Reset Brasília: ein tropischer cartesianischer Traum

Nie ganz modern, nie vollständig industrialisiert: Es scheint, als ob das Projekt der Moderne in Brasilien (wohl oder übel) nur teilweise und ungleichmäßig im Land umgesetzt und als ob dabei jeweils immer ein bestimmtes Feld erkundet wurde.
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Beim Betreten der Ausstellung setzt der wunderschöne Film »after« von Pauline Juliern die dem Besucher gebotenen Verfahren in Szene, die ehrgeizige Ziele verfolgen, wie der Name »Reset Modernity!« anklingen lässt.

VON ANDRE MINTZ

Vor dem Hintergrund der Postmoderne wird die Geschichte einer wilden Teenieparty mit Folgen erzählt – keine Eltern, keine Aufsicht – der Zuschauer wird vom verklärten Anblick explodierender Feuerwerkskörper zu einem Hausbrand, nachdem alles in Schutt und Asche liegt, geführt. Die Ablösung von Traditionen – Abschied von den Eltern – kann beunruhigende Folgen haben. Dieser Gedanke drängt sich uns, als Zuschauer, auf, da diese Allegorie uns – die Modernen – unmittelbar erschüttert, da wir selbst, als einer der vielen Sprösslinge unserer eigenen kleinen Party einer Klimakatastrophe ins Auge sehen.

Es mag etwas weit hergeholt sein, wenn ich sage »wir – die Modernen«, da ich aus Brasilien komme, was eine solche Aussage etwas komplizierter macht. Dies gilt sogar, wenn – wie es bei mir der Fall ist – man zu dem kleinen Teil des Landes gehört, der eher die folgenden Herkunftsmerkmale aufweist: weiß, männlich, Nachkomme europäischer Immigranten, Mittelklasse bis gehobene Mittelklasse. In Europa dauert es jedoch nicht lange, bis man feststellt, dass ich alles andere als europäisch bin.

Die Moderne ist ein westeuropäisches Projekt

Man kann es sich natürlich selbst eingestehen. Sollte dies jedoch nicht so sein, so wird man immer wieder von Beamten der Einwanderungsbehörde weniger freundlich daran erinnert und, wenn man weniger Glück hat, von denjenigen, die sich (erneut!) vom Aufkommen des Nationalstolzes auf dem »alten Kontinent«, wenn natürlich auch nicht so stark, mitreißen lassen. Der Rundgang durch die von Latour und seinem Team in der Ausstellung »Reset Modernity« gebotenen Verfahren, die ihre minutiöse Untersuchung der Moderne selbst widerspiegeln, scheint auch eine Erinnerung an diesen Unterschied zu sein: Die Moderne ist ein westeuropäisches Projekt. Obwohl ich sie alle nachvollziehen konnte – Brasilien war schließlich eine europäische Kolonie – hatte ich unweigerlich den Eindruck, dass es um verschiedene Modernen geht. 

Es stimmt, dass die modernistischen Annahmen, von denen die Ausstellung sich zu lösen versucht, auch in Brasilien nur allzu präsent sind: das Streben nach Globalisierung, eine gewisse Loslösung von der Natur, die Voraussetzung einer weltlichen Politik etc. Und die jüngste Vergangenheit hat uns auch vor Augen geführt, dass nichts davon je wahr gewesen ist so wie wir vielleicht dachten. Dennoch, und hierin besteht ein großer Unterschied zu Europa, könnte man sagen, dass das Modernisierungsprojekt in Brasilien nie als bereits im Gange betrachtet wurde, sondern immer als das Versprechen einer zukünftigen Schwelle – ein Versprechen, das die Politik für mehr als ein Jahrhundert angetrieben hat und das in den meisten Fällen mit furchtbaren Folgen.

»Brasil, país do futuro« (»Brasilien, Land der Zukunft«) – das nationale Motto inspiriert von Stefan Zweig – ist heute ein verklingendes Symbol unserer jüngsten Vergangenheit. Nie ganz modern, nie vollständig industrialisiert: Es scheint, als ob das Projekt der Moderne in Brasilien (wohl oder übel) nur teilweise und ungleichmäßig im Land umgesetzt und als ob dabei jeweils immer ein bestimmtes Feld erkundet wurde – die üblichen Verdächtigen: Öl, Asphalt, Beton, Automobilindustrie, Agrobusiness, Neoliberalismus und so weiter.

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Unterdes „halten sich“ extramoderne Traditionen und Gemeinschaften mit den Worten von Viveiros de Castro, „beharrlich“ [1] auf dem südamerikanischen Kontinent – ein Widerstand, der von Teilen der akademischen Welt zaghaft als übriggebliebene alternative Lebensweisen, die durch die (vergangene und heutige) Kolonialisierung systematisch und die »moderne« Wissenschaft ausgelöscht wurden, anerkannt wird. Dennoch können, trotz der allzu gezwungenen und unangemessenen Modernisierungsversuche, nicht mal die Städte Brasiliens so einfach als »modern« bezeichnet werden. Anscheinend kann Oleg Kharkhordin's [2] Aussage über Russland auch auf unseren Kontext übertragen werden kann: Brasilien „ist niemals modern gewesen, aber auf eine andere Art als zum Beispiel Frankreich“ – oder Russland könnte man hinzufügen. Obwohl Brasilien sicherlich von der Moderne „infiziert“ ist, kann die brasilianische Version nicht als einfache Transposition ihrer europäischen »Matrix« gelten. Man kann jedoch sagen, dass, trotz der Unterschiede und Unvollständigkeit, ein »Zurücksetzen« auch wünschenswert wäre.

