Einführung in die Ausstellung
Bodenlos – Vilém Flusser und die Künste
© Fred Forest
»Ins Universum der technischen Bilder«, »Lob der Oberflächlichkeit« oder »Für eine Philosophie der Fotografie« – mit solch programmatischen Titeln avancierte Vilém Flusser (1920–1991) zu einem der einflussreichsten Denker der Kommunikation und der Medien in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts. Im positiven Sinne nahm er die Herausforderung an, die Künste noch einmal neu zu denken im Angesicht der Tatsache, dass unsere Existenz wesentlich technisch geworden ist. Die Methoden der Naturwissenschaft mit einer neuen Auffassung von Kultur zu verkoppeln war das Anliegen seiner besonderen Anthropologie. Auf seiner ganz eigenen Himmelsleiter der Zivilisation unterschied er operational fünf Stufen:
• die vieldimensionale Lebenswirklichkeit, die wir mit dem Tier teilen (der Anfang);
• die dreidimensionale Realität des Erfassens und Behandelns (Hände und Werkzeuge);
• die zweidimensionale Wirklichkeit des Bildes (Vor-Stellung);
• die eindimensionale Linearität des Textes und der Kritik (Geschichtsbewusstsein);
• die Nulldimensionalität der Zahlen und Algorithmen (Nachgeschichte).
Die letzte Stufe in diesem Abstraktionsspiel war für Flusser aber nicht nur mit schrecklicher Leere verbunden – wie für die zeitgenössischen Reiter medienphilosophischer Apokalypsen. Er begriff sie als Durchgang hin zu einer möglichen neuen Lebensqualität mit zwei paradigmatischen Dimensionen:
• der Dialog und eine durch ihn mögliche Nähe zum anderen als utopisches Potenzial einer telematisch vernetzten Sozialität von ExpertInnen;
• eine neue Einbildungskraft, die »Technoimagination«, mit der sich die einzelnen Subjekte als freie, entwerfende und entworfene Projekte verwirklichen können.
• die vieldimensionale Lebenswirklichkeit, die wir mit dem Tier teilen (der Anfang);
• die dreidimensionale Realität des Erfassens und Behandelns (Hände und Werkzeuge);
• die zweidimensionale Wirklichkeit des Bildes (Vor-Stellung);
• die eindimensionale Linearität des Textes und der Kritik (Geschichtsbewusstsein);
• die Nulldimensionalität der Zahlen und Algorithmen (Nachgeschichte).
Die letzte Stufe in diesem Abstraktionsspiel war für Flusser aber nicht nur mit schrecklicher Leere verbunden – wie für die zeitgenössischen Reiter medienphilosophischer Apokalypsen. Er begriff sie als Durchgang hin zu einer möglichen neuen Lebensqualität mit zwei paradigmatischen Dimensionen:
• der Dialog und eine durch ihn mögliche Nähe zum anderen als utopisches Potenzial einer telematisch vernetzten Sozialität von ExpertInnen;
• eine neue Einbildungskraft, die »Technoimagination«, mit der sich die einzelnen Subjekte als freie, entwerfende und entworfene Projekte verwirklichen können.
„Synthetische Bilder sind eine Antwort auf Auschwitz“, behauptete Flusser energisch in einem Interview kurz vor seinem Tod. Nur im Durchgang durch die radikale Abstraktion sei eine neue Konkretisierung und damit neues, spannendes Leben vorstellbar. Damit beginne die Nachgeschichte.
Flussers Denken und Schreiben war ein permanentes Experiment des (Über-)Lebens auf der Flucht, in der erzwungenen Migration, der intellektuellen Diaspora. Mit der Familie seiner späteren Frau Edith (1920–2014) floh der 19-jährige Prager vor den Nazis über England nach Brasilien, wo er dreißig Jahre lang lebte, vor allem in der multikulturellen Megapolis São Paulo. Während der brasilianischen Militärdiktatur kehrte er nach Europa zurück, lebte in Provinzen Italiens, der Schweiz und zum Schluss zehn Jahre lang in einem kleinen Ort in Südfrankreich. Vor allem lebte er in akademischen Foren und Arenen, auf Bühnen, die für den leidenschaftlichen Redner eingerichtet wurden, sowie in Texten, die er in der Regel auf mobilen mechanischen Schreibmaschinen heruntertippte, mit Durchschlägen für sein eigenes Archiv und das der Nachwelt.
