder anders gesagt: welche Anforderungen stellen wir an unser Leben und die Bewohnbarkeit unserer Lebensräume?
Mit besonderem Dank an Dr. Yvonne Volkart und Nis Petersen.
Ein Beitrag von Francesca Romana Audretsch.
¹ The Pasteurization of France, Bruno Latour, Harvard University Press
² Kunst, Wissenschaft, Natur Zur Ästhetik und Epistemologie der künstlerisch-wissenschaftlichen Naturbeobachtung, Yvonne Volkart, S.169
³ Anthropocene or Capitalocene?: Nature, History, and the Crisis of Capitalism, Donna Haraway, S. 60
⁴ Ökologien der Sorge, Precarias a la Deriva, Transversal, S.42