Vom White Cube zum Black Block

Der Wandel der Kunst von der Abstraktheit zum Aktivismus.
© Dietrich Heißenbüttel
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VON DIETRICH HEIßENBÜTTEL

In der westlichen Welt hatte sich nach 1945 – entgegen der politischen Inanspruchnahme im Dritten Reich und im Osten – ein Konsens herausgebildet: Moderne Kunst war abstrakt. Sie beschränkte sich – um es polemisch zuzuspitzen – auf die Verteilung von Farbe auf Leinwände und die formale Gestaltung selbstgenügsamer Objekte, die im neutralen Galerieraum vorgestellt wurden: dem White Cube. Diese einseitige Ausrichtung verdankte sich, wie sich später herausstellte, nicht nur dem Engagement moderner Künstler wie Willi Baumeister, der die Moderne gegen den Kunsthistoriker Hans Sedlmayr oder den Künstler Karl Hofer verteidigte, sondern auch Organisationen wie dem Congress of Cultural Freedom, finanziert und gelenkt von der CIA. Dass moderne Kunst als fortschrittlich galt, lag aber auch an der erbitterten Gegenwehr konservativer Kreise.

Dieselben Werke, die einmal utopische Erwartungen weckten, finden sich heute als Wanddekor und Wertobjekt in Bankfilialen und privaten Eigenheimen. Als die kommunistische Welt 1989 zusammenbrach, verschwand das Gegenmodell, von dem sich die westliche Kunst abgrenzen wollte. Künstler aus anderen Teilen der Welt verlangten Zugang zu einem Kunstsystem, dessen Voraussetzungen sie nicht immer teilten. Mit dem vermeintlichen Ende der Geschichte entstand auch ein politisches Vakuum. Wesentliche Problembereiche finden in der von bestimmten Interessen dominierten Medienlandschaft keine angemessene Darstellung. In den Funktionssystemen der Politik, der Wirtschaft, der Wissenschaft und des Rechts, die nach Niklas Luhmann getrennten Eigenlogiken folgen, finden übergreifende Belange keine Berücksichtigung.

Diesen fatalen Tendenzen lässt sich nur auf zwei Gebieten begegnen: dem der Zivilgesellschaft und dem der Kunst, jedenfalls soweit diese aus dem White Cube heraustritt und in gesellschaftliche Prozesse eingreift. Kunst und Aktivismus gehen in diesem Fall nahtlos ineinander über. Kunst zielt darauf ab, Dinge sichtbar zu machen, Bildwelten zu hinterfragen und neue zu entwerfen. Künstlerische Aktivitäten können Bürgerinitiativen und NGOs stützen oder eigenständig operieren: mit Performances im öffentlichen Raum oder in verschiedenen Medien wie Video, Fotografie, Comics, Blogs oder Street Art. Bilder aus anderen Regionen der Welt ergänzen die eigenen Erlebnisse vor Ort, die als Realitätserfahrung durch nichts zu ersetzen sind.

Im Verlauf der Proteste gegen den Umbau des Stuttgarter Hauptbahnhofs („Stuttgart 21“) stellte die Künstlergruppe SOUP (Stuttgarter Observatorium urbaner Phänomene) im Mittleren Schlossgarten, in unmittelbarer Nähe des Bahnhofs, einen Container auf. Angeschlossen an ein älteres Kunstwerk, Thomas Lenks Stuttgarter Tor, funktionierte er zunächst als Camera Obscura, die nach rund zwanzigminütiger Gewöhnung der Augen an die Dunkelheit das kopfstehende Bild des Bahnhofsturms aufscheinen ließ. Doch schon bald wurde der Container, über die metaphorischen Implikationen hinaus, nun unter der Bezeichnung Unser Pavillon zu einem Dreh- und Angelpunkt der Bürgerbewegung. Die ursprüngliche Dunkelheit der Black Box, das Noch-nicht-Wissen, wie es weitergehen soll, war dafür eine konstitutive Voraussetzung.

Diesen Prozess hat das Künstlerduo bankleer unabhängig davon ebenfalls in einer Arbeit thematisiert. Anspielend auf Kasimir Malewitschs Schwarzes Quadrat nahmen mehrere Akteure, verborgen in einem Kubus aus schwarzem Stoff, am 1. Mai 2008 an einer Demonstration in Aarhus teil. Aus dem Inneren ertönten Chöre und Blechbläser, die Träger waren nicht zu sehen: Der „Black Block“ spielt mit der bedrohlichen Dimension des für die Machthabenden unkontrollierbaren Protests: ein Bild der Eigendynamik der auf die Zukunft hin offenen Bürgerbewegungen. 