»Scribere necesse est, vivere non est« – Schreiben ist notwendig, das Leben nicht. In der Bodenlosigkeit seiner Existenz akzeptiert Flusser nur zwei Welten als mögliche Heimat:
• das imaginäre und Grenzen überschreitende Reich der Künste;
• das symbolische Experimentierfeld des Schreibens und des Textes.
Sprache war für Flusser Code, der keine Mutterschaft kennt. Operativ am wichtigsten war für ihn jenes antiquierte und mit harten Konsonanten gesprochene merkwürdige Hochdeutsch, das er in der jüdischen Gesellschaft von Prag lernte und das seine charismatischen Auftritte stark prägte. Mit diesem Code als Orientierung changierte er zwischen dem brasilianischen Portugiesisch, dem Französischen und Englischen als dem Esperanto der telematischen Kommunikation – wie ein Spieler. Seine Beiträge zur Figur des »homo ludens« waren vor allem Einladungen zum Spiel mit Wörtern und Konzepten, mit künstlichen Universen.
Flussers Denken und Schreiben war ein permanentes Experiment des (Über-)Lebens auf der Flucht, in der erzwungenen Migration, der intellektuellen Diaspora. Mit der Familie seiner späteren Frau Edith (1920–2014) floh der 19-jährige Prager vor den Nazis über England nach Brasilien, wo er dreißig Jahre lang lebte, vor allem in der multikulturellen Megapolis São Paulo. Während der brasilianischen Militärdiktatur kehrte er nach Europa zurück, lebte in Provinzen Italiens, der Schweiz und zum Schluss zehn Jahre lang in einem kleinen Ort in Südfrankreich. Vor allem lebte er in akademischen Foren und Arenen, auf Bühnen, die für den leidenschaftlichen Redner eingerichtet wurden, sowie in Texten, die er in der Regel auf mobilen mechanischen Schreibmaschinen heruntertippte, mit Durchschlägen für sein eigenes Archiv und das der Nachwelt.
»Scribere necesse est, vivere non est« – Schreiben ist notwendig, das Leben nicht. In der Bodenlosigkeit seiner Existenz akzeptiert Flusser nur zwei Welten als mögliche Heimat:
• das imaginäre und Grenzen überschreitende Reich der Künste;
• das symbolische Experimentierfeld des Schreibens und des Textes.
Sprache war für Flusser Code, der keine Mutterschaft kennt. Operativ am wichtigsten war für ihn jenes antiquierte und mit harten Konsonanten gesprochene merkwürdige Hochdeutsch, das er in der jüdischen Gesellschaft von Prag lernte und das seine charismatischen Auftritte stark prägte. Mit diesem Code als Orientierung changierte er zwischen dem brasilianischen Portugiesisch, dem Französischen und Englischen als dem Esperanto der telematischen Kommunikation – wie ein Spieler. Seine Beiträge zur Figur des »homo ludens« waren vor allem Einladungen zum Spiel mit Wörtern und Konzepten, mit künstlichen Universen.
Auf Wanderschaft, deplatziert, jenseits von Disziplinen und unzeitgemäß in einem doppelten Sinne: In der Art eines minimalen Parcours lädt die Ausstellung dazu ein, die Bewegung der flüchtigen Existenz Vilém Flussers als ein Modell für jene Gewalt des Zusammenhangs vorzustellen, die wir das 20. Jahrhundert nennen: Der unwirklich gewordenen Vergangenheit begegnete er mit einer verstärkten Antizipation dessen, was den Beginn des 21. Jahrhunderts ausmacht – vermittels der Künste und seines Schreibens.
Das christliche Mittelalter baute darauf, dass der Mensch in Gott unsterblich würde. Das moderne Zeitalter vertraute darauf, dass sich der Mensch in den Gegenständen seiner Arbeit verewigen würde. Heute könnten wir im Grunde nur nach einem Streben: im Gedenken der anderen und durch die anderen unsterblich zu werden: »to become immortal in the others«. Man könnte auf eine Zukunft hoffen, in der ein Leben nur dann erfülltes Leben bedeutet, wenn es zusammen mit anderen gestaltet wird. So beendet Vilém Flusser sinngemäß das Manuskript für seinen Vortrag, den er Ende der 1980er-Jahre auf Englisch niederschrieb.
