Istanbul Crescendo
Fr, 25.06.2004 20:00 Uhr CEST, Konzert

Ein Karussel, dessen Radius vom asiatischen bis zum europäischen Ufer des Bosporus reicht. Ein rasender Wirbel in Zeitlupe; Klangschichten, die teilweise aus dem Schlamm des von Orhan Pamuk geschilderten Bosporusgrunds aufzusteigen scheinen, dieses für Istanbul so charakteristische Dauersummen und -Dröhnen... als würden die Stimmen aller Jahrhunderte gleichzeitig und unaufhörlich durcheinanderreden, Tag und Nacht, bis in alle Ewigkeit.
Maschinenklänge, eine ganze Istanbul-Maschinerie.
Jeder einzelne Wortfetzen, jedes Autohupen, Weckerklingeln, jedes Kindergeschrei ist ein Rädchen, das dieses gigantische Uhrwerk in Bewegung hält, bis eines Tages das große Beben das größte, letzte Crescendo bringt und einen ungeheuren Schlussakkord setzt, auf den in Wirklichkeit doch alles nur hinfieberte, seit Jahrhunderten. Danach die Stille, eine Generalpause mit einer Fermate.
Doch weil es Menschen immer dorthin zieht, wo die Spannung am unerträglichsten ist, werden sich aus der Stille einzelne Stimmen erheben, dann immer mehr und mehr, und werden das ganze riesige Gewebe von Neuem beginnen, bis sich über der Stadt eine neue Kuppel wölbt, aus den alten Klängen.

Das gesamte Medientheater wird zur Bühne für Klänge aus dem Zentrum Istanbuls, für eine live gemischte Surround-Soundinszenierung. Hinzu kommen Videosequenzen: Bilder, die während einer Bootsfahrt über das Goldene Horn/ den Bosporus im Stadtzentrum von Istanbul entstanden. Die Unterwasserkamera filmt dabei direkt an der Wasseroberfläche. Hinter den Wellen tauchen mitunter schwankende Häuserzeilen, Stadtpanoramen auf, die im nächsten Moment verschwimmen oder verschwinden, wenn das Wasser die Kamera ganz überspült. Auch die Videosequenzen werden live bearbeitet.

Audio-, Video- und Textebene bauen sich jeweils aus unterschiedlich langen Sequenzen auf. Sie erscheinen gleichzeitig, werden jedoch nicht synchronisiert, sodass immer neue Zuordnungen, immer neue Kombinationen möglich sind und vielfältige Deutungs- und Bedeutungsfelder entstehen. Gerade die Widersprüchlichkeit der Informationen – auf der Textebene der ausgetrocknete Bosporus, die an eine Flut erinnernden Bilder und die lebendige Stadtszenerie der Klänge – schafft Raum für ständig wechselnde Assoziationen.

Istanbul – bezeichnet dieser Name die Gebäude, die Menschen, die Luft, das Wasser, den Dunstnebel? Lässt sich die Stadt beschreiben, indem ich all diese einzelnen Elemente beschreibe? Die Eindrücke lassen sich nicht addieren und nicht multiplizieren. Selbst wenn ich es mir zur Lebensaufgabe machen würde, alle einzelnen Gesichter zu beschreiben, wäre das Ergebnis keine Beschreibung Istanbuls. Und würde ein Fotograf jedes einzelne Gebäude ablichten, könnte keiner, der die Fotos betrachtet, Istanbul sehen.
Die Hölle sei die gleichzeitige Anwesenheit aller Dinge, heißt es.
Ist Istanbul also die Hölle? Oder nur einer ihrer Vorhöfe?
Sollte sie ein Vorhof der Hölle sein, so plätschert in diesem Hof ein Brunnen.
Alles gleichzeitig und an einem Ort, das ist Istanbul.
Ein freier Fall.

Ein mehrkanaliges Istanbul City-Soundscape
Komposition und Realisation, Live Mix: Werner Cee
Produktion: Hessischer Rundfunk 2002
Mit Gabriele Engelhardt: Live-Videomix - Schwimmen über den Bosporus, gefilmt von Onur Eroglu
Textauszüge aus »Das schwarze Buch« von Orhan Pamuk: »Wenn der Bosporus austrocknet«

Organisation / Institution
ZKM

Begleitprogramm