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© blankleer
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Von der Grünen Revolution im Iran über die stillen Proteste in Weißrussland, den Arabischen Frühling in Tunesien, Ägypten, im Senegal und anderen Ländern, Occupy Wall Street in New York, die Bewegung der Indignados in Spanien, die Proteste in Griechenland gegen Sparmaßnahmen bis hin zu jüngsten Aufständen in der Türkei und Brasilien hat der weltweite Protest gegen autoritäre Regime und Austeritätsmaßnahmen Schritt für Schritt eine neue Dynamik gewonnen. Eine Patentlösung, wie sie Karl Marx mit der Formel „Diktatur des Proletariats“ gefunden zu haben glaubte, kann heute niemand bieten. Umso mehr sind angesichts der globalen ökonomischen und ökologischen Verwerfungen alle kreativen Kräfte gefragt. Die Probleme unterscheiden sich von Land zu Land, von Region zu Region, doch es gibt auch vieles, was sie verbindet. Dieser Blog will eine weitere Black Box sein, ein Raum, in dem unvorhersehbare Dinge entstehen. Zu verschiedenen Themen wie dem öffentlichen Raum und den großen, zentralen Plätzen, der Rolle der Kunst und ihrer Institutionen oder der Funktion der Medien möchten wir Künstlern, Protagonisten und Beobachtern der Bewegungen in verschiedenen Regionen der Welt eine Plattform des Dialogs bieten, in der Hoffnung, die Diskussionen voranzutreiben.

Weitere Informationen unter: www.global-activism.de

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Über den Autor

Dietrich Heißenbüttel studierte Kunstgeschichte und Literaturwissenschaft (italienische, englische, französische und frankofone Literatur). Er promovierte mit einer Arbeit über mittelalterliche Wandmalerei in Süditalien. Seit 1996 gestaltet er Programme zu Jazz und improvisierter Musik im Freien Radio für Stuttgart (FRS). Darüber hinaus ist er für verschiedene Tageszeitungen und Fachmagazine tätig (springerin – Hefte für Gegenwartskunst, Neue Zeitschrift für Musik, KONTEXT Wochenzeitung etc.). Seine thematischen Schwerpunkte sind Globalisierung, Gegenwartskunst, Neue Musik, Architektur und Verkehrspolitik. Dietrich Heißenbüttel war Stipendiat der Bibliotheca Hertziana in Rom und der Akademie Schloss Solitude in Stuttgart sowie 2005/2006 Moderator des interkulturellen Komponisten-Workshops Global Interplay im Rahmen des ISCM World New Music Festivals. Seit 2008 hat er Lehraufträge am Institut für Kunstgeschichte der Universität Stuttgart inne. Im Jahr 2010 wirkte er als Kurator an der Ausstellung Friedensschauplätze / Theater of Peace der neuen Gesellschaft für bildende Kunst (nGbK) Berlin mit. Herr Heißenbüttel lieferte bereits zahlreiche Beiträge zum Thema Kunst und Konflikt für verschiedene Publikationen. Darüber hinaus engagiert er sich für den Erhalt des Instituts für Kunstgeschichte der Universität Stuttgart und des Stuttgarter Hauptbahnhofs.  

Ausgewählte Publikationen

  • Dietrich Heißenbüttel, Ungleiche Voraussetzungen. Zur Globalisierung der Künste, herausgegeben von Julia Warmers, Merz & Solitude, Stuttgart, 2008.
  • Dietrich Heißenbüttel (Hg), Kunst in Stuttgart. Epochen, Persönlichkeiten, Tendenzen, Hampp, Stuttgart, 2013.
  • nGbK (Hg.), Friedensschauplätze. Frieden und Sichtbarkeit in der asymmetrischen Welt, Ausstell.-Kat., Friedensschauplätze / Theater of Peace, nGbK, Argobooks, Berlin, 2010 (Redaktion und Koautor).
  • Kimberly Bradley, Karin Käsböck, Christoph Leitner, Nataša Ilić, Dietrich Heißenbüttel, Stefan Kaegi, Daniela Stöppel, bankleer: finger in the pie, Sternberg Press, Berlin, 2012 (Redaktion und Katalogtexte).
  • Simone Tippach-Schneider und Manfred Schweiker (Hg.), Diva & Heldin. Frauenbilder in Ost und West, Palmedia, Berlin, 2012 (Koautor).
  • Identitäten. Einige Überlegungen zum Werk von Fareed Armaly (Beitrag zu einem Künstlerbuch, in Vorbereitung).

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