Die Vorstellung, sich im unendlichen Dialog, in einem weltweiten telematischen Parlament verständigen, orientieren, bilden und intellektuell vergnügen zu können, steht zu Beginn des 21. Jahrhunderts mit dem Rücken zur Wand und schaut politischen Technomonstern wie den globalen Überwachungsbehörden oder übermächtigen Steuerungs- und Verteilungsmonopolisten für Dienstleistungen und Waren in jenes schreckliche Angesicht, das das Neue zuweilen anzunehmen pflegt. Und immer klarer wird: Kommunikation stiftet nicht nur Zusammenhang und Geneinschaftlichkeit, sie lebt von Trennungen, von Abwesenheiten, und sie kann technisch und ideologisch in verheerende Zerstörungen kanalisiert werden.
Das operationale Denken Vilém Flussers ermöglicht es uns, Handlungsmöglichkeiten für die Zukünfte offen zu halten. Nahezu alles, was in der europäischen Medientheorie initiativ gedacht worden ist, wurde weder in der Sesshaftigkeit noch in der strikten Disziplin entwickelt, sondern in Fluchtbewegungen erdacht, zwischen Sankt Petersburg und Paris, zwischen Prag, Berlin oder Berkeley oder La Jolla, London oder den beiden Cambridges, zwischen Warschau, Algier und Casablanca.
Das christliche Mittelalter baute darauf, dass der Mensch in Gott unsterblich würde. Das moderne Zeitalter vertraute darauf, dass sich der Mensch in den Gegenständen seiner Arbeit verewigen würde. Heute könnten wir im Grunde nur nach einem Streben: im Gedenken der anderen und durch die anderen unsterblich zu werden: »to become immortal in the others«. Man könnte auf eine Zukunft hoffen, in der ein Leben nur dann erfülltes Leben bedeutet, wenn es zusammen mit anderen gestaltet wird. So beendet Vilém Flusser sinngemäß das Manuskript für seinen Vortrag, den er Ende der 1980er-Jahre auf Englisch niederschrieb.
Die Vorstellung, sich im unendlichen Dialog, in einem weltweiten telematischen Parlament verständigen, orientieren, bilden und intellektuell vergnügen zu können, steht zu Beginn des 21. Jahrhunderts mit dem Rücken zur Wand und schaut politischen Technomonstern wie den globalen Überwachungsbehörden oder übermächtigen Steuerungs- und Verteilungsmonopolisten für Dienstleistungen und Waren in jenes schreckliche Angesicht, das das Neue zuweilen anzunehmen pflegt. Und immer klarer wird: Kommunikation stiftet nicht nur Zusammenhang und Geneinschaftlichkeit, sie lebt von Trennungen, von Abwesenheiten, und sie kann technisch und ideologisch in verheerende Zerstörungen kanalisiert werden.
Das operationale Denken Vilém Flussers ermöglicht es uns, Handlungsmöglichkeiten für die Zukünfte offen zu halten. Nahezu alles, was in der europäischen Medientheorie initiativ gedacht worden ist, wurde weder in der Sesshaftigkeit noch in der strikten Disziplin entwickelt, sondern in Fluchtbewegungen erdacht, zwischen Sankt Petersburg und Paris, zwischen Prag, Berlin oder Berkeley oder La Jolla, London oder den beiden Cambridges, zwischen Warschau, Algier und Casablanca.
»Bodenlos« ist eine Ausstellung, die Flussers Denken und seine Beziehungen zu den Künsten in den Mittelpunkt stellt. Ausstellung und begleitende Publikationen sind aber auch als Hommage an all diejenigen Intellektuellen konzipiert, die das 20. Jahrhundert ausgelegt hat, verstrickt worden sind, und die im Exil und erzwungene Wanderschaft existieren lernen mussten. Durch ihre besondere Erfahrungen haben sie uns enorm geholfen, die Gefüge besser zu verstehen, in denen wir heute leben, aber auch das Gefüge der variantenreichen Kommunikationen mit und durch die Medien.
Wir danken allen KünstlerInnen und AutorInnen, die großzügig Arbeiten für die Ausstellung zur Verfügung gestellt haben. Als Begleitmedium erschien »Flusseriana – ein intellektueller Werkzeugkasten«, herausgegeben von Siegfried Zielinski und Peter Weibel mit Daniel Irrgang (Univocal Publishing, Minneapolis, MN, 2015).
Die Kuratoren
Wir danken allen KünstlerInnen und AutorInnen, die großzügig Arbeiten für die Ausstellung zur Verfügung gestellt haben. Als Begleitmedium erschien »Flusseriana – ein intellektueller Werkzeugkasten«, herausgegeben von Siegfried Zielinski und Peter Weibel mit Daniel Irrgang (Univocal Publishing, Minneapolis, MN, 2015).
Die Kuratoren