»Zurücksetzungsverfahren«

So unvollkommen Brasiliens Modernisierung auch sein mag – noch nicht modern, wie Kharkhordin im Falle Russlands andeutet – wäre es vielleicht trotz alledem aber auch nicht einfacher, sie zurückzusetzen, da in den Bereichen, in denen die Moderne »zugeschlagen« hat, die Folgen so stark sind, dass es tiefgreifende Auswirkungen auf die geteilte Ansicht der Brasilianer, darüber wie die wünschenswerte Zukunft des Landes aussieht, hat. Als Reaktion auf das politische und ökologische Chaos, das in den vergangenen Jahren im Land herrschte, ging ein Witz herum, der die einzige Lösung darin sieht, dass alle Brasilianer das Land verlassen und das Gebiet den einheimischen Gemeinschaften, die vorher da waren, begleitet von einer aufrichtigen Entschuldigung zurückgeben. Es ist wohl zu spät für so eine »Entkolonialisierung« und das ist natürlich auch nicht so einfach. Und da eine andere Moderne vorherrscht, wären auch andere »Zurücksetzungsverfahren« erforderlich.

Derartige lokale Verfahren ernsthaft zu skizzieren, wäre eine gewaltige Aufgabe. Ich möchte den Schritt wagen, einen alternativen Epilog als Gedankenspiel, das spezifischer in diesen Kontext passt, vorzuschlagen. Daher würde ich Pauline Juliers Film ersetzen und vielleicht auf »Ex It« (2010), einen frei von dem experimentellen Prosaband »Catatau« (1975) von dem brasilianischen Dichter Paulo Leminski inspirierten Film des brasilianischen Filmemachers Cao Guimarães, ausweichen. Dem Beispiel Leminskis folgend unterliegt er einer hypothetischen Prämisse: Was wäre wenn René Descartes mit Johann Moritz von Nassau-Siegen, dem Anführer der Invasion der Niederländer im Nordosten Brasiliens (der danach eine portugiesische Kolonie war) im 17. Jahrhundert nach Brasilien gekommen wäre.

Dem Zuschauer wird eine Geschichte vor dem Hintergrund brasilianischer Landschaft präsentiert, in der der französische Philosoph auf einen Freund wartet, der niemals kommt. Auf einem Besuch in den Tropen mit anderen von Nassau eingeladenen Philosophen, Wissenschaftlern und Künstlern, sieht er seine Logik und sein Denken durch die Hitze, die atemberaubende Umgebung und – so scheint es – psychotrope Drogen herabgemindert. Während er in seinem chaotischen Geplapper abschweift über Erinnerungen zu einer tiefen Verwunderung umgeben von Bäumen und Tieren, löst sich Descartes scheinbar auf und verschmilzt mit dem Wald und verliert dabei die letzte ihm noch bleibende Vernunft und selbstsüchtige Identität, die er noch aufrechterhalten konnte.

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 In Anlehnung an Leminskis joyce-inspirierte Erzählung erstreckt sich Caos Film über das koloniale zum gegenwärtigen Brasilien und führt Descartes vom Amazonas in Städte wie Recife – wo Nassaus Kompanie damals stationiert war – oder die Hauptstadt Brasília, dem Inbegriff des brasilianischen Modernisierungsprojekts. Die im Jahre 1960 eingeweihte Stadt ist eine »geplante« Stadt, die künstlich im Herzen von Brasilien »implantiert« wurde, als ob sie von ausländischen Invasoren erbaut worden wäre, geplant als Entwurf der Zukunft des Landes – und vielleicht war das auch tatsächlich so: mit der Form eines Flugzeugs, vom Himmel aus ausgesehen, entzieht sie sich tatsächlich jeglicher menschlicher Dimension. Eine trockene immense Wüste aus Beton und Asphalt, unbegehbar, unbewohnbar, unüberwindlich – außer von Autos.

In Caos Film taucht Brasília als ein Bild in Descartes' Halluzinationen auf, mit weißen geometrischen Figuren, die in den Himmel ragen, als ob der Zuschauer in einen verstörenden, tropischen cartesianischen Traum entführt wird. „Diese Welt ist ein Ort des Wahns. Vernünftiges Denken ist hier Phantasieren. Tiger wissen, dass sie sich nie irren. Rauchen, bis alles rot wird. Ich will Fieber. Wenn Brasília nicht zu Cartesius kommt, dann geht Cartesius nach Brasília“. Aus Ordnung wird Wahnsinn. Vielleicht ist dies der beste Ort um die brasilianische Moderne »zurückzusetzen« – von innen. Das wäre der ideale Rahmen, um das Problem in Szene zu setzen und dem Besucher die Frage, wie die lokale Moderne umorientiert werden kann, näherzubringen und mögliche Zukunftsszenarien neu zu entwerfen: Brasília zurücksetzen.

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Über den Autor

Andre Mintz ist ein brasilianischer Forscher, Künstler und Kurator in Medienkunst und -wissenschaften.

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