»De la Nuit« wurde 1999 für das Berliner Festival Kryptonale komponiert und in ausgedienten, unter die Erde gelegten Wassertanks am Prenzlauer Berg in Berlin uraufgeführt. Grundlage für die Klangkonzeption und für die formale Gestaltung des Stückes ist die Akustik der Tanks. In diesem Fall war der Raum unter der Erde also eine Art Inspiration für den Geist des Werkes.
Die in diesem Stück verwendeten Quellen für die Signalmanipulation haben scheinbar nichts miteinander zu tun: ein Sample eines folkloristischen bulgarischen Instrumentalstückes, ein kurzes Sample eines Songs der Band Massive Attack sowie einige Metallklänge, die mit der Physical-Modelling-Software »GENESIS« (ACROE, Grenoble) erzeugt wurden.
Während das Sample von Massive Attack kaum wiederzuerkennen ist, wurde die bulgarische Folklore mit Transpositionen kontrapunktiert. Der seltsamste Moment des Stücks entsteht an dessen Ende, wenn die Folklore rückwärts und gemeinsam mit einigen metallischen Gongklängen ertönt. Dabei wurden nicht nur die Klänge in dem physikalischen Modell erzeugt, sondern auch die Rhythmik, Phrasierung und Lautstärke. Dies geschieht durch ein sehr langsam schwingendes Objekt, dem Schlägel, der die Musikalische Gestalt vollständig aus Pendelbewegungen entstehen lässt.
Ein kompositorisches Objekt als Quelle für ein neues Werk zu nutzen ist eine spezielle Situation. Bei der Entstehung eines aus Samples bestehenden Stückes gibt es zwei sehr spannende Momente, die über den Geist der entstehenden Komposition entscheiden. Das erste Moment ist die Arbeit mit dem Sample selbst. Wird es komplett zerstört oder widersetzt es sich allen Modifikationsversuchen? Gelingt es mit Hilfe des Samples eine neue Struktur zu entwickeln oder bleibt es weiterhin ein vereinzeltes Ereignis?
Ein Klavierereignis zum Beispiel kann mit verschiedenen Methoden verändert werden: es kann gedehnt, verkürzt, umgekehrt und im spektralen Bereich modifiziert werden und bleibt trotzdem ein Ereignis; es kann mehrfach in verschiedenen Tonhöhen, räumlichen Lagen, Hallanteilen verwendet werden oder man kombiniert all diese Methoden miteinander, um eine komplexe Struktur zu schaffen, die sich vom bisherigen Ereignis unterscheidet.
Das zweite Moment entsteht bei der Kombination mehrerer Strukturen, die alle einen anderen Charakter haben. Aus diesen Patches entwickelt sich eine neue musikalische Geschichte oder eine gänzlich verschiedene Zeitlinie. Zusätzlich müssen sowohl psychoakustische als auch ästhetische Aspekte berücksichtigt werden. Ein Klang oder eine Struktur können eine andere überdecken, wenn diese in einem ähnlichen Frequenzbereich liegt. Zwei Abläufe können miteinander verschmelzen, wenn sie eine ähnliche Geschwindigkeit, Tonhöhen und Klangsubstanz haben. Diese Probleme müssen mit Signalverarbeitungstechniken wie Transposition, Stretching oder Looping gelöst werden.
Der Prozess, die unterschiedlichen Strukturen miteinander zu kombinieren, geht über einen klassischen Mix hinaus, bei dem nur Modifikationen an Amplitude und Dauer vorgenommen werden. Hierbei werden viele Möglichkeiten ausprobiert und wieder verworfen. Klänge werden dabei zumeist in Form von Transpositionen weiterverarbeitet und in den unterschiedlichsten Kombinationen ausprobiert. In der daraus resultierenden Komposition kommen letztendlich lediglich 10% der erzeugten Strukturen zum Tragen. Die restlichen 90% waren nötig um genau die richtige Kombination von Elementen zu ermöglichen.
Anstatt es einen Mix zu nennen, würde ich dies als eine Kombination aus Interpretation (Reaktion auf den Inhalt der Strukturen) und kompositorischer Idee (der Struktur etwas entgegensetzen) betrachten. In der fertigen Komposition können Hörer:innen beurteilen, ob sich die einzelnen Elemente zu einem sinnvollen Ganzen zusammenfügen.
Sie können feststellen, dass ein musikalisches Narrativ durch das Stück entwickelt wird, dass die Klänge in der Lage sind, Spannung und unterschiedliche Energieniveaus zu erzeugen, dass ein Crescendo mehr als eine Steigerung der Dynamik ist, oder dass das Werk mehr ist als die Klänge, aus denen es gemacht ist.
»De la Nuit« wurde mit den Programmen »Snd«, »Common Lisp Music« (William Schottstaedt, CCRMA, Stanford), »GENESIS« (ACROE, Grenoble) und »Common Music« (Heinrich Taube, Illinois) erstellt und auf SGI-Computern im ZKM | Zentrum für Kunst und Medien Karlsruhe aufgeführt.